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lismus. In beiden Ansätzen werden Institutionen als Instrumente der Akteure zur
Realisierung politischer Ziele begriffen.37
Eine wichtige Ergänzung ist jedoch zu machen: Anders als beispielsweise in den
USA agieren deutsche Regierungsakteure nicht in einem Umfeld von starken und
autonomen Sicherheitsbürokratien. Vielmehr ist das politische System Deutschlands
durch eine Verflechtung der bürokratischen und parteipolitischen Interessen gekennzeichnet. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit neben den außenund sicherheitspolitischen Grundsatzreden des Bundeskanzlers sowie des Außenund Verteidigungsministers auch Bundestagsdebatten im Vorfeld oder im Nachgang
wichtiger NATO-Entscheidungen berücksichtigt.
1.3 Methodik
Das Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit entspricht einer theoriegeleiteten
Einzelfallstudie (single case study).38 Sie analysiert einerseits die deutsche Sicherheitspolitik als einen spezifischen Fall nationalstaatlicher Bündnispolitiken und
andererseits die NATO als einen spezifischen institutionellen Kontext der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik. Die Auswahl dieses Falles erfolgte auf Grundlage
eines theoretischen, empirischen und eines normativen Interesses. Auf die empirische und die theoretische Relevanz wurde bereits hingewiesen.
Das normative Interesse liegt in der Frage nach „guter“ Sicherheitspolitik. Der
normative Maßstab dieser Arbeit geht davon aus, dass die effektive Verfolgung von
Sicherheits- und Einflussinteressen in Sicherheitsinstitutionen zentrale Grundvoraussetzung für eine gute Sicherheitspolitik ist. Nur wer sich seiner eigenen Interessen bewusst ist, kann strategische Ziele verfolgen, angesichts knapper Ressourcen
Prioritäten richtig setzen und letztlich ein guter Kooperationspartner sein. Reflexiver
Multilateralismus, verstanden als die nicht hinterfragte Zusammenarbeit im Rahmen
von Institutionen als Selbstzweck, wäre dagegen nach diesem Maßstab kein guter
Leitfaden von Sicherheitspolitik. Umgekehrt müssen auch Sicherheitsinstitutionen
der ständigen Überprüfung der Interessen ihrer Mitgliedstaaten standhalten können,
denn andernfalls sind sie zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Der kurze historische
37 Thilo Bodenstein spricht treffend von „Allisons institutionalistische[m] Erbe der Politik“.
Bodenstein, Thilo (2001), „Vetospieler in Krisenentscheidungen. Eine Analyse der Entscheidungsprozesse zum Afghanistan- und Tschetschenienkonflikt,“ in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 8(1), S.41-72, hier: S.41.
38 Zur Methodologie der qualitativen Einzelfallstudie vgl. Lamnek, Siegfried (2005), Qualitative Sozialforschung (4. Auflage), Weinheim und Basel, Beltz Verlag, S.328. Vgl. auch
Eckstein, Harry (1975), „Case Study and Theory in Political Science,“ in: Greenstein, Fred
I. und Polsby, Nelson W. (Hrsg.), Strategies of Inquiry (Handbook of Political Science
Volume 7), Reading MA u.a., Addison-Wesley, S.79-137. Arend Lijphart hat diese Art der
Fallstudie auch als „interpretative case study“ bezeichnet. Lijphart, Arend (1971), „Comparative Politics and the Comparative Method,“ in: American Political Science Review 65(3),
S.682-93, hier: S.692.
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Abriss im nächsten Kapitel wird verdeutlichen, dass Sicherheit und Einflussnahme
bereits zentrale und eng miteinander verbundene Motive der deutschen NATO-
Politik vor 1990 waren. Diese Perspektive stellt nicht in Abrede, dass die Perzeption
von Interessen auch stark von normativen Faktoren beeinflusst wird.
Im Rahmen ihres Forschungsdesigns bedient sich die Arbeit der Methode der
Entscheidungsprozessanalyse (process tracing), um die deutsche Politik in der
NATO seit dem Ende des Kalten Krieges zu analysieren.39 „Process tracing will […]
involve searching for evidence – evidence consistent with the overall causal theory –
about the decisional process by which the outcome was produced.“40
Jedes der drei empirischen Kapitel untersucht die internationalen Ereignisse (das
Ende des Kalten Krieges, die Jugoslawienkrise, die Terroranschläge in den USA
vom 11. September 2001), die zu bestimmten Reaktionen der Allianz und ihrer Mitgliedstaaten geführt haben und somit einen entsprechenden Anpassungsdruck auf
die allgemeine und die spezifischen Funktionen der NATO auslösten. Diese Veränderungen zwangen schließlich auch die deutsche Sicherheitspolitik dazu, ihre Vorstellungen über die Funktionen der NATO neu zu bestimmen und daraus entsprechende Positionen und Initiativen gegenüber dem Transformationsprozess der Allianz abzuleiten.
