179
5.2.3 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 und das
deutsche Bosnien-Engagement
Obwohl sich die NATO mit ihrem Ultimatum gegenüber den bosnischen Serben
zunächst durchgesetzt hatte, steuerte sie in der Zeit zwischen Februar und September
1994 weiterhin auf ein umfassenderes militärisches Engagement in Bosnien zu. Am
28. Februar schossen amerikanische F-16 Kampfjets unter NATO-Kommando vier
serbische Militärflugzeuge ab, die zuvor die Flugverbotszone verletzt hatten.648 Damit führte das Bündnis zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Kampfeinsatz
durch. Gleichzeitig intensivierte sich vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Streits auch in der Bundesrepublik die innenpolitische Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Deutsche Soldaten
beteiligten sich indirekt an dem Einsatz der amerikanischen NATO-Flugzeuge am
28. Februar. Angehörige der Bundesluftwaffe waren an Bord der AWACS-
Maschinen, die als fliegende Feuerleitstellen für diesen Einsatz dienten.649
Im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu deutschen Auslandseinsätzen hatten sowohl Außenminister Kinkel als auch Verteidigungsminister
Rühe mit jeweils etwas unterschiedlichen Akzenten die Notwendigkeit der Bereitschaft Deutschlands zur Beteiligung am militärischen Krisenmanagement hervorgehoben. Kinkel betonte am 19. April vor dem Bundesverfassungsgericht, dass Frieden, Stabilität sowie die eigene Sicherheit zunehmend von der Krisenbewältigung
out-of-area abhingen. „[S]chwere Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbruch
können in Ausnahmefällen nur durch militärische Gewalt verhindert oder beseitigt
werden“, so Kinkel.650 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ermögliche die
Beteiligung deutscher Soldaten am multilateralen Krisenmanagement und bedeute
eine Absage an einen deutschen Sonderweg und unterstreiche die Bündnis- und
Partnerschaftsfähigkeit der Bundesrepublik. Damit würden Bestrebungen einer Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik ein Riegel vorgeschoben. Mit
Blick auf die zu dieser Zeit in vollem Gang befindliche Debatte um eine Reform des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verband der deutsche Außenminister die
Bereitschaft Deutschlands zur Beteiligung am militärischen Krisenmanagement mit
den sich daraus ergebenden Einflussmöglichkeiten in New York: „Mehr Mitverantwortung verlangt auch mehr Mitsprache. Deshalb wollen wir dort präsent sein, wo
heute die wichtigsten Entscheidungen über den Weltfrieden fallen.“ 651
648 Vgl. Leurdijk, The United Nations and NATO in Former Yugoslavia, S.31.
649 Diese Beteiligung war bereits durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993
gedeckt.
650 Kinkel, Klaus (19.4.1994), „Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht zum Auslandseinsatz der Bundeswehr. Erklärung in der mündlichen Verhandlung des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts am 19. April 1994,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1994(35), S.310-11, hier: S.311.
651 Kinkel, Klaus (12.7.1994), „Erklärung der Bundesregierung. Konsequenzen aus dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1994(70), S.657-59, hier: S.659.
180
Noch stärker als Kinkel hob Verteidigungsminister Rühe die Bündnisfähigkeit
Deutschlands hervor, die er als Kernelement der deutschen Sicherheitspolitik bezeichnete. In einer Rede Anfang Mai machte er deutlich, dass das Krisenmanagement, auch in Bosnien-Herzegowina, für ihn weniger in einem eigentlich militärischen als in einem politischen Zusammenhang stand. Er sagte:
„Internationale Einsätze der Bundeswehr sind in erster Linie eine politische, viel weniger eine
militärische Frage. Wir werden bündnisunfähig, wenn wir nicht in der Lage sind, grundsätzlich
dasselbe zu machen wie unsere Verbündeten und Freunde. Es kann auf Dauer kein deutschamerikanisches Korps, keine deutsch-französische Brigade, kein deutsch-niederländisches
Korps geben, wenn man in einer ernsten Situation nicht auch dieselben Einsätze durchführt.“652
Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen dem Außen- und dem Verteidigungsminister bestand in der Einschätzung des Aktionsradius möglicher deutscher
Beiträge zum militärischen Krisenmanagement. Rühe hat sich nach dem Karlsruher
Urteil dafür ausgesprochen, diesen Radius auf die europäische Peripherie zu beschränken: „Unsere Hauptverantwortung liegt in Europa und seinem näheren Umfeld.“653 Kinkel und das Außenministerium hingegen sahen in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch die Möglichkeit, dass die Bundesrepublik in den Vereinten Nationen und im Bereich der Blauhelmeinsätze eine größere Rolle spielen
konnte. Daher trat Kinkel für die Möglichkeit weltweiter Einsätze deutscher Soldaten ein.654
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts änderte an der deutschen Bosnienpolitik zunächst nichts Grundsätzliches. Bonn vermied weiterhin eine profiliertere Position gegenüber dem militärischen Handeln der NATO und passte sich den Vorgaben
der anderern Partner, vor allem der USA und Frankreichs, an. Zwischen Februar und
Ende September 1994 erlahmte die öffentliche Diskussion über die Bosnienpolitik
des Bündnisses in Deutschland. Dies änderte sich erst ab Ende September und verstärkt im November und Dezember 1994 aufgrund von zwei Entwicklungen. Erstens
zwang die amerikanische Innenpolitik Präsident Clinton dazu, den bereits im Mai
1993 aufgegebenen Kurs des Lift & Strike wieder aufzunehmen und sich damit offen
gegen die wichtigsten europäischen NATO-Verbündeten – in erster Linie Frankreich
und Großbritannien – zu stellen. Zweitens verstärkten die bosnischen Serben ihr
militärisches Vorgehen gegen die westbosnische Enklave in Bihac. Nach dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts brachte diese Phase den ersten wirklichen Test für
