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4. Kapitel: Deutschland und die Osterweiterungen der Nordatlantischen
Allianz
„The Parties may, by unanimous agreement, invite any other European state in a position to
further the principles of this Treaty and to contribute to the security of the North Atlantic area
to accede to this Treaty.“
Artikel 10 des Washingtoner Vertrages vom 4. April 1949
4.1 Neue Problemlagen und neue Funktionen: Die euro-atlantischen Sicherheitsinstitutionen nach dem Ende des Kalten Krieges
4.1.1 Die veränderte Sicherheitslage in Europa
1990 wurde für die Bundesrepublik Deutschland wie für Europa zum „Jahr der Erfüllung“.224 Die beiden deutschen Staaten vereinten sich friedlich und in freier
Selbstbestimmung, während im Osten Europas demokratisch gewählte Regierungen
die kommunistischen Diktaturen ablösten. Die Sicherheitslage in Europa verbesserte
sich in kürzester Zeit dramatisch und die Vision eines erstmals geeinten Europas
wurde zu einer realen Option. Im Juli stellten die Regierungen der NATO in der
Londoner Erklärung gemeinsam fest: „Europe has entered a new promising era.
Central and Eastern Europe is liberating itself. The Soviet Union has embarked on
the long journey toward a free society.“225 Die Charta von Paris, die alle KSZE-
Staaten einschloss, stand ebenfalls unter dem Zeichen der grundlegenden politischen
Erneuerungen auf dem Kontinent.226
Der Umbruch wirkte sich besonders positiv auf die Bundesrepublik Deutschland
aus. Sie verlor ihre prekäre Lage als Frontstaat der Blockkonfrontation. Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg bezeichnete dies als eine „fundamentale Verbesserung der geostrategischen Lage unseres Landes“, da von den Streitkräften der
östlichen Nachbarn „keinerlei Risiko mehr für den Westen“ ausgehe.227 Der Ab-
224 Genscher, Hans-Dietrich (3.2.1991), „Eine Vision für ganz Europa. Rede des Bundesministers des Auswärtigen am 3. Februar 1991 vor dem 'World Economic Forum' in Davos,“ in:
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1991(14), S.89-95.
225 NATO (5.-6.7.1990), London Declaration on a Transformed North Atlantic Alliance.
Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council, London.
226 KSZE (19.-21.11.1990), Charter of Paris for a New Europe, Paris.
227 Stoltenberg, Gerhard (13.3.1991), „Zukunftsaufgaben der Bundeswehr im vereinten
Deutschland. Rede des Bundesministers der Verteidigung auf der Kommandeurtagung der
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schluss des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) und
schließlich der Beginn des Rückzugs der sowjetischen Truppen aus der Mitte Europas untermauerten aus Sicht des Westens und der Bundesrepublik den Umbruch der
Sicherheitslage.228
Trotz dieser positiven Gesamtentwicklung blieben auch nach 1990 vielfältige
Problemlagen und Interessengegensätze bestehen. Sie stellten neue Anforderungen
an die europäischen Strukturen und verlangten nach institutionellen Lösungen.229 Die
unmittelbaren militärischen Bedrohungen und Risiken verloren nach dem Ende des
Ost-West-Konflikts an Bedeutung, aber sie verschwanden nicht völlig. Die kriegerischen Auseinandersetzungen am Persischen Golf und im auseinander fallenden
Jugoslawien verdeutlichten, dass der Frieden auch in der neuen Ordnung nicht gesichert war. Der Zerfall der Sowjetunion war ebenfalls mit Unwägbarkeiten verbunden, die angesichts der enormen nuklearen und konventionellen Arsenale, der damit
verbundenen Gefahren der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der
aggressiven Formen des Nationalismus in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion230 auch militärische Risiken für den Westen bargen.
Vor diesem Hintergrund formulierte die Bundesregierung deutlich ihr Interesse,
die politische und militärische Präsenz der Vereinigten Staaten von Amerika auf
dem europäischen Kontinent auch weiterhin zu erhalten.231 In den USA wurden
dagegen jene Stimmen lauter, welche die Mission ihres Landes in Europa mit dem
Ende des Kalten Krieges als erfüllt ansahen und daher für einen Rückzug bzw. für
einen neuen Isolationismus plädierten.232 Damit wiederum drohte eine Renationali-
Bundeswehr am 13. März 1991 in Bonn,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes
der Bundesregierung 1990(52), S.405-09.
