27
1.2 Untersuchungsrahmen
Zunächst geht es darum, die zentralen Begriffe der Fragestellung zu erläutern: den
sicherheitspolitischen Gestaltungswillen sowie die Sicherheits- und Einflussinteressen vor dem Hintergrund des institutionalistischen Analyserahmens. Der Gestaltungswille setzt den Einsatz von politischem, diplomatischem, finanziellem und/oder
militärischem Kapital voraus. Zur Beschreibung der verschiedenen Ausprägungen
des Gestaltungswillens wird auf die von Rob de Wijk vorgenommene Unterscheidung zweier idealtypischer Gruppen in Bezug auf den NATO-Transformationsprozess zurückgegriffen. De Wijk unterscheidet zwischen „Traditionalisten“
bzw. am Status quo orientierten Akteuren einerseits und „Aktivisten“ bzw. transformationsorientierten Akteuren andererseits.27 Darauf aufbauend werden in diesem
Buch fünf Ausprägungen des Gestaltungswillens unterschieden.
An dem einen Ende des Spektrums zeichnet sich die deutsche Sicherheitspolitik
durch einen hohen positiven Gestaltungswillen aus. Diese Ausprägung lässt sich als
„Aktivist/Initiative“ bezeichnen. Dabei versucht die Bundesregierung durch eigene
Initiativen, verbunden mit der Mobilisierung politischen und diplomatischen Kapitals, zur Veränderung des Status quo in der NATO beizutragen (im Sinne eines
Transformationsaktivisten). „Aktive Anpassung/Unterstützung“ ist die nächste Ausprägung, bei der die deutsche Politik die Initiative anderer Mitgliedstaaten aufgreift,
ggf. modifiziert und sich diese insgesamt zu Eigen macht. „Passive Anpassung“
hingegen bedeutet, dass die Bundesregierung sich lediglich der Mehrheitsmeinung
oder der dominierenden Position im Bündnis anpasst. „Obstruktion“ ist eine Ausprägung des negativen Gestaltungswillens im Sinne der Beibehaltung des Status quo
der Allianz (keine Transformation). Hierbei würden die deutschen Akteure versuchen, die Veränderung des Status quo durch eigene Maßnahmen bzw. Initiativen
aktiv zu unterlaufen, beispielsweise dadurch, andere Partnerländer auf die „eigene
Seite zu ziehen“. Die Steigerungsform wäre dann eine aktive Verhinderungspolitik
oder die Androhung und Anwendung eines Vetos im NATO-Rat gegenüber Veränderungen.
Neben dem Gestaltungswillen geht es in dieser Arbeit um die Untersuchung der
Interessenwahrnehmungen in der deutschen NATO-Politik. Zur Einordnung und
Umsetzung des der Fragestellung zugrunde gelegten Interessenbegriffs wird auf
Konzepte und Typologisierungen der Theorie des rationalen (bzw. funktionalen)
Institutionalismus zurückgegriffen. Eine der Kernaussagen dieser Theorie lautet,
dass Staaten die Entstehung und den Wandel internationaler (Sicherheits-)Institutionen in dem Maße unterstützen, in dem diese allgemeine und spezifische Funktionen
erfüllen, die von den Staaten zur Befriedigung ihrer Sicherheits- und Einflussinteressen „nachgefragt“ werden.
Die institutionalistische Perspektive thematisiert insbesondere den engen Zusammenhang zwischen den Veränderungen der internationalen Umwelt (Interdependen-
27 de Wijk, Rob (1997), NATO on the Brink of a New Millennium. The Battle for Consensus,
London und Washington D.C., Brassey's, S.71.
28
zen, Problemlagen), der staatlichen Nachfrage nach institutionalisierter Kooperation
(Funktionen) und schließlich den Formen dieser institutionalisierten Kooperation
(„form follows function“). Darüber hinaus stellt die Theorie eine sehr nützliche
Typologisierung verschiedener Funktionen internationaler Sicherheitsinstitutionen
bereit, die jeweils mit den zentralen Motiven der Sicherheits- und Einflussnahme
verknüpft sind.
Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Funktionsbereiche unterscheiden, in deren
Spannungsfeld sich die Politik der Mitgliedstaaten bewegt: der Bereich der „kooperativen Sicherheit“ und jener der „militärischen Reaktions- bzw. Interventionsfähigkeit“. Kooperative Sicherheit wird hier verstanden als eine Strategie zur Einflussgewinnung auf andere Staaten durch kooperative Normen und Verhaltensweisen sowie
durch die Schaffung positiver Anreizstrukturen. Das Militär erfüllt hierbei vor allem
die politische Aufgabe, Kooperationspartner aneinander zu binden und Vertrauen
bzw. Erwartungssicherheit zu schaffen (beispielsweise im Rahmen multinationaler
Verbände). „Militärische Reaktions- bzw. Interventionsfähigkeit“ wird dagegen
verstanden als die primär militärisch definierte Handlungsfähigkeit gegenüber dritten Akteuren. Dabei kommt es besonders auf operative Fähigkeiten der Streitkräfte
an, deren Aufgabe vor allem darin besteht, durch Druck, Abschreckung oder sonstige Zwangsmaßnahmen Sicherheit für die Mitglieder der Institution zu schaffen. Zu
Zeiten des Kalten Krieges betraf dies die Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit
gegenüber der SU. In den 1990er Jahren traten dagegen das militärische Krisenmanagement und später der Kampf gegen den Terrorismus und andere Risiken, wie die
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (MVW), stärker in den Vordergrund.
Aufbauend auf der Theorie des funktionalen Institutionalismus liegt dieser Studie
ein enger Sicherheitsbegriff zugrunde.28 Sicherheitswahrung meint dabei im Kern
den unmittelbaren Schutz der territorialen Integrität und der eigenen Grenzen sowie
der politischen Unabhängigkeit und Souveränität eines Staates mit militärischen
Mitteln. In einem mittelbaren Sinne fällt auch die Abwehr mess- und bezifferbarer
militärischer und strategischer Risiken unter den Begriff.29 Dabei deutet sich bereits
an, dass der Sicherheitsbegriff stets auch eine subjektive Komponente enthält, da die
Beurteilung militärischer und strategischer Risiken zwangsläufig den Akteuren
selbst obliegt. Dies spiegelt sich auch in der Definition von Sicherheitsinstitutionen
bei Helga Haftendorn und ihren Koautoren wider:
28 Für die Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Sicherheitsbegriff vgl.
Hellmann, Gunther (2007), „Sicherheitspolitik,“ in: Schmidt, Siegmar; Hellmann, Gunther
und Wolf, Reinhard (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Wiesbaden, VS Verlag
für Sozialwissenschaften, S.605-17, hier: S.606.
29 Vgl. Hasenclever, Andreas (2000), Die Macht der Moral in der internationalen Politik.
Militärische Interventionen westlicher Staaten in Somalia, Ruanda, und Bosnien-Herzegowina, Frankfurt am Main und New York, Campus Verlag, S.64.
29
„Security institutions are designed to protect the territorial integrity of states from the adverse
use of military force; to guard states’ autonomy against the political effects of the threat of
such force; and to prevent the emergence of situations that could endanger states’ vital interest
as they define them.”30
Die Autoren unterscheiden dabei zwischen Bedrohungen im klassischen Sinne
und sicherheitspolitischen Risiken. Erstere gehen von Staaten oder anderen Akteuren aus, die sowohl die Fähigkeit als auch die Absicht zur Bedrohung der eigenen
Sicherheit haben. Risiken hingegen haben ihren Ursprung oft in einem instabilen
oder zerfallenden Staat, dessen zukünftige Entwicklung als unsicher und gefährlich
eingestuft wird.
Das Motiv der Einflusswahrung kann drei unterschiedliche Formen annehmen:
Kontrolle über Ressourcen (control over resources), Kontrolle über Politikergebnisse (control over outcome) und Kontrolle über Akteure (control over actors). Kontrolle über Ressourcen bezieht sich im thematischen Zusammenhang dieser Arbeit
auf die Kontrolle über Ressourcen und Dienstposten innerhalb der NATO. Die zweite Form der Einflussnahme bezieht sich auf den weiteren politischen Zusammenhang, in den die NATO eingebettet ist, also beispielsweise auf das internationale
Krisenmanagement (Kontrolle über Politikergebnisse), bei dem das militärische
Handeln nur eine Komponente darstellt. Die dritte Form schließlich ist zu verstehen
im Sinne der gegenseitigen Einbindung und Einflussnahme unter den Mitgliedstaaten der NATO, der Wahrung der eigenen politischen Stellung in diesem System und
der Wahrung guter politischer Beziehungen zu den Partnerstaaten mit dem Ziel,
Einflusskanäle in die jeweiligen Hauptstädte offen zu halten (Kontrolle über andere
Akteure). Im Verhältnis der beiden zentralen Motive steht Sicherheit an erster Stelle.
Sie ist das grundlegendste Bedürfnis eines Staates und seiner Bürger. Aber auch
dann, wenn die Sicherheit nicht unmittelbar gefährdet ist, kann Einflusswahrung zu
einem eigenständigen Motiv staatlicher Politik werden.
