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der Grundlage der Forschungsmethode der „teilnehmenden Beobachtung“230. Die spezi? schen Organisationsstrukturen und unterschiedlichen Prozesse der Streitbeilegung
in außereuropäischen Gesellschaften werden zur zentralen Fragestellung rechtsethnologischer Forschung. Der Versuch, uniforme Entwicklungslinien von Normensystemen aufzuzeigen, rückt dagegen in den Hintergrund des rechtsethnologischen Forschungsinteresses.
II. Anfänge der ethnologischen Haltung zum internationalen Menschenrechtsschutz
1. Stellungnahme der American Anthropological Association zur Allgemeinen
Menschenrechtserklärung
Die Kritik, die die in der Debatte federführenden amerikanischen Ethnologen in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhundert an evolutionistischen Kulturtheorien üben, fußt auf
einer gemeinsamen Kernaussage: Die Vielfalt kultureller Phänomene und die Kohärenz in sich abgeschlossener kultureller Systeme zeugen von deren Unverwechselbarkeit und verbieten die Kategorisierung und die Hierarchisierung von Kultur. Diese
Kernaussage ist das Fundament, auf das sich Melville Herskovits stützt, als er 1947 im
Namen des Exekutivkomitees der amerikanischen Ethnologenorganisation „American
Anthropological Association“ eine Stellungnahme zur Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte verfasst, die der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen
als Beratungsvorschlag für die Kodi? zierung des internationalen Menschenrechtsschutzes übergeben wird231. Das so entstandene „Statement on Human Rights“232 begründet den Beginn der ethnologischen Re? exionen zum internationalen Menschenrechtsschutz und die Urform der ethnologischen Theorie zum Kulturrelativismus der
Menschenrechte.
Die „Commission on Human Rights“ der Vereinten Nationen bemüht sich bei der
Ausarbeitung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung – in Anbetracht der weitreichenden Bedeutung der Erklärung als politisches und rechtliches Instrumentarium und
als „zukünftiges globales moralisches Bollwerk“233 gegen Barbarei, nationalistischorientierten Massenmord und Rassismus (wie kurz zuvor im Nationalsozialismus er-
230 „Bahnbrechend waren im deutschen Sprachraum Richard Thurnwald, im englischen Bronislaw
Malinowski, deren Feldforschungen in Melanesien und bei den Trobriand-Insulanern die ersten
herausragenden Arbeiten der neuen Rechtsethnologie waren.“, so Benda-Beckmann, F. von,
Rechtsethnologie, in: Fischer/Beer (Hrsg.), Ethnologie, 5. Au? age, S. 182.
231 Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden, 2. Au? age, S. 150.
232 The Executive Board, American Anthropological Association, Statement on Human Rights, in:
American Anthropologist, Vol. 49, No. 4, Part 1 (Oct.–Dec., 1947), S. 539–543. Vgl. zum Zustandekommen der AAA Erklärung die Ausführungen in: Dembour, Who Believes in Human
Rights? Re? ections on the European Convention, S. 156 ff.
233 Goodale, Introduction to „Anthropology and Human Rights in a New Key“, in: American Anthropologist, Vol. 108, No. 1 (March 2006), S. 1.
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lebt) – um eine möglichst umfassende Anerkennung der Erklärung in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Die Ethnologie wird von den Vereinten Nationen als die
wissenschaftliche Autorität für Vergleiche menschlicher und kultureller Verfassungen
erkannt, weshalb deren zustimmende Haltung gegenüber der AEMR für die Legitimität der Erklärung als grundlegend erachtet wird234. Herskovits, geprägt von der evolutionskritischen Haltung der Ethnologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, re-
? ektiert in seiner Stellungnahme die Herausforderungen, die sich bei der Formulierung eines Katalogs an universellen Menschenrechten stellen: „How can the proposed
Declaration be applicable to all human beings, and not be a statement of rights conceived only in terms of the values prevalent in the countries of Western Europe and
America?“235
Herausforderung sei die Befreiung aus der auf evolutionistischen Denkmodellen
aufbauenden Vorherrschaft euroamerikanischer Rechts- und Gesellschaftskonzepte
und die damit einhergehende Würdigung des Eigenwerts jedes Individuums und jeder
Sozialgruppe. Herskovits fasst, auf diese Herausforderung Bezug nehmend, drei zentrale Prinzipien zusammen, die bei der Ausarbeitung der AEMR zu berücksichtigen
seien236: Erstens schaffe die Kultur eines Menschen den entscheidenden Rahmen, in
dem der Mensch seine Persönlichkeit realisieren könne. Die Respektierung der Individualität, d.h. der Unterschiedlichkeit des Individuums als intendierter Schutzzweck
der AEMR, setze daher die Respektierung kultureller Unterschiede voraus237. Zweitens werde die Notwendigkeit, die Unterschiedlichkeit der Kulturen zu respektieren,
durch das wissenschaftliche Faktum abgesichert, dass es keine Technik gibt, Kulturen
qualitativ zu evaluieren und zu hierarchisieren238.