228 Vgl. Wegener, Henning (1991), „Die Rolle des Atlantischen Bündnisses in einer künftigen
europäischen Sicherheitsordnung,“ in: Rauch, Andreas M. (Hrsg.), Europäische Friedenssicherung im Umbruch, München, Verlag für Wehrwissenschaften, S.158-67, hier: S.159.
229 Vgl. Staack, Michael, et al. (1992), „Aufbruch nach Gesamteuropa? Perspektiven der
gesamteuropäischen Zusammenarbeit für die 1990er Jahre,“ in: Staack, Michael (Hrsg.),
Aufbruch nach Gesamteuropa. Die KSZE nach der Wende im Osten, Münster, LIT, S.367-
91, hier: S.390.
230 Vgl. Forndran, Erhard (1993), „Herausforderungen und Chancen europäischer Sicherheit
nach der Auflösung der Sowjetunion,“ in: Forndran, Erhard und Pohlmann, Hartmut
(Hrsg.), Europäische Sicherheit nach dem Ende des Warschauer Paktes, Baden-Baden,
Nomos, S.11-114, hier: S.36.
231 Vgl. Stoltenberg, Gerhard (1.5.1990), „Deutsche Einheit und europäische Sicherheit. Rede
von Bundesminister Dr. Stoltenberg vor dem Institut für deutsche Gegenwartsstudien der
Johns Hopkins University am 1. Mai 1990 in Washington,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1990(52), S.405-09. Bundeskanzler Helmut Kohl betrachtete die amerikanische Präsenz weiterhin als zentrale transatlantische Absicherung des
europäischen Integrationsprozesses.
232 Vgl. Forndran, Herausforderungen und Chancen europäischer Sicherheit nach der Auflösung der Sowjetunion, S.51; Weidenfeld, Werner (1990), „Europa im Umbruch: Perspektiven einer neuen Ordnung des Kontinents,“ in: Weidenfeld, Werner und Stützle, Walther
(Hrsg.), Abschied von der alten Ordnung: Europas neue Sicherheit, Gütersloh, Verlag Bertelsmann Stiftung, S.7-17, hier: S.13.
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sierung westlicher Sicherheitspolitik, die zu einer Singularisierung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Herausforderungen in Osteuropa führen konnte.233
Hinzu traten die außenpolitischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der
deutschen Vereinigung. Die Bundesrepublik stieß mit ihrem auf nun 375.000 km²
gewachsenen Territorium und einer Bevölkerung von zirka 80 Mio. Menschen zunächst auf Misstrauen und Widerstände bei den europäischen Nachbarn. Außenpolitische Initiativen etwa im Baltikum oder auf dem Balkan standen bald unter dem
Verdacht des deutschen Unilateralismus234 – das „deutsche Problem“ schien sich
somit zunächst noch zu verschärfen anstatt nun dauerhaft gelöst zu werden.235 Das
aus der historischen Erfahrung geborene Misstrauen setzte auch der deutschen Politik gegenüber Osteuropa klare Grenzen.236
Zu diesen bekannten Problemlagen kamen neue Herausforderungen im Verhältnis
zum östlichen Europa hinzu, die sich „durch Instabilität, hohe Dynamik, geringe
politische Steuerungskapazität und vielfache Unsicherheit“ auszeichneten.237 Als
Hauptursachen für die Instabilität wurden politische Blockaden der Reformprozesse,
wirtschaftliche Rezession und wiederauflebende Nationalismen identifiziert. Aus
Sicht der Bundesregierung waren die neuen Risiken und Gefahren primär ökonomischer, sozialer und politischer Natur, hatten jedoch das Potential, sich auch zu militärischen Risiken auszuweiten.238 Darüber hinaus ließen sich diese Entwicklungen
im östlichen Europa aus mehreren Gründen nicht vom Rest des Kontinents isolieren.
So wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Entwicklung hin zu Marktwirtschaft und Demokratie einerseits und der Reduzierung der außenpolitischen
Gewaltbereitschaft andererseits gesehen.239
233 Vgl. Funke, Manfred (1991), „Deutsch-Sowjetische Beziehungen in einem neuen Europa,“
in: Rauch, Andreas M. (Hrsg.), Europäische Friedenssicherung im Umbruch, München,
Verlag für Wehrwissenschaften, S.34-42, hier: S.41.