Charakteristisch für die Methode der Entscheidungsprozessanalyse ist die detaillierte und kontinuierliche Darstellung des Falls.41 In dieser Hinsicht ähnelt die Analyse diplomatiegeschichtlichen Arbeiten. Anders als historische Arbeiten, bei denen
die Ereignisse an sich als einzigartig betrachtet werden (milieu et moment), strebt die
vorliegende politikwissenschaftliche Studie jedoch nach der theoriegeleiteten Identifizierung allgemeiner Handlungsmuster der deutschen Sicherheitspolitik. Dabei geht
es nicht zuletzt darum, Bedingungen und Grenzen des deutschen sicherheitspolitischen Gestaltungswillens zu identifizieren.
Bei der Analyse ist die Unterscheidung zwischen Krisen- und Planungsentscheidungen wichtig. Krisenentscheidungen sind solche Entscheidungen, die zum einen
reaktiv auf eine sich entwickelnde außen- und sicherheitspolitische Krise getroffen
werden und die zum anderen auch nur für diese konkrete Situation unmittelbar gelten sollen. Planungsentscheidungen hingegen haben einen längerfristigen Charakter,
beziehen sich in aller Regel auf institutionelle Neuerungen und sollen daher über
den konkreten Einzelfall hinaus dazu dienen, künftige Probleme zu lösen. Auf diese
Unterscheidung hat beispielsweise Enzo Cannizzarro im Zusammenhang mit dem
39 Zur Methode des Process Tracing vgl. van Evera, Stephen (1997), Guide to Methods for
Students of Political Science, Ithaca und London, Cornell University Press, S.64; Bennett,
Andrew (2004), „Case Study Methods: Design, Use, and Comparative Advantages,“ in:
Sprinz, Detlef und Wolinsky-Nahmias, Yael (Hrsg.), Models, Numbers, Cases. Methods for
Studying International Relations, Ann Arbor, University of Michigan Press, S.19-55, hier:
S.36 sowie George, Alexander L. und Bennett, Andrew (2004), Case Studies and Theory
Development in the Social Sciences, Cambridge und London, MIT Press, S.206.
40 King, Gary; Keohane, Robert O. und Verba, Sidney (1994), Designing Social Inquiry,
Princeton, Princeton University Press, S.227.
41 Vgl. Bennett, Case Study Methods, S.36.
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neuen Strategischen Konzept der Allianz von 1999 hingewiesen: „There is a profound conceptual difference between a single behaviour, which could be occasional
in nature, and a document that establishes on a general plan the conditions under
which such conduct may be undertaken.“42
Der Zusammenhang zwischen Krisen- und Planungsentscheidungen ist wichtig,
um den NATO-Transformationsprozess in allen drei in dieser Arbeit untersuchten
Bereichen richtig beurteilen zu können, denn dieser Prozess ist nicht ausschließlich,
oder auch nur vorwiegend, am Reißbrett abgelaufen. Spätere Planungsentscheidungen lassen sich häufig ohne Berücksichtigung der vorausgegangenen Krisenentscheidungen nicht richtig nachvollziehen.43 Die Analyse der deutschen NATO-
Politik muss daher sowohl unmittelbare Reaktionen auf sicherheitspolitische Ereignisse und Krisen als auch Planungsentscheidungen berücksichtigen, wie sie sich in
den institutionellen Neurungen der Allianz widergespiegelt haben.
1.4 Empirischer Aufbau des Buches
Die Transformation der Allianz nach dem Ende des Kalten Krieges im Untersuchungszeitraum umfasst zwei Osterweiterungen sowie die Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts. Hinzu kommen
die Reform der Militär- und Kommandostrukturen, die „Europäisierung“ bzw. Stärkung des europäischen Pfeilers im Bündnis sowie das Krisenmanagement außerhalb
des NATO-Vertragsgebiets (out-of-area). Seit dem 11. September 2001 zählt
schließlich die funktionale und geographische Ausweitung multinationaler militärischer Interventionsfähigkeiten zu den zentralen Themen der Transformationsagenda.
Die Gliederung der Arbeit richtet sich nach diesen zentralen Funktionen der NATO
nach 1990, um einen systematischen Vergleich der deutschen Politik im Transformationsprozess der Allianz über die verschiedenen Bereiche hinweg zu ermöglichen.
Im Rahmen dieser Arbeit ist es allerdings nicht möglich, die volle Bandbreite der
deutschen NATO-Politik zu behandeln. Sie konzentriert sich daher auf die so ge-
42 Cannizzaro, Enzo (2001), „NATO's New Strategic Concept and the Evolving Legal Regulation of the Use of Force,“ in: International Spectator 36(1), S.67-74, hier: S.72. Für eine
konzeptionellere Diskussion vgl. Haftendorn, Helga (1990), „Zur Theorie außenpolitischer
Entscheidungsprozesse,“ in: Rittberger, Volker (Hrsg.), Sonderband Politische Vierteljahresschrift, S.401-23, hier: S.403-04.
43 Nach Auffassung von Michael Rühle hat sich der Wandel der NATO sogar „überwiegend
auf dem Wege der Improvisation“ vollzogen. Rühle, Michael (2000), „Das neue Strategische Konzept der NATO und die politische Realität,“ in: Reiter, Erich (Hrsg.), Jahrbuch für
internationale Sicherheitspolitik 2000, Hamburg u.a., Verlag E.S. Mittler & Sohn, S.637-
54, hier: S.639. Vgl. auch Pradetto, August (2002), „Funktionen militärischer Konfliktregelung durch die NATO,“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte B24, S.12-21, hier: S.12.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.