Eine der wesentlichen Herausforderungen für sicherheitspolitische Zusammenarbeit liegt darin, dass die Partner zum Teil sehr unterschiedliche Verständnisse und
Erwartungen an sie heran tragen. Diese Tendenz hat sich auch im Rahmen der
Nordatlantischen Allianz seit dem Ende des Kalten Krieges noch verstärkt, wie
Adrian Hyde-Price bemerkt: „Like the elephant, NATO has a number of different
features, each of which is accorded different weight by different observers. […]
NATO began to mean different things to different people as the consensus on
NATO’s post-cold war security rationale began to fragment.“31 Hybride Sicherheits-
30 Wallander, Celeste A.; Haftendorn, Helga und Keohane, Robert O. (1999), „Introduction,“
in: dies. (Hrsg.), Imperfect Unions. Security Institutions over Time and Space, Oxford, Oxford University Press, S.1-18, hier: S.2 (eigene Hervorhebung).
31 Hyde-Price, Adrian (2000), Germany and European Order. Enlarging NATO and the EU,
Manchester, Manchester University Press, S.155. Mitunter ist auch von einer Renationalisierung des Sicherheitsdenkens in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges die Rede.
Vgl. beispielsweise Pradetto, August (1997), „Einleitung: Nationale Sicherheit, NATO-
Osterweiterung und neue europäische Ordnung. Perzeptionen und Strategien maßgeblicher
30
institutionen wie die Nordatlantische Allianz zeichnen sich dadurch aus, dass sie
beide Funktionsbereiche abdecken, d.h. sie wirken im Sinne der kooperativen Sicherheit vertrauensbildend nach innen und sind dennoch militärisch handlungsfähig
nach außen (gleiches galt beispielsweise nicht für die Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa, KSZE). Aufgrund begrenzter Ressourcen und inhärenter
Spannungen kommt es in der Realität jedoch zu Prioritätenkonflikten. Beispielsweise verträgt sich das Erfordernis umfassender Konsultationen unter den Allianzpartnern in bestimmten Situationen nicht mit dem Erfordernis des schnellen und effektiven Handelns.32
Aus theoretischer Sicht bedeutet dies, dass das Verständnis der Gewichtung institutioneller Funktionen, und damit auch die Definition und Gewichtung der Sicherheits- und Einflussinteressen, stets eine subjektive, akteurspezifische Kategorie
ist. Vor diesem Hintergrund ist das wesentliche Ziel dieses Buches, den Gestaltungswillen der deutschen Sicherheitspolitik gegenüber der Nordatlantischen Allianz
nachzuzeichnen, somit entsprechende Handlungsmuster zu identifizieren und danach
zu fragen, welches Funktionsverständnis und welche Interessendefinitionen gegen-
über den euro-atlantischen Sicherheitsinstitutionen diesem Handeln zugrunde lagen.
Während der Gegenstand hier die deutsche NATO-Politik ist, ließe sich der Untersuchungsrahmen, insbesondere das Konzept des Funktionsverständnisses, auch
vergleichend auf andere Bündnispartner oder auch auf andere institutionelle Kontexte übertragen. In der Entwicklung und plausiblen Anwendung dieses Konzepts liegt
der theoretische und konzeptionelle Beitrag der Arbeit.
Die beschriebene institutionalistische Perspektive ist staatszentriert, sie setzt jedoch keinen geschlossenen Akteur voraus. Staaten verfolgen in der Realität kein
einheitliches sicherheitspolitisches Interesse. Vielmehr wird innenpolitisch um die
Definition dieses Interesses in Zusammenhang mit konkreten Entscheidungssituationen gerungen, wobei das Ergebnis oft ein Kompromiss zwischen den relevanten
Akteuren ist. Die sicherheitspolitisch relevanten Akteure in dieser Studie sind in
erster Linie die formal zuständigen außen- und sicherheitspolitischen Ministerien
und deren politische Führungen: das Bundeskanzleramt, das Auswärtige Amt (AA)
und das Verteidigungsministerium (BMVg). Die Interessendefinitionen und jeweiligen Funktionsverständnisse dieser Regierungsakteure stehen hier im Mittelpunkt der
Betrachtung.
Diese Fokussierung lässt sich damit begründen, dass die Regierung bzw. das politisch-administrative System in der deutschen Sicherheitspolitik über ein hohes Maß
Akteure,“ in: ders. (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Rußland und die Osterweiterung der NATO.
