123
Beitritt erhalten würden. Sie unterstützte jedoch die Fortführung des Erweiterungsprozesses und die Entwicklung einer Begleitstrategie für die zunächst nicht berücksichtigten Länder, einschließlich des Baltikums. Teil dieser Strategie war die Fortführung des kontinuierlichen Dialogs mit allen Partnern, die Stärkung der Partnerschaft für den Frieden und die Einrichtung des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats,
der den NAKR ersetzen sollte.
4.2.5 Die innenpolitische Debatte über Kosten und Nutzen der NATO-
Osterweiterung
4.2.5.1 Divergierende Annahmen und Kostenschätzungen im transatlantischen
Verhältnis
Die Debatte um die Kosten der NATO-Osterweiterung setzte in allen Mitgliedstaaten erst zu einem späten Zeitpunkt ein, als die wesentlichen Weichenstellungen für
die Aufnahme neuer Länder bereits erfolgt waren.431 Sie konzentrierte sich dabei
zudem auf den amerikanischen Kontext und die Ratifizierung der Beitrittsurkunden
durch den US-Kongress. Der Deutsche Bundestag beschäftigte sich erst kurz vor
dem Madrider NATO-Gipfel mit dem Thema. Dabei ging die Bedeutung der Kostenthematik über den rein monetären Aspekt hinaus. Die Debatte betraf vielmehr die
grundsätzlichen Fragen der politischen und militärischen Zielsetzung der Osterweiterung sowie deren Umsetzung.432 Die enorme Spannbreite der Kostenschätzungen
zwischen 1,5 Mrd. und 125 Mrd. Dollar, in der sich die diversen Studien bewegten,
spiegelte „außerordentlich divergierende Vorstellungen über die Rolle und die Zukunft der NATO“ wider.433 Der Umstand, dass es in Deutschland zu keiner nennenswerten Kostendiskussion kam, deutet auf einen militärisch-minimalistischen
Grundkonsens hin, wonach die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten nicht in erster Linie
den militärischen, sondern politischen Zielsetzungen folgte.
Die in der wissenschaftlichen und politischen Debatte erörterten Kosten- und
Nutzenkategorien der Erweiterung lassen sich den unterschiedlichen Funktionen der
431 Vgl. Goldgeier, Not Whether but When, S.131.
432 Vgl. Pradetto, Die Diskussion über die Kosten der NATO-Osterweiterung, S.27.
433 Ebd., S.30. Vgl. auch Asmus, Ronald D.; Kugler, Richard und Larrabee, Stephen F. (1996),
„What Will NATO Enlargement Cost?“ in: Survival 38(3), S.5-26, hier: S.5 sowie Sandler,
Todd und Hartley, Keith (1999), The Political Economy of NATO. Past, Present, and onto
the 21st Century, Cambridge und New York, Cambridge University Press, S.84. Geipel und
andere Autoren haben den Zusammenhang zwischen den veranschlagten Kosten und den
Zielvorstellungen des Erweiterungsprozesses treffend damit zusammengefasst, dass dieser
Prozess „will cost as little or as much as the current and prospective member countries of
the Alliance are willing to spend“. Geipel, Gary L. (1999), „The cost of enlarging NATO,“
in: Sperling, James (Hrsg.), Two tiers or two speeds? The European security order and the
enlargement of the European Union and NATO, Manchester und New York, Manchester
University Press, S.160-78, hier: S.160.
124
Sicherheitsinstitution NATO zuordnen.434 Die folgende Tabelle fasst diese Kategorien unter Rückgriff auf eine entsprechende Übersicht bei Todd Sandler und Keith
Hartley zusammen und ordnet sie den institutionellen Funktionen zu.
