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2. Teil – Kultur- und Rechtspluralismus in der Rechtsprechung
des EGMR
A. Einführung
I. Zusammenspiel von Ethnologie und Völkerrecht bei der
Rechtsprechungsanalyse
Diente die ethnologische Haltung zum Verhältnis von Recht und Kultur im Vorangegangenen dem Zweck, die rechtswissenschaftliche Theoriendiskussion um Universalität und kulturelle Relativität der Menschenrechte zu komplettieren und den juristischen Kulturbegriff kritisch zu re? ektieren, so übernimmt die Ethnologie in der anschließenden Rechtsprechungsanalyse weitere zentrale Aufgaben542.
Die im ersten Teil erarbeitete ethnologische Perspektive auf Recht und Kultur setzt
die Parameter für eine strukturierte und strukturierende Auseinandersetzung mit der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der ethnologische Diskurs dient insofern als „Wegbeschreibung“, aus der sich das Ziel, d.h. das
Erkenntnisinteresse, und die Struktur der Rechtsprechungsanalyse herleiten. Dieser
gegenüber der Rechtspraxis außen stehende ethnologische Maßstab begründet, welche
Aspekte der Rechtsprechung warum und auf welche methodische Art und Weise analysiert werden sollen, und rechtfertigt insofern die konkrete Auswahl des Fallrechts
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Der ethnologische Diskurs formuliert neben dieser deskriptiven, analytischen Komponente auch Aussagen über das, was sein soll, und weist eine normative Dimension
zum „ethnologisch richtigen“ Umgang mit Recht und Kultur auf. Die ethnologischen
Parameter setzen in einem an die Rechtsprechungsanalyse anschließenden Schritt den
Rahmen für eine kritische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Praxis des
EGMR im Umgang mit Kultur. Die implizite wissenschaftliche Theorie, die Entscheidungslogik, die der Praxis des EGMR zugrunde liegt, soll auf ein re? ektiertes Niveau
angehoben und unter eine kritisch vermittelte, zunächst ethnologisch fundierte, Verantwortung gestellt werden. Sind ethnologische normative Parameter mit abstrahierbarem Gehalt und kritische ethnologische Re? exionen zur gerichtlichen Praxis rechtsdogmatisch fruchtbar zu machen, so vermag der hier gewählte interdisziplinäre Ansatz, der Rechtspraxis Entscheidungskriterien für das „,Allgemeine’ und das ‚Typische
der Fälle’“543 im Umgang mit Kultur und Kulturpluralismus an die Hand zu geben, die
bei der Lösung des Einzelfalls aufgreifbar sind.
Stehen in diesem Kontext Möglichkeiten und Grenzen eines rechtsdogmatischen
Fruchtbarmachens von ethnologisch fundierten Re? exionen zur gerichtlichen Praxis
542 Vgl. die Ausführungen zur Wahl eines „praxeologischen Ansatzes“ in der Einleitung B. II.
543 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, S. 123.
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in Frage, so wird die Bedeutung des Völkerrechts bei der Rechtsprechungsanalyse
deutlich: Das Völkerrecht – im Speziellen die Europäische Menschenrechtskonvention als völkerrechtlicher Vertrag, deren Auslegung durch den EGMR und die Auseinandersetzungen im völkerrechtsdogmatischen Wissenschaftsdiskurs – setzt sich eigene Parameter zum „konventionskonformen“ Umgang mit Kultur und kultureller
Diversität im Kontext des europäischen Menschenrechtsschutzes. Diese rechtswissenschaftlichen Vorgaben leiten den gerichtlichen Umgang mit der Dimension der Kultur
an und rahmen ihn ein. Begründet die ethnologische Haltung zu Recht und Kultur eine
kritische Außenperspektive auf die Menschenrechtspraxis, so ist diese mit den relevanten Grundsätzen der völkerrechtswissenschaftlichen Innenperspektive zu konfrontieren; zeigen jene doch die äußersten Grenzen eines Ansatzes auf, der trotz seiner
ethnologischen Fundierung für die Rechtsdogmatik und die Rechtspraxis nutzbar gemacht werden könnte. Derart betrachtet, übernimmt auch das Völkerrecht zwei zentrale Aufgaben bei der anschließenden Rechtsprechungsanalyse: Das Völkerrecht zeigt
zum einen den normativen Rahmen auf, der dem Agieren des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Umgang mit der Kultur gesetzt ist und setzt zum anderen
die Grenzen, innerhalb derer sich ein interdisziplinärer Ansatz wie der hier gewählte
„disziplinkonform“ bewegen kann.
Das Zusammenspiel von Ethnologie und Völkerrecht gestaltet sich somit in Form
von Perspektivenwechseln, die den Aufbau des 2. und des 3. Teils der Arbeit bedingen:
Der ethnologische Blickwinkel konkretisiert Erkenntnisinteresse, Struktur und Auswahl des zu analysierenden Fallrechts des EGMR und lenkt den methodischen Gang
der Urteilsanalyse. Die abstrahierbare Entscheidungslogik dieser Rechtsprechung soll
im Anschluss an eine Detailanalyse aus der ethnologischen Außenperspektive kritisch
re? ektiert und diskutiert werden, bevor abschließend eine rechtswissenschaftliche Innenperspektive auf jene Entscheidungslogik eingenommen wird, die Möglichkeiten
und Grenzen von interdisziplinären Re? exionen aufzeigt.
II. Ethnologische Parameter für die Rechtsprechungsanalyse
1. Erkenntnisinteresse bei der Rechtsprechungsanalyse
In der einleitenden Beschreibung des Themas wird das Erkenntnisinteresse, das die
Rechtsprechungsanalyse antreibt, in allgemeine Worte gefasst, indem der „gerichtliche Umgang mit Kultur und kultureller Diversität am Beispiel der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“ zum Analysegegenstand erklärt wird.
Die ethnologische Schärfung des Blicks auf Recht und Kultur und die damit einhergehende Konkretisierung des Kulturbegriffs erlauben, auch jenes Erkenntnisinteresse zu
konkretisieren: Kultursysteme in den europäischen Staaten und Gesellschaften sind
nicht nur divers, sondern pluralistisch. Kulturpluralismus bedeutet, dass innerhalb einer Gesellschaft und innerhalb eines Staates eine Vielfalt von sozialen Gruppen und
Institutionen nicht nur nebeneinander besteht und sich in dieser Koexistenz gegenseitig bereichert, sondern vielmehr miteinander um Ein? uss, Macht und die Kompetenz
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References
Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.