Perzeptionen und Strategien im Spannungsfeld nationaler und europäischer Sicherheit, Opladen, Westdeutscher Verlag, S.9-39, hier: S.14.
32 Vgl. Overhaus, Marco (2003), „Zwischen kooperativer Sicherheit und militärischer Interventionsfähigkeit. Rot-grüne Sicherheitspolitik im Rahmen von ESVP und NATO,“ in:
Maull, Hanns W.; Harnisch, Sebastian und Grund, Constantin (Hrsg.), Deutschland im Abseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998-2003, Baden-Baden, Nomos, S.49-64.
31
an Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Einflüssen verfügt.33 Die öffentliche
Meinung hat der deutschen Sicherheitspolitik Grenzen gesetzt, die sich vor allem
während der out-of-area Debatte Anfang der 1990er Jahre zeigten. Dabei generierte
die Öffentlichkeit oder öffentliche Meinung jedoch, mit den Worten von Hanns W.
Maull und Bernhard Stahl, „nur diffusen Handlungsdruck, der sich außenpolitisch
fast beliebig instrumentalisieren ließ.“34 Regierungsakteure werden somit als politische Entrepreneure begriffen, die in einem gesellschaftlichen Umfeld handeln und
ggf. versuchen, dieses Umfeld zu beeinflussen.35
Um die Positionen der Regierungsakteure in einem institutionalistischen Rahmen
zu analysieren, eignet sich der Ansatz der bürokratischen Politik nach Graham T.
Allison in besonderer Weise. Aus dieser Perspektive wirken sich die Interessenkonflikte zwischen den Regierungsakteuren wesentlich auf das außen- und sicherheitspolitische Handeln eines Staates aus. Dabei werden die Interessen individueller
Entscheidungsträger wiederum maßgeblich davon beeinflusst, welcher Organisation
bzw. welchem Ministerium sie angehören. Die Formel “Where you stand depends
on where you sit” spiegelt diese Sichtweise der Individuen als Rollenträger einer
Bürokratie wider.36
Aufgrund der bestehenden Übereinstimmungen stellt die Perspektive der bürokratischen Politik eine passende innenpolitische Ergänzung der institutionalistischen
Theorie dar. Neben ihrer Staatszentriertheit (Dominanz der politisch-administrativen
Akteure gegenüber der Gesellschaft) teilt sie auch das Interesse an Institutionen (in
diesem Falle innerstaatlich) sowie weitere Prämissen des funktionalen Institutiona-
33 Vgl. Duffield, John S. (1994), „Explaining the Long Peace in Europe: the contributions of
regional security regimes,“ in: Review of International Studies 20(3), S.369-88, hier: S.34;
Rittberger, Volker und Freund, Corinna (2001), „Utilitarian-liberal foreign policy theory,“
in: Rittberger, Volker (Hrsg.), German foreign policy since unification. Theories and case
studies, Manchester, Manchester University Press, S.68-104; Rühl, Lothar (2001), „Security Policy: National Structures and Multilateral Integration,“ in: Eberwein, Wolf-Dieter und
Kaiser, Karl (Hrsg.), Germany's New Foreign Policy. Decision-Making in an Interdependend World, Houndmills, Palgrave, S.102-16.
34 Maull, Hanns W. und Stahl, Bernhard (2002), „Durch den Balkan nach Europa? Deutschland und Frankreich in den Jugoslawienkriegen,“ in: Politische Vierteljahresschrift 43(1),
S.82-111, hier: S.106.
35 „According to this actor-centred position, political decision-makers have repeatedly pushed
the limits for German participation in military interventions. Here, it is concrete political
action that impacts on domestic structural factors such as public attitudes.” Baumann,
Rainer und Hellmann, Gunther (2001), „Germany and the Use of Military Force: 'Total
War', the 'Culture of Restraint' and the Quest for Normality,“ in: Webber, Douglas (Hrsg.),
New Europe, New Germany, Old Foreign Policy? German Foreign Policy Since Unification, London, Frank Cass & Co, S.61-82, hier: S.62.
36 Allison, Graham T. und Halperin, Morton (1972), „Bureaucratic Politics: A Paradigm and
Some Policy Implications,“ in: Tanter, Raymond und Ullmann, Richard H. (Hrsg.), Theory
and Policy in International Relations, Princeton, Princeton University Press, S.40-79, hier:
S.47. Vgl. auch die Neuauflage der Studie zur kubanischen Raketenkrise, Allison, Graham
T. und Zelikow, Philip (1999), Essence of Decision. Explaining the Cuban Missile Crisis,
New York u.a., Longman.