Tabelle 2: Spektrum der Kosten- und Nutzenkategorien der NATO-Osterweiterung
aus Sicht der alten Mitgliedstaaten
allgemeine politische Funktion
Beschreibung der Funktion
Einflussnahme durch Informationsaustausch, Konsultationen, kollektive Entscheidungsregeln Minimierung oder Beseitigung von Unsicherheiten und Spannungen
unter den Mitgliedstaaten
Kosten und Nutzen
‚ Nutzen: Einflussnahme durch die Einbeziehung neuer Partner in
Konsultationen und gemeinsame Entscheidungsmechanismen
‚ Kosten: Aufteilung von Entscheidungskompetenzen und Entscheidungsmacht auf zusätzliche Akteure
‚ Kosten: Zusätzliche Risiken für die alten Mitgliedstaaten, in
neue ethnische und/oder territoriale Konflikte hineingezogen zu
werden (entrapment)
spezifisch – politisch nach außen gerichtete Funktion
Beschreibung der Funktion
Stabilisierende Einflussnahme auf das ökonomische und politische System der
Beitrittskandidaten
Kosten und Nutzen
‚ Nutzen: Förderung demokratischer Reformen und politischer
Stabilität bei den Beitrittskandidaten
‚ Nutzen: Unterstützung ökonomischer und politischer Integration
‚ Nutzen: Verbesserung der nachbarschaftlichen Beziehungen mit
Osteuropa
434 Vgl. Tabelle 3.2. „Potential benefits and costs of NATO expansion“ in: Sandler und Hartley, The Political Economy of NATO, S.71. Die Aufstellung wurde hier in einigen Punkten
ergänzt.
125
Tabelle 2 (Fortsetzung)
spezifisch – militärisch nach innen gerichtete Funktion
Beschreibung der Funktion
Bereitstellung gemeinsamer Ressourcen für militärische Planung, Koordination
und Implementierung; Herstellung der Interoperabilität der Streitkräfte; militärische Lastenteilung
Kosten und Nutzen
‚ Nutzen: Verbesserung der militärischen Lastenteilung innerhalb
der NATO
‚ Nutzen: Höhere Absatzchancen für die Rüstungsindustrie innerhalb der NATO
‚ Nutzen: Effizientere und kostengünstigere Beschaffung von Rüstungsgütern (economies of scale) durch Vergrößerung des gemeinsamen Rüstungsmarktes
‚ Kosten: Direkte militärische Erweiterungskosten (C³I, Infrastruktur, Interoperabilität, Ausbau zivil-militärischer Strukturen, Ausbau militärischer Aufnahmekapazitäten in den neuen Mitgliedstaaten)
‚ Kosten: Gemeinsame Übungen und militärische Unterstützungsund Ausbildungsmaßnahmen der alten für die neuen Mitgliedstaaten
spezifisch – militärisch nach außen gerichtete Funktion
Beschreibung der Funktion
Militärische Handlungsfähigkeit gegenüber äußeren Risiken und Bedrohungen
Kosten und Nutzen
‚ Nutzen: Verstärkung der gegenseitigen Verteidigungsfähigkeit
‚ Nutzen: Verbesserte Fähigkeiten für das militärische Krisenmanagement
‚ Kosten: Überdehnung der militärischen Ressourcen durch Vergrößerung des Bündnisgebietes (thinning of forces)
‚ Kosten: Verschlechterung der kollektiven Entscheidungsfähigkeit unter den Bedingungen des Konsenserfordernisses im
NATO-Rat
‚ Kosten: Notwendige Investitionen für die militärische Modernisierung der Armeen in den neuen Mitgliedsländern (kollektive
Verteidigung und Krisenmanagement)
126
Aus dieser Übersicht wird deutlich, dass unterschiedliche Schwerpunktsetzungen
bei der funktionalen Zielsetzung der Osterweiterung unterschiedliche materielle
Kosten nach sich ziehen. Beispielsweise hätte die Betonung umfassender militärischer Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit ungleich höhere Kosten verursacht als eine NATO-Erweiterung mit „leichtem Fußabdruck“ in den neuen Mitgliedstaaten.