Herskovits formuliert insofern einen Einwand gegen die evolutionistischen Ideen
von „ewiger Wahrheit“ und „ewigem Recht“ im Sinne einer einheitlichen Entwicklungslinie und eines einheitlichen Maßstabs für die Bewertung der menschlichen Natur und des Rechts. Die Variabilität derartiger kulturbedingter Wahrheiten über Lebensführung und Recht decke drittens auf, dass Standards und Werte in einem relativen Verhältnis zu der Kultur stünden, aus der sie herrühren. Insofern sei der Versuch
234 Ebenda.
235 The Executive Board, American Anthropological Association, Statement on Human Rights, in:
American Anthropologist, Vol. 49, No. 4, Part 1 (Oct.–Dec., 1947), S. 539.
236 Die AEMR wird 1948 unverändert in der Gestalt verabschiedet, die Herskovits 1947 kritisch
re? ektiert und aus ethnologischer Perspektive in Frage stellt. „His Statement, which was adopted by the AAA Executive Board (…) refused to endorse what would become the Universal
Declaration of Human Rights (1948), which remains the foundation for the entire range of legal
frameworks, institutional interventions, and discourse that is captured by the phrase human
rights.“, so Goodale, Introduction to „Anthropology and Human Rights in a New Key“, in:
American Anthropologist, Vol. 108, No. 1 (March 2006), S. 1.
237 The Executive Board, American Anthropological Association, Statement on Human Rights, in:
American Anthropologist, Vol. 49, No. 4, Part 1 (Oct.–Dec., 1947), S. 541: „The individual
realizes his personality through his culture, hence respect for individual differences entails a
respect for cultural differences.“
238 Ebenda, S. 542: „Respect for differences between cultures is validated by the scienti? c fact that
no technique of qualitatively evaluating cultures has been discovered.“
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unmöglich, allgemeingültige menschenrechtliche Postulate zu formulieren, weil diese,
wenn sie den Überzeugungen und moralischen Codes einer Kultur entsprächen, im
Rahmen dieses Entsprechens nicht auf die Menschheit im Gesamten übertragbar seien239. Ideen über die Kategorien „richtig“ oder „falsch“ sowie „gut“ und „schlecht“
seien in allen Gesellschaften zu ? nden und unterschieden sich je nach Gesellschaft.
Insofern differierten auch die Vorstellungen davon, was ein Menschenrecht sei je nach
Gesellschaftsgruppe, zeitlichem Kontext und Sprache, die zur Umschreibung der
sichtbaren Welt verwendet würden240. Die so zum Ausdruck gebrachten verschiedenen
Lebensweisen und Rechtsvorstellungen seien untereinander gleich gültig und ebenbürtig.
Eine Menschenrechtserklärung wie die angestrebte müsse, so Herskovits, insofern
die Gültigkeit jeder einzelnen Lebensweise zum Ausdruck bringen, nicht jedoch Spiegelbild einer einzigen dominanten Kultur sein: „World-wide standards of freedom and
justice, based on the principle that man is free only when he lives as his society de? nes
freedom, that his rights are those he recognizes as a member of his society, must be
basic.“241 Die durch Menschenrechte gesicherte Freiheit des Individuums setze die
Freiheit voraus, den angemessenen Lebensstil selbst, im Einklang mit den Traditionen
der eigenen Sozialgesellschaft, zu de? nieren242.
Die in diesen drei Prinzipien zum Ausdruck gebrachte Haltung der Ethnologie gegenüber der Kodi? zierung und Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes
weist eine empirische, eine epistemologische und eine ethische Dimension auf: Basierend auf dem empirischen Faktum der Unterschiedlichkeit von Kultur, d.h. von Lebensweisen und Verhaltenskodizes, konstatiert sie die erkenntnistheoretisch relevante
Unmöglichkeit einer Quali? zierung von „Kultur“, woraus die ethische Warnung vor
moralischem Imperialismus resultiert243. Die Haltung spiegelt den oben ausgeführten
Kern der allgemeinen Kritik wider, den Ethnologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an evolutionistischen Denkmodellen üben und erwächst zum Bezugspunkt
für die erste Etappe der ethnologischen Theoriendiskussion zum „Kulturellen Relativismus“ der Menschenrechte, die in den 1940er und 1950er Jahren statt? ndet.
