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3.2 Akteursspezifische Bestimmungsfaktoren des Funktionsverständnisses
3.2.1 Perzeptionen der Sicherheits- und Einflussinteressen
Der Institutionalismus bezieht akteursspezifische Interessenwahrnehmungen nicht
systematisch in die Analyse mit ein.196 Er kann dementsprechend die außenpolitischen Handlungsstrategien und Entscheidungen einzelner Staaten nicht vollständig
erklären. Die Vorstellungen davon, wie die Sicherheits- und Einflussinteressen jeweils zu definieren sind, wodurch sie im konkreten Handlungskontext berührt werden und wie sie am besten geschützt werden können variieren zwischen den Akteuren. Konzepte wie Sicherheit, Wohlfahrt und Einfluss müssen im politischen Prozess
erst mit konkreten Inhalten und Bedeutungen versehen werden.197
Die Außenpolitikforschung hat seit Beginn der 1960er Jahre eine Vielzahl von
materiellen und ideellen Faktoren identifiziert, die Einfluss auf die akteursspezifischen Interessenwahrnehmungen haben. Diese Faktoren können sich auf die Ebene
der individuellen Entscheidungsträger, der Entscheidungsgruppen bzw. Bürokratien
sowie auf die gesamte nationale oder sogar internationale Gesellschaft beziehen.
Hinsichtlich der materiellen innenpolitischen Faktoren konzentrieren sich die
empirischen Kapitel dieser Arbeit auf die Analyse der bürokratischen Politik. Diese
insbesondere von Graham T. Allison entwickelte Perspektive eignet sich gut als
innenpolitische Erweiterung des funktionalen Institutionalismus, wie im Folgenden
zu zeigen sein wird. So teilen beide Perspektiven nicht nur wesentliche Grundannahmen, beispielsweise hinsichtlich der Staatszentriertheit der Analyse, sondern
auch die institutionalistische Sichtweise auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Der
Ansatz der bürokratischen Politik ermöglicht die systematische Analyse der Interessenwahrnehmungen der politisch-administrativen Akteure im sicherheitspolitischen
Entscheidungsprozess.
3.2.2 Die Analyse der bürokratischen Politik
Ausgangspunkt des Ansatzes der bürokratischen Politik ist die Annahme, dass Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Regierungsakteuren das außen- und sicherheitspolitische Handeln eines Staates beeinflussen.198 Der Staat wird demnach nicht
als ein monolithisches Gebilde betrachtet, sondern als ein Konglomerat von Vertretern verschiedener Bürokratien. Dabei werden die Interessen individueller Entschei-
196 Vgl. Schimmelfennig, The EU, NATO and the Integration of Europe, S.19; Risse-Kappen,
Thomas (1995), „Reden ist nicht billig. Zur Debatte um Kommunikation und Rationalität,“
in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2(1), S.171-84, hier: S.176.
197 Vgl. Adler, Seizing the Middle Ground, S.337.
198 Vgl. Allison und Zelikow, Essence of Decision, S.295. Vgl. auch Schneider, Gerald (1997),
„Die bürokratische Politik der Außenpolitikanalyse,“ in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4(1), S.107-23, hier: S.110.
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References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.