4.2.5.2 Die Kostendebatte in den USA und Deutschland
Die USA waren der einzige Mitgliedstaat des Bündnisses, in dem eine kontrovers
geführte Debatte um das Für und Wider der Erweiterung und der damit verbundenen
Kosten stattfand.435 Die verbreitete Skepsis bei vielen amerikanischen Senatoren und
die Bedeutung der Kostenfrage führten 1996 und 1997 zur Veröffentlichung von
drei Studien, denen jeweils unterschiedliche Prämissen, Szenarien und Kostenkalkulationen zugrunde lagen.436 Die Studie der Clinton Administration lag mit veranschlagten Kosten zwischen 27 und 35 Mrd. Dollar für einen Zeitraum von 13 Jahren
(1997-2009) am unteren Ende des Spektrums, wobei die USA nach diesen Schätzungen 16 bis 17 Prozent der direkten Kosten zu übernehmen hätten. Die Autoren
der zweiten großen Studie, die aus der RAND-Corporation kam, empfahlen der US-
Regierung eine Option, deren Kosten für die alten Mitglieder auf 42 Mrd. Dollar
geschätzt wurden. Diese Option ging davon aus, dass die NATO-Osterweiterung
nicht von einer Bedrohungslage bestimmt werde und daher auch keine Notwendigkeit für umfassende militärische Rüstungsmaßnahmen sowie für die Entsendung
größerer Truppenkontingente in die neuen Mitgliedstaaten bestehe.437 Die Studie mit
der größten Kostenschätzung wurde vom Congressional Budget Office (CBO) vorgelegt. Ihre Autoren berechneten eine Spanne zwischen 61 Mrd. und 125 Mrd. Dollar, wobei 109 Mrd. Dollar als wahrscheinliche Summe der Erweiterungskosten
angegeben wurde.438
Trotz der unterschiedlichen Grundannahmen der genannten Studien zeichnete
sich die US-amerikanische Debatte insgesamt durch die Betonung militärstrategischer und geopolitischer Fragen aus.439 Dies zeigte sich auch in der Resolution des
amerikanischen Senats zur Ratifizierung der Beitrittsurkunden Polens, Ungarns und
der Tschechischen Republik vom 6. Mai 1998. Sie enthielt konkrete Bedingungen,
435 Vgl. Asmus, Opening NATO's Door, S.294.
436 Für einen Überblick vgl. Goldgeier, Not Whether but When, S.131-32; Sandler und Hartley, The Political Economy of NATO, S.82.
437 Asmus; Kugler und Larrabee, What Will NATO Enlargement Cost? S.7. Unter Berücksichtigung aller von den Autoren diskutierten Optionen zur militärischen Umsetzung von Artikel 5 des NATO-Vertrags in den neuen Mitgliedstaaten ergab sich aus der Studie eine Kostenspanne von 10 Mrd. bis 110 Mrd. Dollar.
438 Vgl. Pradetto, Die Diskussion über die Kosten der NATO-Osterweiterung, S.28; Sandler
und Hartley, The Political Economy of NATO, S.82.
439 Vgl. Pradetto, Die Diskussion über die Kosten der NATO-Osterweiterung, S.34.
127
die diese Länder auch nach dem erfolgten Beitritt erfüllen sollten und die auch für
zukünftige Erweiterungsrunden galten. Dazu zählte die Gewährleistung, dass die
neuen Mitglieder der Allianz einen effektiven Beitrag zur kollektiven Sicherheit
leisten würden und dass sie ihre militärische Leistungsfähigkeit durch Modernisierung ihrer Streitkräfte untermauern.440 Ein prominentes Argument der Erweiterungsgegner im Kongress war das Risiko der delution, d.h. der Verwässerung der Kernaufgabe kollektiver Verteidigung durch die Vergrößerung des Kreises der Mitgliedstaaten und der damit einhergehenden Heterogenisierung der Interessen im
Bündnis.441
Alle drei genannten amerikanischen Kostenstudien teilten die besondere Bedeutung, die der Nordatlantischen Allianz als einer militärisch handlungsfähigen Organisation – im Sinne der spezifisch-militärisch-externen Funktion – beigemessen
wurde. Dabei kristallisierten sich jedoch zwei unterschiedliche Modelle heraus. Die
CBO-Studie orientierte sich noch stark an der kollektiven Verteidigung, insbesondere gegenüber einer möglichen militärischen Bedrohung durch Russland.442 Demgegenüber legten RAND und die Clinton-Regierung den Schwerpunkt auf die Verbesserung der raschen Kriseninterventionsfähigkeit der bisherigen europäischen
NATO-Partner sowie auf die Aufnahmefähigkeit und Interoperabilität der neuen
Mitgliedstaaten bei der Krisenreaktion.443
Die von den USA ausgehenden Forderungen an die alten und zukünftigen NATO-
Staaten führten nicht zu einer Belebung der Debatte in Deutschland oder den anderen europäischen Mitgliedstaaten. So wurde im gesamten Untersuchungszeitraum
keine einzige unabhängige europäische Studie zu den Kosten und Nutzen der Osterweiterung veröffentlicht.444 Deren militärische und finanzielle Konsequenzen
nahmen in Europa einen geringen öffentlichen Stellenwert ein.445 Dies gilt ohne
Abstriche auch für die Bundesrepublik Deutschland,446 wo wenige Akteure die Debatte über die Erweiterungspolitik des Bündnisses dominierten. Die öffentliche Meinung, die Medien oder auch die Expertenratschläge spielten nur eine untergeordnete
Rolle.447 Die Kostenfrage sollte aus Sicht der sicherheitspolitischen Akteure viel-
