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Konfliktregulierung zwischen den Verbündeten sind weitere wesentliche Merkmale
einer SMI.
Dabei ist die Multifunktionalität von Sicherheitsinstitutionen kein Phänomen, das
auf die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges beschränkt ist. In einer historischen
Studie zu den Allianzen in der internationalen Ordnung Europas zwischen 1815 und
1945 kommt Paul Schröder zu dem Schluss, dass Multifunktionalität auch historisch
eine wesentliche Grundvoraussetzung für den Erfolg und die Stabilität militärischer
Allianzen war: „[F]unctionally, alliances serve many diverse purposes and are best
considered as general tools for management and control in international affairs.“183
Auch in der NATO des Kalten Krieges war diese interne Funktion von gleichrangiger Bedeutung wie etwa die gemeinsame Abschreckung eines sowjetischen Angriffs. So kam der gegenseitigen Versicherung – durch eine integrierte Militärstruktur, gemeinsame Streitkräfteplanung und -kontrolle und durch die substantielle amerikanische Präsenz in Europa – eine zentrale Bedeutung zu. Sie wirkte dem
Sicherheitsdilemma innerhalb Europas entgegen, das insbesondere durch die Wiederbewaffnung und später durch die Vereinigung Deutschlands zu entstehen drohte.184 Auch aus Sicht der Bundesrepublik war diese allgemeine Funktion essentiell.
Sie bot eine Lösung des „deutschen Problems“ und ermöglichte es Bonn somit,
schrittweise die deutsche Souveränität und Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen:185
„NATO makes German power controlable and thus acceptable to allies and political
adversaries alike. Germany outside NATO would raise international concerns.“186
Die Bedeutung des Informationsaustauschs, der gegenseitigen Konsultationen und
der Bereitstellung erprobter kollektiver Entscheidungsregeln nahm in der politisch
und strategisch unklaren Situation nach dem Fall der Berliner Mauer noch zu.187
3.1.5 Sicherheits- und Einflussinteressen in der institutionellen Kooperation
Institutionelle Funktionen dienen den Mitgliedstaaten dazu, ihre Sicherheits- und
Einflussinteressen zu verfolgen. Die spezifisch-militärische, nach außen gerichtete
Funktion ermöglicht es den Mitgliedstaaten, ihre Sicherheit durch die Bündelung
militärischer Fähigkeiten gegenüber äußeren Risiken und Bedrohungen zu erhöhen.
Dafür schafft die spezifisch-militärische, nach innen gerichtete Funktion durch die
Herstellung von Interoperabilität der nationalen Streitkräfte die Voraussetzungen.
183 Schroeder, Paul W. (1976), „Alliances, 1815-1945: Weapons of Power and Tools of Management,“ in: Knorr, Klaus (Hrsg.), Historical Dimensions of National Security Problems,
Lawrence u.a., The University Press of Kansas, S.227-62, hier: S.255.
184 Vgl. Duffield, NATO's Functions After the Cold War, S.773.
185 Duffield, Explaining the Long Peace in Europe, S.387. Der Autor betrachtet die NATO als
einen institutionellen Rahmen, in dem verschiedene Sicherheitsregime zusammengefasst
sind, so der Nordatlantikvertrag (mit Artikel 5 zur kollektiven Verteidigung), der integrierten Militärstruktur und dem gemeinsamen Streitkräfteplanungsprozess.
186 Christoph Bertram, zitiert nach: Duffield, NATO's Functions After the Cold War, S.774.
187 Vgl. Duffield, Explaining the Long Peace in Europe, S.388.
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Auch die politischen Funktionen sollen letztlich zur Abwehr von Entwicklungen
beitragen, die auf längere Sicht die Sicherheit gefährden können.
Sicherheit und Einfluss stehen in einem engen Verhältnis zueinander, sie sind jedoch nicht identisch. So kann die Möglichkeit der Einflussnahme ein wichtiger Beitrag zur Sicherheitswahrung sein (Sicherheit durch Einfluss). Auch der funktionale
Institutionalismus unterstellt, dass Sicherheit das erstrangige Interesse staatlicher
Politik ist. Ohne die Gewährleistung von Sicherheit wäre auch die Schaffung von
Einflussmöglichkeiten sinnlos. Umgekehrt kann Einflusswahrung oder Einflussteigerung auch dann ein eigenständiges Handlungsmotiv sein, wenn sich der Akteur
keiner konkreten Sicherheitsbedrohung ausgesetzt sieht. Demnach liegt es im Eigeninteresse der Staaten, mittels institutionalisierter Zusammenarbeit gegenseitige Verpflichtungen einzugehen, da sich somit auch das Verhalten der anderen Staaten
beeinflussen lässt.188 Diese Einflussmöglichkeiten auf andere Mitglieder sind vor
allem mit der allgemeinen Funktion institutioneller Kooperation verbunden.
