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steht also das Ziel, die Interessenwahrnehmungen und Funktionsverständnisse der
relevanten sicherheitspolitischen Akteure in Deutschland zu analysieren und in Bezug zum Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik zu setzen. Der Ansatz der
bürokratischen Politik eignet sich aufgrund gemeinsamer theoretischer Prämissen
gut als innenpolitische Erweiterung der institutionalistischen Analyse.
3.1.2 Definition und Bedeutung internationaler Institutionen
Institutionen sind der Oberbegriff für weitere zusammenhängende Konzepte, wie
internationale Regime, internationale Organisationen und Konventionen. Es handelt
sich dabei um dauerhafte Systeme von Regeln, die den Akteuren (in der Regel Staaten) bestimmte Rollen zuweisen, ihren außenpolitischen Spielraum einschränken
und dadurch bei anderen Akteuren Verhaltenserwartungen wecken.148
Der gemeinsame Nenner institutionalistischer Ansätze lässt sich mit der Formel
„institutions matter“ zusammenfassen. Damit ist in erster Linie gemeint, dass institutionelle Strukturen einen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse politischer Prozesse haben und in diesem Sinne auch über eine „gewisse Widerständigkeit gegen-
über den agierenden Individuen und Gruppen“ verfügen.149 Sie legen den einzelnen
Akteuren – in der Regel Staaten – Handlungsbeschränkungen auf, eröffnen ihnen
jedoch gleichzeitig auch neue Handlungsoptionen, die ohne Institutionen nicht existieren würden.
Die Annahme interdependenter Beziehungen zwischen den Akteuren ist der Ausgangspunkt des funktionalen Institutionalismus. Die Interdependenzen veranlassen
die Staaten erst dazu, im Rahmen von Institutionen miteinander zu kooperieren.
Interdependenz „in world politics refers to situations characterized by reciprocal
effects among countries or among actors in different countries”.150 Interdependente
Beziehungen unterscheiden sich von anderen Beziehungen oder einfachen Interaktionen dadurch, dass sie mit Kosten verbunden sind – entweder in Form von nicht
realisierten gemeinsamen Gewinnen oder in Form von gemeinsamen Kosten. Sie
bedeuten somit vor allem gegenseitige Abhängigkeiten. Handlungen oder ein Politikwechsel eines Akteurs haben positive oder negative Wirkungen auf einen anderen
Akteur, ohne dass dieser unmittelbaren Einfluss darauf hat. Interdependente Bezie-
148 Institutionen sind „persistent and connected sets of rules (formal and informal) that prescribe behavioral roles, constrain activity, and shape expectations“. Keohane, Robert (1989),
International Institutions and State Power: Essays in International Theory, Boulder,
Westview Press, S.3. Für eine ähnliche, wenn auch abstraktere Definition vgl. Rittberger,
Internationale Organisationen - Politik und Geschichte, S.24-25.
149 Keck, Otto (1991), „Der Neue Institutionalismus in der Theorie der Internationalen Beziehungen,“ in: Politische Vierteljahresschrift 32(4), S.635-53, hier: S.637.
150 Keohane und Nye, Power and Interdependence (3. Auflage).
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hungen sind somit stets in einen Handlungskontext eingebettet, der sich durch eine
spezifische Dichte und Dauerhaftigkeit internationaler Problemlagen auszeichnet.151
Diese Interdependenzen und Problemlagen erzeugen eine bestimmte Nachfrage
nach institutionellen Funktionen seitens der beteiligten Akteure. Dabei haben die
Vertreter des funktionalen Institutionalismus die Überwindung so genannter kollektiver Handlungsdilemmata in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt. Solche Dilemmata entstehen, wenn das unregulierte Verhalten der einzelnen Akteure insgesamt für alle Akteure sub-optimale Ergebnisse hervorbringt. 152 Institutionen ermöglichen es, die Zusammenarbeit derart zu gestalten, dass letztlich alle Beteiligten aus
ihr einen größeren Nutzen ziehen. Dies schließt die effektivere Bearbeitung gemeinsamer Herausforderungen, seien es Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung oder
militärische Risiken, mit ein.
Im Bereich des ökonomischen Ressourcenmanagements verdeutlicht die Tragedy
of the Commons diese Zusammenhänge anschaulich.153 Danach stehen Akteure, die
eine begrenzte Ressource gemeinsam nutzen, in einer interdependenten Beziehung
zueinander. Es kann sich beispielsweise um ein bestimmtes Territorium für die Nutzung als Weidegrund oder um ein bestimmtes maritimes Gebiet für den Fischfang
handeln. Wenn alle Beteiligten unreguliert die begrenzte Ressource nutzen, führt
dies bald zu sinkenden Erträgen für alle Marktteilnehmer durch Überweidung bzw.
Überfischung. Daraus resultiert ein Bedarf an institutionellen Funktionen (Einrichtung von Fangquoten, Begrenzung des Zugangs für bestimmte Marktteilnehmer,
Überprüfung des Verhaltens der anderen Marktteilnehmer usw.), was wiederum zur
Einrichtung spezifischer Institutionen führen wird (Schaffung konkreter Kommissionen, Veröffentlichung neuer Gesetze, Einrichtung eines Sekretariats usw.). Auch
im Bereich der Sicherheitspolitik konnte gezeigt werden, dass beispielsweise die
Nordatlantische Allianz in ihrer über 50jährigen Geschichte in Situationen kollektiver Handlungsprobleme ihre Wirkung entfaltete und sicherheitspolitische Kooperation ihrer Mitgliedstaaten überhaupt erst ermöglichte.154
151 Vgl. Wallander, Celeste A. und Keohane, Robert O. (1999), „Risk, Threat, and Security
Institutions,“ in: Wallander, Celeste A.; Keohane, Robert O. und Haftendorn, Helga
(Hrsg.), Imperfect Unions: Security Institutions Over Time and Space, Oxford, Oxford
University Press, S.21-47, hier: S.31.