440 Vgl. Weisser, Sicherheit für ganz Europa, S.139.
441 Vgl. Clemens, The strategic and political consequences of NATO enlargement, S.145.
442 Vgl. Koch, Jutta (ohne Datum), Kosten der NATO-Osterweiterung. Nur eine amerikanische
Debatte? http://www.uni-muenster.de/PeaCon/wuf/wf-97/9720205m.htm, (letzter Zugriff
am 10.8.2007).
443 Vgl. ebd.; Sandler und Hartley, The Political Economy of NATO, S.69.
444 Vgl. Geipel, The cost of enlarging NATO, S.162; Koch, Kosten der NATO-
Osterweiterung.
445 Vgl. Pradetto, Die Diskussion über die Kosten der NATO-Osterweiterung, S.46.
446 Für einen Überblick vgl. Fouzieh, Melanie Alamir (1998), „Die Debatte über die Kosten
der Erweiterung der Nordatlantischen Allianz in der Bundesrepublik Deutschland,“ in:
Pradetto, August und Fouzieh, Melanie Alamir (Hrsg.), Die Debatte über die Kosten der
NATO-Osterweiterung, Baden-Baden, Nomos, S.79-95; Whitneck, Germany: Consensus
Politics and Changing Security Paradigms, S.40.
447 Vgl. Haglund, David G. (1996), „Introduction: The Debate over Enlarging NATO,“ in:
ders. (Hrsg.), Will NATO Go East? The Debate Over Enlarging the Atlantic Alliance,
128
mehr bewusst aus der Öffentlichkeit herausgehalten werden, um potentiellen Erweiterungsgegnern keine Munition zu liefern.448 Verglichen mit der Größe der politischen Aufgabe wurden die finanziellen Kosten als nicht relevant eingestuft.
BMVg-Planungschef Weisser nennt drei Gründe für den geringen Stellenwert der
Erweiterungskosten in der deutschen Debatte. Erstens handele es sich bei der Osterweiterung primär um eine politische Entscheidung, die durch die Schaffung eines
ungeteilten und demokratischen Europas Stabilität für alle Länder bringen würde.
Kosten und Nutzen seien vor allem politisch-strategischer Natur und ließen sich
nicht quantifizieren. Zweitens ginge es bei der Osterweiterung nicht in erster Linie
um kostenträchtige Verteidigungsanstrengungen. Drittens schließlich sinke auch die
Notwendigkeit für kostenrelevante militärische Sicherheitsvorsorge in dem Maße, in
dem sich das Verhältnis zu Russland weiter verbessere.449
In Bonn richtete sich das Interesse an der amerikanischen Kostendebatte vor allem darauf, die Ratifizierung der Erweiterung im Kongress nicht zu gefährden und
die Übernahme militärischer und finanzieller Verpflichtungen abzuwehren, die den
stagnierenden deutschen Verteidigungshaushalt überlasten könnten.450 Mit ihrer
„minimalistischen Kostenauffassung“451 gerieten Bonn und andere europäische Partner in Konflikt mit Washington, als es darum ging, auch innerhalb der NATO eine
Kostenstudie zu erarbeiten. Obwohl die Clinton-Administration mit Blick auf die
Ratifizierung im Senat an der Präsentation von moderaten Zahlen interessiert war,
gingen ihr die europäischen Vorstellungen zu weit. Amerikanische NATO-
Diplomaten kritisierten die wenig auf Einzelheiten bedachte, unangemessene und
minimalistische Herangehensweise ihrer europäischen Kollegen.452 Am Ende setzte
sich die deutsche und europäische Auffassung jedoch durch. Die im Dezember 1997
vom NATO-Rat angenommene Studie ging von gerade einmal 1,5 Mrd. Dollar Kosten für die Erweiterung um die drei in Madrid eingeladenen Staaten in den folgenden zehn Jahren aus.453 Anders als in den USA wurde dabei von keinem Bedro-
Kingston, Queen's University, Centre for International Relations, S.1-13, hier: S.2; Hyde-
Price, Germany and European Order, S.149; Kamp, Germany, the United States and the Enlargement of the North Atlantic Alliance, S.207; Wolf, The Doubtful Mover, S.212.
