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4.4 Fazit – Die deutsche Politik gegenüber der ersten und zweiten Erweiterungsrunde
4.4.1 Gestaltungswille der deutschen Politik
Die deutsche Diplomatie übernahm seit Beginn der 1990er Jahre eine Führungsrolle
bei der politischen und ökonomischen Öffnung der euro-atlantischen Institutionen
gegenüber den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts. Die Stärkung der
KSZE/OSZE, das Liaison-Konzept der NATO sowie die Assoziierungs- und Erweiterungsstrategien von EU und WEU waren sichtbares Ergebnis dieser Politik. Betrachtet man jedoch spezifisch die Erweiterungen der Nordatlantischen Allianz, so
zeigen sich deutliche Unterschiede des deutschen Gestaltungswillens zwischen der
ersten und der zweiten Erweiterungsrunde.
In den 1990er Jahren hatte Deutschland noch eine aktive Politik zur Überwindung
des Status quo verfolgt. Dies war insbesondere zu Beginn der Debatte der Fall, als
auch der Westen begann, dem Drängen der Visegrad-Länder auf Öffnung der Allianz nachzugeben und als es darum ging, den Erweiterungsprozess mit einer Intensivierung der Beziehungen zu Russland in Einklang zu bringen. Während der zweiten
Erweiterungsrunde übernahm die Bundesregierung dagegen keine diplomatische
Führungsrolle mehr. Sie passte sich den Entwicklungen – mal aktiver und mal passiver – eher an, als dass sie diese aktiv gestaltete. Der deutlichste Unterschied bestand darin, dass es seit Ende der 1990er Jahre keinen relevanten politischen Akteur
in Deutschland mehr gab, der den Erweiterungsprozess auf nationaler und internationaler Ebene und in enger Abstimmung mit einflussreichen amerikanischen Koalitionspartnern vorantrieb. Diese Beobachtung führte Stephen Szabo und einige andere
Autoren zu der Einschätzung, dass die deutschen Sicherheitsinteressen nach der
Aufnahme der unmittelbaren Nachbarn Polen, Tschechien und Ungarn befriedigt
worden seien und dass somit das deutsche Interesse an einer Fortsetzung des Prozesses deutlich gesunken sei.575 Die Ergebnisse dieser Arbeit legen eine andere Schlussfolgerung nahe.
Die Sichtweise von der deutschen Saturiertheit und Passivität muss in dreifacher
Hinsicht zumindest relativiert werden. Erstens unterschieden sich die Handlungsmuster der deutschen Politik gegenüber der ersten und der zweiten Erweiterungsrunde nicht so radikal, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Auch wenn sie
keine diplomatische Führungsfunktion übernahm, unterstützte die Bundesregierung
auch weiterhin beide Erweiterungsprozesse, solange sie nicht zu sicherheitspolitischen „Grauzonen“ und irreparablen Friktionen im Verhältnis zu Russland führten.
Sie unterstützte ferner die Kandidaten von Anfang an auf operativ-militärischer
Ebene bei der Vorbereitung auf einen späteren Beitritt. Es gibt auch keine Hinweise
dafür, dass Berlin auf politischer Ebene versucht hätte, den Fortgang des Erweiterungsprozesses aktiv zu blockieren.
575 Szabo, Enlarging NATO, S.346.
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Zweitens nahm initiatives Akteurshandeln generell im Rahmen der zweiten
NATO-Osterweiterung einen geringeren Stellenwert als noch Anfang der 1990er
Jahre ein. Während 1993, zum Zeitpunkt der Rede Rühes vor dem IISS, noch keine
Grundsatzentscheidung im Sinne des Ob, Wann und Wie getroffen wurde, waren die
Weichen für die zweite Erweiterungsrunde des Bündnisses spätestens seit 1997
gestellt. Es ging danach im Prinzip nur noch um die Größe des Kandidatenfeldes
sowie um die zeitlichen Pläne. Mit anderen Worten: Die Pfadabhängigkeiten machten eine Initiative Deutschlands oder eines anderen NATO-Staates weniger dringlich
als dies früher der Fall war. Drittens veränderte sich auch der Entscheidungskontext.
Neben der EU-Osterweiterung banden die Bewältigung der Folgen des 11. September 2001 und der sich anbahnende Irak-Krieg die politische und diplomatische Aufmerksamkeit der deutschen Sicherheitspolitik.
4.4.2 Funktionsverständnis: Institutionelle Sicherheits- und Einflussinteressen
und bürokratische Politik
Wie bereits im Rahmen der ersten Erweiterungsrunde nahmen unmittelbare Sicherheitsinteressen – so wie sie in dieser Arbeit definiert wurden – aus deutscher Sicht
keinen relevanten Stellenwert ein. Trotz der ungewissen politischen und ökonomischen Perspektiven der Reformprozesse im östlichen Europa befürchtete keine der
Bundesregierungen aus dieser Richtung eine unmittelbare Bedrohung der deutschen
Sicherheit oder auch nur die Entstehung militärischer und strategischer Risiken.
Dieses Motiv war – möglicherweise mit Ausnahme der russischen Politik vor dem
Abzug der Ostgruppe aus Mitteleuropa – nicht handlungsanleitend. Der deutschen
Politik ging es zu keinem Zeitpunkt darum, die Kapazitäten der Allianz im Sinne der
spezifisch-militärischen Funktion gegenüber äußeren Risiken und Bedrohungen zu
stärken.
Unter den alten Mitgliedstaaten herrschte Klarheit darüber, dass die prospektiven
Neumitglieder keine signifikanten militärischen Ressourcen in das Bündnis einbringen würden. Im Gegenteil ging die Erwartung dahin, dass die bislang größte Erweiterung in der Geschichte der NATO neue Probleme der militärischen Lastenteilung
(burdensharing) und der Verteidigungsplanung schaffen würde.576 Die Erweiterung
hat die Bedeutung der Allianz als kollektiv-militärisch entscheidende und handelnde
Institution eher gemindert als gesteigert. Aus deutscher Sicht erschien dies nicht
gravierend, da die politischen und nicht die militärischen Funktionen im Mittelpunkt
standen. Die deutschen Motive lagen vor allem in der politischen Gestaltung der
europäischen Ordnung und Integration durch die politisch-externen Funktionen vor
dem Beitritt und durch die allgemeine Allianzfunktion nach dem erfolgten Beitritt.577
576 Vgl. Edmunds, Timothy (2003), „NATO and its New Members,“ in: Survival 45(3), S.145-
66, hier: S.146.
577 Vgl. Knapp, Die Haltung Deutschlands zur zweiten Runde der Osterweiterung der NATO,
S.175.
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References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.