652 Rühe, Volker (6.5.1994), „Europa im Umbruch - neue Aufgaben für die Bundeswehr.
Vortrag anläßlich der Verabschiedung der Bundeswehr aus der Garnisonsstadt Ludwigsburg am 6. Mai 1994 in Ludwigsburg,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der
Bundesregierung 1994(43), S.377-79, hier: S.378.
653 Rühe, Volker (12.9.1994), „Deutschlands Verantwortung - Perspektiven für das neue Europa. Rede vor dem Industrieclub Düsseldorf am 12. September 1994,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1994(86), S.804-07, hier: S.806.
654 Vgl. Duffield, World Power Forsaken, S.211.
181
die deutsche Bereitschaft, einen sichtbaren militärischen Beitrag zum NATO-
Krisenmanagement in Bosnien zu leisten.
5.2.4 Die Eskalation des Konflikts um die Schutzzone Bihac und die Spaltung
der NATO
Am 30. November richtete der amerikanische Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa (SACEUR), General Joulwan, eine Vorabfrage an das Bonner Verteidigungsministerium, in der er um einen deutschen Beitrag für die Durchsetzung
der Flugverbotszonen über Bosnien-Herzegowina durch die Bereitstellung von deutschen Electronic Combat Reconnaissance (ECR)-Tornados ersuchte.655 Die Bundesregierung reagierte hinhaltend bis abweisend, so dass die Allianz ihre Anfrage
schließlich wieder zurückzog. Wenige Tage später erging aus Brüssel eine erneute
Anfrage an Bonn, diesmal in Bezug auf eine deutsche Beteiligung an einem eventuellen Abzug der 25.000 UNPROFOR-Soldaten in Bosnien.656 Anders als beim ersten
Mal ging die Regierung darauf ein und bot dem Bündnis einen konkreten Beitrag an.
Diese wankelmütig erscheinende deutsche Politik vollzog sich vor dem Hintergrund wichtiger bündnispolitischer Entwicklungen. Im Spätherbst 1994 zeichnete
sich eine Krise innerhalb der NATO über den Kurs der Bosnienpolitik ab, welche
die Beziehungen zu den wichtigsten Bündnispartnern Deutschlands berührte. Die
deutsche Reaktion auf die beiden Anfragen der Allianz resultierte einerseits aus der
Zurückhaltung gegenüber einem militärischen Beitrag in Bosnien und andererseits
aus dem Versuch, die Beziehungen zu den Bündnispartnern nicht noch weiter zu
belasten. Im Folgenden wird daher zunächst auf die bündnisinternen Entwicklungen
eingegangen, bevor die deutsche Politik näher beleuchtet wird.
5.2.4.1 Der NATO-Zusammenhalt auf dem Prüfstand
Seit September 1994 geriet US-Präsident Clinton angesichts der fortdauernden Angriffe der bosnischen Serben auf die muslimischen Enklaven verstärkt unter den
Druck des amerikanischen Kongresses, das Waffenembargo gegen Bosnien aufzuheben. Die amerikanische Regierung reagierte darauf zunächst damit, dass sie innerhalb des Bündnisses ihre europäischen Verbündeten dazu drängte, ihrerseits einem
härteren Vorgehen gegen die bosnischen Serben zuzustimmen. So drohten die
NATO-Verteidigungsminister nach einem informellen Treffen am 29. und 30. Sep-
655 Vgl. SZ (2.12.1994), Bündnis will Beteiligung der Bundeswehr an Militäroperationen.
656 Nach Auskunft des damaligen deutschen Generalinspekteurs der Bundeswehr und späteren
Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, hatte der Nordatlantikrat bereits Anfang September den Militärausschuss mit einer „unverzüglichen Notfallplanung“
im Falle eines UNPROFOR-Rückzugs beauftragt.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.