448 Vgl. Fouzieh, Die Debatte über die Kosten der Erweiterung der Nordatlantischen Allianz in
der Bundesrepublik Deutschland, S.94.
449 Weisser, Sicherheit für ganz Europa, S.124-25. Nach Darstellung von Jutta Koch hat
Volker Rühe die Kostenfrage als so brisant eingeschätzt, dass er „ihre Erörterung bis Anfang Mai 1997 im Parlament und in der deutschen Fachpresse fast gänzlich mit dem sehr
deutschen Argument zu verhindern vermochte […], angesichts der Größe der politischen
Aufgabe sei es kleinlich, über deren Kosten zu reden.“ Koch, Kosten der NATO-Osterweiterung.
450 Vgl. Kamp, Germany, the United States and the Enlargement of the North Atlantic Alliance, S.217.
451 Pradetto, Die Diskussion über die Kosten der NATO-Osterweiterung, S.30.
452 Der Autor spricht wörtlich von „a European proclivity to ‘lowball’“. Solomon, The NATO
Enlargement Debate, S.132.
453 Vgl. Geipel, The cost of enlarging NATO, S.167-68; Pradetto, Die Diskussion über die
Kosten der NATO-Osterweiterung, S.30.
129
hungsszenario mehr ausgegangen. Die politische Variante der NATO-Öffnung wurde übernommen, so dass sich kein Land dazu verpflichten musste, seine Verteidigungsausgaben signifikant zu erhöhen.454
4.2.5.3 Die Erweiterungsdebatte im Deutschen Bundestag: Umsetzung und Ziele
der Osterweiterung aus parteipolitischer Perspektive
Der Bundestag beschäftigte sich erstmals am 26. Juni 1997, im Vorfeld des Madrider Gipfeltreffens, und dann erneut im Zuge der Ratifizierungsdebatte am 26. März
1998 intensiver mit der Osterweiterung des Bündnisses.455 Somit konnte das Parlament keinen Einfluss mehr auf den Zeitplan, die Kriterien oder den Teilnehmerkreis
der ersten Erweiterungsrunde nehmen. Diese Entscheidungen waren unter den meisten politischen Parteien auch nicht kontrovers. Während CDU und FDP den abwägenden Kurs der Regierung zwischen der Integration der mittelosteuropäischen
Beitrittsanwärter und der verstärkten Kooperation mit Russland vorbehaltlos unterstützten, setzte die SPD einen stärkeren Akzent auf die Einbeziehung Russlands in
die entstehende europäische Sicherheitsordnung.456 Die Position der Sozialdemokraten hatte in den Jahren zuvor einen ähnlichen Schwenk vollzogen, wie in der Frage
des militärischen Krisenmanagements.457 Während einzelne Persönlichkeiten (allen
voran Karsten Voigt, später auch Günter Verheugen, Rudolf Scharping und die
Mitglieder des Seeheimer Kreises) die NATO-Osterweiterung frühzeitig unterstützten, lehnte die SPD-Mehrheit diese bis 1996 noch ab. Erst danach setzten sich die
sicherheitspolitischen Pragmatiker mit ihrer Befürwortung der Erweiterung in der
Partei durch.458 Bündnis90/Die Grünen blieben in der Frage noch länger gespalten.