152 Vgl. Hall, Peter A. und Taylor, Rosemary C.R. (1996), Political Science and the Three New
Institutionalisms, Diskussionspapier, 96(6), Köln, Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung.
153 Vgl. Hardin, Garrett (2005), „The Tragedy of the Commons,“ in: Art, Robert J. und Jervis,
Robert (Hrsg.), International Politics: Enduring Concepts and Contemporary Issues, New
York, Longman, S.525-30; Hardin, Garrett (1968), „The Tragedy of the Commons,“ in:
Science 162(3859), S.1243-48.
154 Vgl. für die Zeit vor dem Ende des Ost-West-Konflikts Haftendorn, Helga (1994), Kernwaffen und die Glaubwürdigkeit der Allianz: Die NATO-Krise von 1966/67, Baden-Baden,
Nomos; Tuschhoff, Alliance Cohesion and Peaceful Change in NATO; Tuschhoff,
Deutschland, Kernwaffen und die NATO 1949-1967. Zum Zusammenhalt und friedlichen
Wandel von Bündnissen. Für die Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts siehe Theiler,
Olaf (1997), „Der Wandel der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts,“ in: Haften-
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Die Theorie nimmt eine systemische „Vogelperspektive“ ein, d.h. sie beleuchtet
in erster Linie die Wirkung von internationalen Institutionen auf das außenpolitische
Verhalten der Akteure sowie die Frage, wie und wann internationale Institutionen
entstehen und sich wandeln. Die vorliegende Arbeit überträgt diesen Rahmen auf die
„Froschperspektive“ des Akteurs Bundesrepublik Deutschland. Daher wird in der
empirischen Analyse untersucht, wie sich der internationale Handlungskontext und
die bestehenden Interdependenzen aus Sicht der relevanten deutschen Akteure darstellten bzw. veränderten, welche funktionale Nachfrage nach institutioneller Kooperation daraus abgeleitet und schließlich in konkrete institutionelle Initiativen
übersetzt wurde.
3.1.3 Prämissen des funktionalen Institutionalismus
Ebenso wie der Neorealismus geht der Institutionalismus von der Anarchie in der
internationalen Staatenwelt aus. Diese führt dazu, dass bestehende Konflikte nicht
durch eine übergeordnete Instanz mit einem legitimen Gewaltmonopol bearbeitet
werden können. Den beiden Theorien liegt die Annahme zugrunde, dass Staaten
rational auf der Basis gegebener Interessen und Präferenzen handeln.155 Rationalismus wird dabei definiert als „a meta-theoretical tenet which portrays states as selfinterested, goal-seeking actors whose behavior can be accounted for in terms of the
maximization of individual utility (where the relevant individuals are states)”.156 Die
Mehrzahl der Arbeiten innerhalb dieser Forschungsrichtung geht darüber hinaus von
einer umfassenden Rationalität aus, die sowohl Zweck- wie auch Zielrationalität
einschließt. Demnach verfolgen Staaten ihre Ziele nicht nur rational „with the madorn, Helga und Keck, Otto (Hrsg.), Kooperation jenseits von Hegemonie und Bedrohung.
Sicherheitsinstitutionen in den internationalen Beziehungen, Baden-Baden, Nomos, S.101-
37; Theiler, Die NATO im Umbruch. Bündnisreform im Spannungsfeld konkurrierender
Nationalinteressen.
155 Außenpolitische Präferenzen können in der rationalistischen Sichtweise definiert werden
als „a set of underlying national objectives independent of any particular international negotiation to expand exports, to enhance security vis-a-vis a particular threat, or to realize
some ideational goal.” Moravcsik, Andrew (1998), The Choice for Europe. Social Purpose
& State Power from Messina to Maastricht, Ithaca, New York, Cornell University Press,
S.20.
156 Hasenclever, Andreas; Mayer, Peter und Rittberger, Volker (1997), Theories of International Regimes, Cambridge, Cambridge University Press, S.23. Zangl und Zürn definieren
rationales Handeln so, „dass soziale Akteure (a) über eine gegebene und wahrgenommene
Menge von Verhaltensoptionen verfügen, (b) die Konsequenzen der verschiedenen Verhaltensoptionen abschätzen, (c) die verschiedenen Verhaltensoptionen gemäß ihrer erwarteten
Konsequenzen in eine Reihenfolge der Wünschbarkeit bringen [und] (d) die Verhaltensoption wählen, die ihre Nutzenerwartung befriedigt.“ Zangl, Bernhard und Zürn, Michael
(1994), „Theorien des rationalen Handelns in den Internationalen Beziehungen,“ in: Kunz,
Volker und Druwe, Ulrich (Hrsg.), Rational Choice in der Politikwissenschaft. Grundlagen
und Anwendung, Opladen, Leske und Budrich, S.81-111, hier: S.81.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.