32
lismus. In beiden Ansätzen werden Institutionen als Instrumente der Akteure zur
Realisierung politischer Ziele begriffen.37
Eine wichtige Ergänzung ist jedoch zu machen: Anders als beispielsweise in den
USA agieren deutsche Regierungsakteure nicht in einem Umfeld von starken und
autonomen Sicherheitsbürokratien. Vielmehr ist das politische System Deutschlands
durch eine Verflechtung der bürokratischen und parteipolitischen Interessen gekennzeichnet. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit neben den außenund sicherheitspolitischen Grundsatzreden des Bundeskanzlers sowie des Außenund Verteidigungsministers auch Bundestagsdebatten im Vorfeld oder im Nachgang
wichtiger NATO-Entscheidungen berücksichtigt.
1.3 Methodik
Das Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit entspricht einer theoriegeleiteten
Einzelfallstudie (single case study).38 Sie analysiert einerseits die deutsche Sicherheitspolitik als einen spezifischen Fall nationalstaatlicher Bündnispolitiken und
andererseits die NATO als einen spezifischen institutionellen Kontext der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik. Die Auswahl dieses Falles erfolgte auf Grundlage
eines theoretischen, empirischen und eines normativen Interesses. Auf die empirische und die theoretische Relevanz wurde bereits hingewiesen.
Das normative Interesse liegt in der Frage nach „guter“ Sicherheitspolitik. Der
normative Maßstab dieser Arbeit geht davon aus, dass die effektive Verfolgung von
Sicherheits- und Einflussinteressen in Sicherheitsinstitutionen zentrale Grundvoraussetzung für eine gute Sicherheitspolitik ist. Nur wer sich seiner eigenen Interessen bewusst ist, kann strategische Ziele verfolgen, angesichts knapper Ressourcen
Prioritäten richtig setzen und letztlich ein guter Kooperationspartner sein. Reflexiver
Multilateralismus, verstanden als die nicht hinterfragte Zusammenarbeit im Rahmen
von Institutionen als Selbstzweck, wäre dagegen nach diesem Maßstab kein guter
Leitfaden von Sicherheitspolitik. Umgekehrt müssen auch Sicherheitsinstitutionen
der ständigen Überprüfung der Interessen ihrer Mitgliedstaaten standhalten können,
denn andernfalls sind sie zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Der kurze historische
37 Thilo Bodenstein spricht treffend von „Allisons institutionalistische[m] Erbe der Politik“.
Bodenstein, Thilo (2001), „Vetospieler in Krisenentscheidungen. Eine Analyse der Entscheidungsprozesse zum Afghanistan- und Tschetschenienkonflikt,“ in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 8(1), S.41-72, hier: S.41.
38 Zur Methodologie der qualitativen Einzelfallstudie vgl. Lamnek, Siegfried (2005), Qualitative Sozialforschung (4. Auflage), Weinheim und Basel, Beltz Verlag, S.328. Vgl. auch
Eckstein, Harry (1975), „Case Study and Theory in Political Science,“ in: Greenstein, Fred
I. und Polsby, Nelson W. (Hrsg.), Strategies of Inquiry (Handbook of Political Science
Volume 7), Reading MA u.a., Addison-Wesley, S.79-137. Arend Lijphart hat diese Art der
Fallstudie auch als „interpretative case study“ bezeichnet. Lijphart, Arend (1971), „Comparative Politics and the Comparative Method,“ in: American Political Science Review 65(3),
S.682-93, hier: S.692.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben alle Bundesregierungen den weiterhin zentralen Stellenwert der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) sowie ihren Anspruch bekräftigt, den Transformationsprozess der Allianz aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig sah sich die deutsche Sicherheitspolitik dem Vorwurf politischer und wissenschaftlicher Beobachter ausgesetzt, häufig passiv und inkonsequent zu handeln. So gilt Deutschland im Bereich des militärischen Krisenmanagements oder bei der Umsetzung militärischer Verpflichtungen seit langer Zeit als Bremser.
Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende Monographie den Gestaltungswillen der deutschen NATO-Politik und die dieser Politik zugrunde liegenden Sicherheits- und Einflussinteressen in den Bereichen der Osterweiterungen, des militärischen Krisenmanagements und des Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Sie bedient sich dabei eines institutionalistischen Analyserahmens, nach dem mehrere Funktionen von Sicherheitsinstitutionen – allgemeine und spezifische, politische und militärische – unterschieden werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass sich die scheinbaren Widersprüche der deutschen Sicherheitspolitik damit erklären lassen, dass sie stets die politisch-integrativen Funktionen der NATO in den Mittelpunkt stellte.