Die institutionalistische Perspektive blendet die Verteilung von Macht und materiellen Ressourcen im internationalen Umfeld nicht aus. Anders als beim Neorealismus werden internationale Institutionen jedoch als ein intervenierender Faktor begriffen, der die Wirkung materieller Machtelemente teilweise einebnet. Aus dieser
Sichtweise profitieren gerade kleinere Mitgliedstaaten überproportional von den
Einflussmöglichkeiten, die ihnen nur innerhalb institutionalisierter Zusammenhänge
zur Verfügung stehen. So erklärt beispielsweise Robert Keohane den „großen Einfluss der kleinen Verbündeten“ auf die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik
während des Kalten Krieges mit der Globalstrategie sowie mit dem offenen, demokratischen Regierungssystem der USA.189 Darüber hinaus spielt eine wesentliche
Rolle, dass internationale Institutionen von kleineren Mitgliedstaaten als Foren der
Verknüpfung verschiedener Sachfragen instrumentalisiert werden können: „[institutions] help set the international agenda, and act as catalysts for coalition-formation
and as arenas for political initiatives and linkage by weak states“.190 Die Geschichte
der NATO während der Zeit der Blockkonfrontation belegt, dass die kleinen und
mittleren Verbündeten (dazu zählt auch die Bundesrepublik Deutschland) Einfluss
auf die Außen- und Bündnispolitik der USA nehmen konnten.191 Dies trifft nicht
zuletzt auch auf den besonders sensiblen Bereich der nuklearen Mitbestimmung
zu.192
188 Vgl. Wallander und Keohane, Risk, Threat, and Security Institutions, S.30.
189 Keohane, Robert (1971), „The Big Influence of Small Allies,“ in: Foreign Policy 2(2),
S.161-82, hier: S.162. Zwar untersucht der Autor in diesem Zusammenhang lediglich Allianzen außerhalb Europas. Dennoch spielen auch hier internationale Institutionen eine wichtige Rolle in Bezug auf Einflusspolitik, da sie die Zusammenarbeit der kleineren Verbündeten untereinander erleichtern.
190 Keohane und Nye, Power and Interdependence (3. Auflage), S.30.
191 Vgl. Haftendorn, Gulliver in der Mitte Europas; Wallander und Keohane, Risk, Threat, and
Security Institutions, S.42.
192 Vgl. Risse-Kappen, Cooperation Among Democracies, S.203. Der Autor führt die Ergebnisse seiner Arbeit jedoch nicht auf funktionale, interessenbasierte Faktoren zurück. Viel-
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Aus dieser Perspektive hat auch die deutsche Politik jene Arenen der Einflussnahme genutzt, die ihr die Institution NATO zur Verfügung stellte und die sie im
Kontext rein bilateraler Beziehungen nicht haben würde. Mitglieder einer Institution
streben die Steigerung dieser multilateralen Form des Einflusses beispielsweise
durch die Erhöhung der Stimmenanteile in den Entscheidungsgremien, durch die
Besetzung wichtiger Posten mit Beamten aus der eigenen nationalen Verwaltung
und durch die Übernahme wichtiger Führungsfunktionen in den multinationalen
Militäroperationen an.
Vor diesem Hintergrund stellt sich allerdings die Frage, warum sich die mächtigeren Staaten freiwillig in dauerhafte institutionelle Arrangements einbinden lassen.
Eine nahe liegende Antwort lautet, dass auch der Hegemon nicht willens oder in der
Lage ist, ein öffentliches Gut alleine bereit zu stellen bzw. die negativen Konsequenzen des Verhaltens der anderen Staaten alleine zu absorbieren. Die Mehrzahl
der Fragestellungen in der internationalen Politik hat heute eine zumeist globale
Reichweite. Ihre Bearbeitung bzw. Lösung erfordert daher globale Anstrengungen,
die nicht einmal die Hegemonialmacht alleine vollbringen kann.