Einerseits gab es in der Partei weiterhin eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der
NATO als Militärbündnis, andererseits erkannten zahlreiche Abgeordnete den legitimen Wunsch der neuen Demokratien in Osteuropa nach Zugehörigkeit zu den
westlichen Institutionen an. Am Ende fand sich in der Grünen-Fraktion keine Mehr-
454 Die NATO-Studie berücksichtigt nicht jene Kosten, die auch ohne einen Beitritt bei den
mittelosteuropäischen Staaten zur Modernisierung ihrer Armeen angefallen wären. Vgl.
Pradetto, Die Diskussion über die Kosten der NATO-Osterweiterung, S.40.
455 Anders als der US-Kongress erstellte der Deutsche Bundestag keine eigenen Analysen zu
den Kosten und Nutzen der NATO-Osterweiterung und konfrontierte die Bundesregierung
auch kaum mit kritischen Fragen. Vgl. Fouzieh, Die Debatte über die Kosten der Erweiterung der Nordatlantischen Allianz in der Bundesrepublik Deutschland, S.90. Eine Ausnahme war die Kleine Parlamentarische Anfrage mehrerer Abgeordneter der SPD, die jedoch
ebenfalls keine umfassende Kontroverse anstieß. Deutscher Bundestag (23.4.1997), Kleine
Anfrage der Abgeordneten Gernot Erler, Uta Zapf, Volker Kröning u.a. und der Fraktion
der SPD vom 23. April 1997, Drucksache 13/7537, Bonn.
456 Vgl. ebd., S.1.
457 Vgl. hierzu ausführlicher Abschnitt 5.1.1. in dieser Arbeit.
458 Zur Entwicklung der SPD-Position vgl. Heisig, Warum eine Osterweiterung der NATO?
S.274-308.
130
heit für die Beitrittsprotokolle Polens, Tschechiens und Ungarns zur NATO.459 Bei
der PDS verband sich eine geschlossene Ablehnung der Osterweiterung des Bündnisses mit der generellen Ablehnung der NATO.
In beiden hier näher untersuchten Bundestagsdebatten nahmen materielle und finanzielle Konsequenzen der Aufnahme neuer Mitglieder in das Bündnis einen geringen Stellenwert ein. Dagegen betonten praktisch alle Erweiterungsbefürworter
während der Ratifizierungsdebatte im März 1998 die historisch-moralischen Gründe
für die Politik der offenen Tür des Bündnisses. 460 Dennoch wurden auch die potentiellen Chancen und Risiken der NATO-Osterweiterung erörtert.
Eine große Mehrheit der Abgeordneten von CDU/CSU, FDP und SPD war sich
darin einig, dass die Osterweiterung die allgemeine Funktion der NATO als Instrument der politischen Zusammenarbeit – untermauert durch gegenseitigen Informationsaustausch, Konsultationen und kollektive Entscheidungsregeln – deutlich stärken
würde. 461 Im Vordergrund standen dabei zunächst die Bundesrepublik Deutschland
und ihr Verhältnis zu den zukünftigen mittelosteuropäischen Mitgliedern. Die multilaterale Integration würde die Ängste der Nachbarn in Ost und West vor der Dominanz Deutschlands abbauen und somit erst eine effektive Ostpolitik ermöglichen. 462
Darüber hinaus wurde die Erwartung geäußert, dass der Beitritt eine innen- und
außenpolitische Renationalisierung der mittelost- und osteuropäischen Staaten verhindern463 und zur Beseitigung jahrzehntelanger Grenz- und Minderheitenkonflikte
wesentlich beitragen werde.464 Schließlich unterstrichen Redner sowohl der CDU als
auch der SPD, dass die Erweiterung eine positive und verstärkende Wirkung auf die
dauerhafte Einbindung der USA in Europa bedeute, da sie bis weit in die Zukunft
hinein eine gemeinsame und tragfähige transatlantische Agenda schaffe.465
Unter allen Parteien bestand Konsens, dass das vorrangige außenpolitische Interesse Deutschlands darin liege, Stabilität für ganz Europa zu schaffen und dass dazu
die weitere aktive Unterstützung der politischen und wirtschaftlichen Reformprozesse sowohl in Russland als auch in den anderen postkommunistischen Reformstaaten