234 Vgl. Forndran, Herausforderungen und Chancen europäischer Sicherheit nach der Auflösung der Sowjetunion, S.50.
235 Vgl. Staack, Michael (1992), „Deutschland in Gesamteuropa. Die KSZE und die Bundesrepublik Deutschland,“ in: ders. (Hrsg.), Aufbruch nach Gesamteuropa. Die KSZE nach der
Wende im Osten, Münster, LIT, S.118-76, hier: S.140.
236 Vgl. Funke, Deutsch-Sowjetische Beziehungen in einem neuen Europa, S.39.
237 Forndran, Herausforderungen und Chancen europäischer Sicherheit nach der Auflösung der
Sowjetunion, S.16. Vgl. auch Bühl, Hartmut (1993), „Politische, wirtschaftliche und militärische Bedingungen europäischer Sicherheit,“ in: Forndran, Erhard und Pohlmann, Hartmut
(Hrsg.), Europäische Sicherheit nach dem Ende des Warschauer Paktes, Baden-Baden,
Nomos, S.189-206, hier: S.191. Vgl. auch den von der Stiftung Wissenschaft und Politik
(SWP) herausgegebenen Sammelband, der eine der ersten umfassenden deutschsprachigen
Analysen der veränderten sicherheitspolitischen Lage in Europa nach dem Umbruch von
1989/1990 darstellt. Heydrich, W., et al. (1992), Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue
Konstellationen, Risiken, Instrumente, Baden-Baden, Nomos.
238 Vgl. Kohl, Helmut (2.4.1992), „Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der
deutschen Außenpolitik am 2. April 1992 vor dem Deutschen Bundestag,“ in: Bulletin des
Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1992(35), S.333-36.
239 Vgl. Forndran, Herausforderungen und Chancen europäischer Sicherheit nach der Auflösung der Sowjetunion, S.110; von Plate, Bernhard (1994), „Ost- und Mittelosteuropa: Eine
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Somit war die Feststellung der NATO im Juni 1991, dass „unsere Sicherheit mit
der aller anderen europäischen Staaten untrennbar verknüpft“ ist, mehr als nur eine
Leerformel.240 Trotz dieser gesamteuropäischen Problemlagen unterschieden sich die
Entwicklungen in Mittelost- und Südosteuropa sowie in der ehemaligen Sowjetunion in wesentlichen Aspekten voneinander.241 Südosteuropa, insbesondere die
jugoslawischen Nachfolgestaaten, bedeuteten eine besondere Herausforderung, da
sich die dortigen machtpolitischen Konflikte bald in kriegerischen Auseinandersetzungen entluden und sich damit politischen und wirtschaftlichen Lösungsansätzen zunächst entzogen.242 Folglich scheiterten diese Instrumente, zu einem
Zeitpunkt, als der Westen zum militärischen Krisenmanagement noch nicht in der
Lage war.243 Erst allmählich fanden sich die Staaten Westeuropas und Nordamerikas
bereit, auch militärische Mittel einzusetzen und die bestehenden Sicherheitsinstitutionen – in erster Linie die NATO – entsprechend neu auszurichten. Die Problemlagen in Südosteuropa werden daher im 5. Kapitel dieser Arbeit, das sich mit dem
militärischen Krisenmanagement beschäftigt, erörtert werden.
Russland blieb auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Staat mit der
größten zusammenhängenden Landmasse der Welt und ist damit nicht nur eine europäische, sondern auch eine asiatische Macht. Allein dieser Umstand ließ die vollständige Integration in die westlichen Sicherheitsinstitutionen als illusorisch erscheinen.244 Aufgrund der Bedeutung des Landes und wegen der unsicheren politischen Entwicklungen in Moskau bestand jedoch Einigkeit in der außenpolitischen
Elite Deutschlands, dass europäische Sicherheit nur mit und nicht gegen Russland zu
Herausforderung für KSZE und NATO,“ in: ders. (Hrsg.), Europa auf dem Weg zur kollektiven Sicherheit? Konzeptionelle und organisatorische Entwicklungen der sicherheitspolitischen Institutionen Europas, Baden-Baden, Nomos, S.71-94, hier: S.77. Vgl. auch Kohl,
Helmut (6.2.1993), „Die Sicherheitsinteressen Deutschlands. Rede des Bundeskanzlers am
6. Februar 1993 anläßlich der 30. Konferenz für Sicherheitspolitik in München,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1993(13), S.101-05.
240 Kopenhagener Erklärung zu Mittelost und Osteuropa, zitiert nach: von Plate, Ost- und
Mittelosteuropa, S.72.