Darüber hinaus haben funktionale Institutionalisten auch Anleihen bei der Theorie der Hegemonialen Stabilität genommen, wonach ein Hegemon die Kosten zum
Aufbau institutioneller Strukturen trägt, da er diese als ein Instrument betrachtet, um
seinen Machtvorsprung zu legitimieren und gleichzeitig in die Zukunft hinein festzuschreiben. Aus diesem Grund ist er dazu bereit, den kleineren Staaten Mitsprachemöglichkeiten einzuräumen.193 Nach Auffassung von G. John Ikenberry basierte
die atlantische Ordnung, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter anderem
mit der Gründung der NATO geschaffen wurde, auf einem solchen grundlegenden
Handel (constitutional bargain) zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten. Demnach waren die USA bereit, ihre Macht durch multilaterale Institutionen
einhegen zu lassen und den Europäern entsprechende Einflussmöglichkeiten einzuräumen. Im Gegenzug akzeptierten die Europäer dauerhaft den Führungsanspruch
Washingtons in allen relevanten sicherheitspolitischen Bereichen.194 Damit eröffneten sich auch für die USA Möglichkeiten, die Außen- und Sicherheitspolitiken der
europäischen Verbündeten zu beeinflussen.195
mehr konzeptionalisiert er die NATO als eine Wertegemeinschaft bzw. eine Sicherheitsgemeinschaft im Sinne Karl W. Deutschs, die den europäischen Verbündeten – verstärkt
durch transgouvernementale und transnationale Koalitionen – normativ begründete Mitsprachemöglichkeiten schuf.
193 Vgl. beispielsweise Keck, Der Neue Institutionalismus in der Theorie der Internationalen
Beziehungen, S.644 sowie Martin, Interests, power, and multilateralism, S.784.
194 Vgl. Ikenberry, G. John (1998/1999), „Institutions, Strategic Restraint, and the Persistence
of American Postwar Order,“ in: International Security 23(3), S.43-78, hier: S.46.
195 Vgl. Duffield, NATO's Functions After the Cold War, S.785.
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3.2 Akteursspezifische Bestimmungsfaktoren des Funktionsverständnisses
3.2.1 Perzeptionen der Sicherheits- und Einflussinteressen
Der Institutionalismus bezieht akteursspezifische Interessenwahrnehmungen nicht
systematisch in die Analyse mit ein.196 Er kann dementsprechend die außenpolitischen Handlungsstrategien und Entscheidungen einzelner Staaten nicht vollständig
erklären. Die Vorstellungen davon, wie die Sicherheits- und Einflussinteressen jeweils zu definieren sind, wodurch sie im konkreten Handlungskontext berührt werden und wie sie am besten geschützt werden können variieren zwischen den Akteuren. Konzepte wie Sicherheit, Wohlfahrt und Einfluss müssen im politischen Prozess
erst mit konkreten Inhalten und Bedeutungen versehen werden.197
Die Außenpolitikforschung hat seit Beginn der 1960er Jahre eine Vielzahl von
materiellen und ideellen Faktoren identifiziert, die Einfluss auf die akteursspezifischen Interessenwahrnehmungen haben. Diese Faktoren können sich auf die Ebene
der individuellen Entscheidungsträger, der Entscheidungsgruppen bzw. Bürokratien
sowie auf die gesamte nationale oder sogar internationale Gesellschaft beziehen.
Hinsichtlich der materiellen innenpolitischen Faktoren konzentrieren sich die
empirischen Kapitel dieser Arbeit auf die Analyse der bürokratischen Politik. Diese
insbesondere von Graham T. Allison entwickelte Perspektive eignet sich gut als
innenpolitische Erweiterung des funktionalen Institutionalismus, wie im Folgenden
zu zeigen sein wird. So teilen beide Perspektiven nicht nur wesentliche Grundannahmen, beispielsweise hinsichtlich der Staatszentriertheit der Analyse, sondern
auch die institutionalistische Sichtweise auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Der
Ansatz der bürokratischen Politik ermöglicht die systematische Analyse der Interessenwahrnehmungen der politisch-administrativen Akteure im sicherheitspolitischen
Entscheidungsprozess.
3.2.2 Die Analyse der bürokratischen Politik
Ausgangspunkt des Ansatzes der bürokratischen Politik ist die Annahme, dass Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Regierungsakteuren das außen- und sicherheitspolitische Handeln eines Staates beeinflussen.198 Der Staat wird demnach nicht
als ein monolithisches Gebilde betrachtet, sondern als ein Konglomerat von Vertretern verschiedener Bürokratien. Dabei werden die Interessen individueller Entschei-
196 Vgl. Schimmelfennig, The EU, NATO and the Integration of Europe, S.19; Risse-Kappen,
Thomas (1995), „Reden ist nicht billig. Zur Debatte um Kommunikation und Rationalität,“
in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2(1), S.171-84, hier: S.176.
197 Vgl. Adler, Seizing the Middle Ground, S.337.
198 Vgl. Allison und Zelikow, Essence of Decision, S.295. Vgl. auch Schneider, Gerald (1997),
„Die bürokratische Politik der Außenpolitikanalyse,“ in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4(1), S.107-23, hier: S.110.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.