nötig sei. Zu Divergenzen kam es jedoch zwischen einer Mehrheit der Abgeordne-
459 Zur Position von Bündnis90/Die Grünen vgl. ebd., S.309-17.
460 Vgl. stellvertretend die Redebeiträge von Kinkel und Günter Verheugen in: Deutscher
Bundestag, Plenarprotokoll (26.6.1997), S.16624-26 und S.16632-16635 sowie von Volker
Rühe in: Deutscher Bundestag (26.3.1998), Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom
16. Dezember 1997 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Polen, der
Tschechischen Republik und der Republik Ungarn. Plenarprotokoll vom 26. März 1998,
Sitzung 13/224, Bonn, S.20429-95, hier: S. 20446-20449.
461 Vgl. Verheugen in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.6.1997), S.16626.
462 Vgl. beispielsweise den Beitrag von Karsten Voigt (SPD) in: Ebd., S.16636.
463 Regierungserklärung von Kinkel in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.3.1998),
S.20433.
464 Kinkel in: Ebd. S.20433 sowie Krautscheid in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll
(26.6.1997), S.16643.
465 Pflüger in: Ebd., S.16624; Verheugen in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll
(26.3.1998), S.20437; Voigt in: Ebd., S.20449.
131
ten, die in der NATO-Osterweiterung in erster Linie Chancen in diesem Prozess
sahen, und einer Minderheit bei Bündnis90/Die Grünen und der PDS, die den Risiken mehr Gewicht einräumte. Die Beitrittsbefürworter sahen den spezifischen Beitrag des Bündnisses darin, den Reformstaaten „einen stabilen sicherheitspolitischen
Rahmen“ für die noch lange nicht abgeschlossenen Transformationsprozesse zu
bieten.466 Die Minderheit der Erweiterungsgegner teilte diese positiven Szenarien
nicht und sah vor allem die Gefahr neuer Konfrontationen und Blöcke in Europa
durch den Ausschluss Russlands und anderer osteuropäischer Länder sowie durch
die Schaffung sicherheitspolitischer Grauzonen.467
In beiden Bundestagsdebatten traten die militärischen Funktionen gegenüber den
politischen Aufgaben und Zusammenhängen in den Hintergrund. Dies gilt weitgehend unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Die Mehrheit der Abgeordneten teilten die Erwartung, dass die Osterweiterung der NATO zu mehr und nicht zu weniger
Abrüstung im nuklearen und konventionellen Bereich führen werde. Auch für die
neuen Mitgliedstaaten unterstellten die Erweiterungsbefürworter Kosteneinsparungen durch Synergie-Effekte, die am Ende mehr Investitionen in die politisch-
ökonomischen Reformprozesse ermöglichen würden.468 Sie konnten sich dabei auf
entsprechende Äußerungen aus der Bundeswehrführung und von Verteidigungsminister Rühe berufen, der gegenüber der Öffentlichkeit bestritt, dass die Beitrittsanwärter mit moderner westlicher Waffentechnik ausgerüstet werden müssten.469 Bemerkenswerterweise blieb der Abgeordnete Andreas Krautscheid (CDU/CSU) in
beiden Bundestagsdebatten der einzige Redner, der auf das Thema der Interoperabilität und Führungsfähigkeit bei den Neumitgliedern der Allianz zu sprechen kam. 470
Schließlich spielten auch die Auswirkungen der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten
auf die militärische Handlungsfähigkeit gegenüber äußeren Risiken und Bedrohungen lediglich eine untergeordnete Rolle. Am ehesten wurde dies von den Regierungsparteien, insbesondere von der CDU, in die Debatte eingebracht. Der gemeinsame Antrag von Christ- und Freidemokraten zur ersten Bundestagsdebatte im Juni
466 Verheugen in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.3.1998), S.20436.
467 Vollmer in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.6.1997), S.16627; Gysi in: Ebd.,
S.16631; Deutscher Bundestag (25.6.1997), Antrag der Abgeordneten Ludger Volmer, Angelika Beer, Winfried Nachtwei, Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN. Die Erweiterung der NATO und eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung,
Drucksache 13/8074, Bonn, S.1; Beer in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll
(26.3.1998), S.20453.