241 Mittelosteuropa bezeichnet die Visegrad-Länder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei.
Osteuropa bezeichnet die Staatengruppe der baltischen Länder, Weißrussland, Ukraine und
Russland. Südosteuropa bezeichnet die Staaten des ehemaligen Jugoslawiens und schließt
zudem Rumänien und Bulgarien ein.
242 Vgl. Brown, James F. (1992), „Aktuelle und potentielle Konfliktmöglichkeiten in Südosteuropa,“ in: Heydrich, Wolfgang, et al. (Hrsg.), Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue
Konstellationen, Risiken, Instrumente, Baden-Baden, Nomos, S.395-412, hier: S.401.
243 Vgl. van Eekelen, Wim F. (1994), „The Future of Multinational Security Institutions,“ in:
von Plate, Bernhard (Hrsg.), Europa auf dem Weg zur kollektiven Sicherheit? Konzeptionelle und organisatorische Entwicklungen der sicherheitspolitischen Institutionen Europas,
Baden-Baden, Nomos, S.29-47, hier: S.31.
244 Vgl. Funke, Deutsch-Sowjetische Beziehungen in einem neuen Europa, S.38; van Eekelen,
The Future of Multinational Security Institutions, S.29.
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erreichen sei.245 Kooperation und Partnerschaft wurden daher zum zentralen Ziel
deutscher und europäischer Sicherheitspolitik gegenüber Russland.246
Anders als in Südosteuropa waren die Herausforderungen und Unsicherheiten in
Mittelosteuropa, d.h. in erster Linie Polen, Ungarn und Tschechoslowakei, weniger
durch ethnisch-territoriale als durch wirtschaftliche und soziale Verwerfungen sowie
durch schwierige politische Reformprozesse gekennzeichnet. Diese Konflikte blieben zumeist unterhalb der Schwelle offener Gewaltausübung.247 Nach Auffassung
von James F. Brown stellte aus damaliger Sicht die Möglichkeit des gewaltsamen
Auseinanderbrechens der Tschechoslowakei den größten potentiellen Krisenherd in
Mittelosteuropa, insbesondere mit Blick auf die ungarische Minderheit im slowakischen Teil des Landes, dar.248 In der bundesdeutschen sicherheitspolitischen Diskussion nahm diese Gefahr dagegen nur einen untergeordneten Stellenwert ein.249 Weitaus intensiver wurde die Frage nach der Zukunft der Reformanstrengungen beim
polnischen Nachbarn erörtert. Nach der Befreiung von der kommunistischen Herrschaft und den anfänglichen Reformerfolgen wuchs im Westen die Sorge vor einer
politischen Polarisierung und einer Trendwende hin zum Autoritarismus.250 Ungarn
dagegen zeichnete sich durch eine stabile Regierung und durch ein funktionierendes
parlamentarisches System aus.251
Im gesamten östlichen Europa spielten zudem außen- und sicherheitspolitische
Probleme eine wichtige Rolle. Das Vakuum, welches der Warschauer Pakt hinterlassen hatte, musste gefüllt werden, um die Sicherheitsbedürfnisse dieser Staaten zu
befriedigen. Da die Wiederbelebung des Warschauer Paktes keine realistische Option war, drohten nationale Alleingänge oder gar ein neues regionales Sicherheitsbündnis. Im Juni 1990 warnte Stoltenberg davor, dass „die neuen Demokratien in
Osteuropa ihre Eigenständigkeit auch in sicherheitspolitischen Fragen beanspruchen.“252 Eine sicherheitspolitische Eigendynamik in diesem Teil Europas hätte
245 Vgl. Rühe, Volker (8.10.1993), „Europäische Einigung und transatlantische Partnerschaft.
Rede von Bundesminister Rühe am 8. Oktober 1993 an der Karls-Universität in Prag,“ in:
Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1993(86), S.981-84.
246 Vgl. Timmermann, Heinz und Vogel, Heinrich (1996), „Konsequenzen für die Politik des
Westens,“ in: Vogel, Heinrich (Hrsg.), Rußland als Partner der europäischen Politik, Köln,
Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, S.38-51, hier: S.44.
247 Vgl. Brown, James F. (1992), „Konfliktmöglichkeiten in Mittelosteuropa,“ in: Heydrich,
Wolfgang, et al. (Hrsg.), Sicherheitspolitik Deutschlands: Neue Konstellationen, Risiken,
Instrumente, Baden-Baden, Nomos, S.351-62, hier: S.351; Forndran, Herausforderungen
und Chancen europäischer Sicherheit nach der Auflösung der Sowjetunion, S.37.