468 Voigt in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.6.1997), S.16636; Lippelt in: Ebd.,
S.16637; Pflüger in: Ebd., S.16641; Deutscher Bundestag, Kleine Anfrage (23.4.1997);
Deutscher Bundestag, Antrag der CDU/CSU und FDP (25.6.1997), S.2; Gerhardt in:
Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.3.1998), S.20444; Schulte in: Ebd., S.20456.
469 Deutscher Bundestag, Kleine Anfrage (23.4.1997), S.6. Dessen ungeachtet führten die
Erweiterungsgegner die Gefahr einer Rüstungsspirale als eines ihrer Argumente an. Gysi
in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.6.1997), S.16632.
470 Krautscheid in: Ebd., S.16642.
132
1997 beschreibt die NATO auch als ein Instrument zur gemeinsamen Interessenformulierung und Interessendurchsetzung gegenüber dritten Akteuren.471
Im Deutschen Bundestag gab es einen parteiübergreifenden Konsens, dass die
Osterweiterung ein primär politischer Prozess sei und nicht einfach die „Expansion
einer Militärmaschine“ bedeute. 472 Nach Auffassung von Christian Schmidt
(CDU/CSU) habe das Bündnis „neue Aufgaben dazu gewonnen, die weitaus mehr
im politischen als im militärischen Bereich liegen“.473 Dementsprechend standen in
beiden Bundestagsdebatten die politisch-ökonomischen und nicht die militärischen
Kriterien für den Beitritt der östlichen Reformstaaten zur Diskussion. Allein die
Kritiker der Erweiterungspolitik der NATO sahen eine Prioritätenverschiebung vom
Zivilen zum Militärischen474 sowie einen weiteren Ausbau der NATO als „Weltpolizist Nummer eins“475 und forderten angesichts der bereits beschlossenen Erweiterung
den Verzicht Deutschlands und anderer europäischer NATO-Partner auf „global
interventionsfähige Krisenreaktionskräfte“.476
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Debatten im Deutschen Bundestag im Wesentlichen den Argumentationslinien der Bundesregierung folgten. Darin
kam ein minimalistisches Kostenkonzept zum Ausdruck, das keine signifikanten
Rüstungsmaßnahmen in den alten wie in den neuen Mitgliedstaaten vorsah. Es ging
Bonn in erster Linie darum, das politische Projekt der Osterweiterung nicht mit
finanziellen Aspekten zu belasten, weder in der Bundesrepublik noch in den USA.
Nach vorherrschender Meinung der relevanten sicherheitspolitischen Akteure würde
die Aufnahme der östlichen Anwärter weitgehend kostenneutral vonstatten gehen.
Das deutsche Verständnis der Osterweiterung räumte den nach innen und außen
gerichteten politischen Funktionen der Sicherheitsinstitution NATO den absoluten
Vorrang ein.
4.2.6 Zwischenfazit zur ersten Erweiterungsrunde
4.2.6.1 Gestaltungswille der deutschen Politik
Die Bundesregierung übernahm eine Führungsrolle im Prozess der politischen Öffnung der euro-atlantischen Institutionen gegenüber den Staaten des ehemaligen
Warschauer Pakts. Ein besonderes Merkmal der deutschen Politik lag darin, die
Öffnung der NATO von Anfang an in einem gesamteuropäischen Kontext zu konzi-
471 Vgl. Deutscher Bundestag, Antrag der CDU/CSU und FDP (25.6.1997), S.2.
472 Pflüger in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.6.1997), S.16623. Vgl. ähnlich auch
Schmidt in: Ebd., S.16638; Verheugen in: Ebd., S.16625 und Irmer in: Ebd., S.16630.
473 Schmidt in: Ebd., S.16639; Poppe in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.3.1998),
S.20442.
474 Beer in: Ebd., S.20453.
475 Andrea Gysi in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll (26.6.1997), S.16631.
476 Vollmer in: Ebd., S.16629; Deutscher Bundestag, Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN (25.6.1997), S.3.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.