248 Vgl. Brown, Konfliktmöglichkeiten in Mittelosteuropa, S.358.
249 In den 20 für diesen Abschnitt der Arbeit analysierten sicherheitspolitischen Grundsatzreden des Bundeskanzlers sowie der Außen- und Verteidigungsminister zwischen Anfang
1990 und Ende 1993 wurde die Möglichkeit eines gewaltsamen Auseinandersbrechens der
Tschechoslowakei kein einziges Mal thematisiert.
250 Vgl. Brown, Konfliktmöglichkeiten in Mittelosteuropa, S.355.
251 Vgl. ebd., S.358.
252 Stoltenberg, Gerhard (13.6.1990), „Künftige Perspektiven deutscher Sicherheitspolitik.
Rede des Bundesministers der Verteidigung auf der 31. Kommandeurtagung der Bundes-
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jedoch einen Einflussverlust des Westens und möglicherweise ein Festschreiben der
Ungleichgewichte und Konfliktpotentiale in der Region bedeutet.253
4.1.2 Funktionen der institutionellen Kooperation und Integration
Die spezifisch-militärische Aufgabe der Sicherheitswahrung und der kollektiven
Verteidigung gegen äußere Bedrohungen wurde angesichts der weiterhin beträchtlichen russischen Militärpotentiale und der fortbestehenden Unsicherheiten über die
politischen Entwicklungen in Mittelost- und Osteuropa keineswegs obsolet. Nach
dem Ende des Kalten Krieges ging es jedoch darum, diese Aufgabe mit „neuartigen
Mitteln differenzierter“ zu verwirklichen.254 So wandelte sich die Funktion der Nuklearwaffen zur „Minimalabschreckung“ bzw. zur „Absicherung und Stabilisierung
eines vertraglich vereinbarten Systems gegenseitiger Sicherheit in Europa.“255 Auch
blieb die politische und nach innen gerichtete Funktion der Einbindung und Verankerung des vereinten Deutschlands sowie der institutionellen Absicherung der politischen und militärischen Präsenz der USA in Europa bestehen.256
Über diese bereits während des Kalten Krieges bestehenden Aufgaben hinaus
veränderten sich die Anforderungen an die euro-atlantischen Sicherheitsinstitutionen
grundlegend.257 Dabei traten die Ziele der Kooperation, Transformation und der
Integration gegenüber den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes an die Spitze
der europäischen Agenda. Die Entspannungskomponente der westlichen Politik
gegenüber der Sowjetunion vor 1989 orientierte sich noch in erster Linie am Status
quo und am Ziel der Koexistenz. Nach 1990 lautete das Ziel hingegen, der Sowjetunion bzw. Russland „bei der Festigung der Demokratie, der Gewährleistung der
Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie beim Übergang zur Sozialen
Marktwirtschaft“ aktive Unterstützung zukommenzulassen.258 Das gleiche galt im
wehr am 13. Juni 1990,“ in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1990(76), S.653-57.
253 Vgl. Forndran, Herausforderungen und Chancen europäischer Sicherheit nach der Auflösung der Sowjetunion, S.48.
254 Wegener, Die Rolle des Atlantischen Bündnisses in einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung, S.160.
255 Stoltenberg, Deutsche Einheit und europäische Sicherheit.
256 Vgl. hierzu beispielsweise die Bemerkung Stoltenbergs, der die feste institutionelle Einbindung Deutschlands im wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bereich als „unerlässliche[n] Stabilitätsfaktor“ bezeichnete, „den Europa gerade auch in seiner Mitte braucht.“
Stoltenberg, Gerhard und Genscher, Hans-Dietrich (19.2.1990), „Sicherheitspolitische Fragen eines künftigen geeinten Deutschland. Gemeinsame Erklärung des Bundesministers des
Auswärtigen und des Bundesministers der Verteidigung am 19. Februar 1990,“ in: Bulletin
des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung 1990(28).
257 Vgl. Asmus, Ronald D.; Kugler, Richard und Larrabee, Stephen F. (1993), „Building a
New NATO,“ in: Foreign Affairs 72(6), S.28-40, hier: S.32.
258 Kohl, Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 30. Januar 1991 vor dem Deutschen
Bundestag.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.