239 Ebenda: „Standards and values are relative to the culture from which they derive so that any
attempt to formulate postulates that grow out of the beliefs or moral codes of one culture must
to that extent detract from the applicability of any Declaration of Human Rights to mankind as
a whole.“
240 The Executive Board, American Anthropological Association, Statement on Human Rights, in:
American Anthropologist, Vol. 49, No. 4, Part 1 (Oct.–Dec., 1947), S. 542.
241 Ebenda, S. 543.
242 Freeman, Anthropology and the Democratisation of Human Rights, in: The International Journal of Human Rights, Vol. 6, No. 3 (Autumn 2002), S. 41: „Human beings were free, the Board
concluded, only when they lived as their society de? ned freedom and everyone had the right to
live on terms of their own traditions.”
243 Goodale, Introduction to „Anthropology and Human Rights in a New Key“, in: American Anthropologist, Vol. 108, No. 1 (March 2006), S. 1, S. 2.
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2. Einwände gegen die Stellungnahme der American Anthropological
Association
Die von Herskovits formulierte Stellungnahme der American Anthropological Association, insbesondere deren Kernaussage, wonach sich das Individuum nur im Rahmen
seiner Sozialgemeinschaft verwirklichen könne, weshalb kulturelle Unterschiede dieser Gemeinschaften grundsätzlich zu respektieren und bei der Kodi? zierung des Menschenrechtskatalogs zu berücksichtigen seien, provoziert in der ethnologischen Wissenschaftsgemeinschaft verschiedenartige Einwände. Diese Einwände sollen überblicksartig dargestellt werden, weil sie den Bezugspunkt für die zweite Etappe der
ethnologischen Theoriendiskussion zum Kulturrelativismus bilden, die ab den 1980er
Jahren geführt wird. Die zweite Etappe ist Ausdruck des gegenwärtigen ethnologischen Blicks auf das Verhältnis von Kultur und Menschenrechten, die den theoretischen Maßstab für die Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte begründen soll.
Das Postulat, die Unterschiedlichkeit kultureller Konzepte zu respektieren, insbesondere dessen Begründung, wonach das Individuum nur dann frei sein könne, wenn
es die Lebensform wählen kann, die seine Gesellschaft de? niert, wird als generelles
Toleranzpostulat gegenüber Eigenheiten von Gesellschaften verstanden244. Dieses Toleranzpostulat sei, so der amerikanische Ethnologe Julian Steward, aus verschiedenen
Gründen streitbar: Solange sich der Appell, kulturelle Werte und Eigenheiten bei der
Erarbeitung weltweit gültiger Freiheits- und Rechtsstandards zu respektieren, auf eine
verstärkte Wertschätzung des Eigenwerts von Kultursystemen primitiver Gesellschaften und auf deren Emanzipation aus der Vorherrschaft der Kolonialmächte beschränke,
bestehe kein Grund zu Widerspruch245. Wird dieses Toleranzpostulat jedoch, wie in
den Ausführungen Herskovits, zum universalistischen Prinzip erhoben246, so müsse es
auch für Kultursysteme und -werte gelten, die den internen Politiksystemen und der
Außenpolitik zivilisierter Gesellschaften zugrunde lägen.
Demnach müsste es sich also auch auf jene kulturellen Werte erstrecken, auf die
sich die verschiedenen Formen sozialer Diskriminierung – wie beispielsweise dem
sozialen Kastensystem Indiens, dem rassischen Kastensystem der Vereinigten Staaten
oder dem wirtschaftlichen Imperialismus der euroamerikanischen Welt – beziehen.
Das Toleranzpostulat könne, so Steward, wohl kaum beabsichtigen, auch die Selbstverwirklichung, die im Nazideutschland auf Kosten des Lebens der jüdischen Gesellschaft vollzogen worden sei, zu befürworten.
Die Gefahr des Toleranzprinzips sei somit das Dilemma der Grenzziehung: „Either
we tolerate everything, and keep hands off, or we ? ght intolerance and conquest – po-
244 Steward, Comments on the Statement on Human Rights, in: American Anthropologist, Vol. 50,
No. 2 (Apr.–Jun. 1948), S. 351.
245 Ebenda.
246 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Wilson, Human Rights, Culture and Context: An Introduction, in: Wilson (Hrsg.), Human Rights, Culture and Context – Anthropological Perspectives, S. 2 ff.
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litical and economic as well as military – in all their forms. Where shall the line be
drawn? (…) What are these ‘underlying cultural values’ that can be used to suppress
intolerance and promote political freedom in cultures which lack economic or social
freedom, or that can be used to halt conquest in a competitive world?“247 Die so aufgezeigte ethische Dimension des Toleranzpostulats, das die Unmöglichkeit gegenseitiger kritischer Bewertung, also der Einzug von Nihilismus, zum Ausdruck bringe, sei
untragbar248. Die Tatsache, dass die Stellungnahme der Ethnologie überhaupt eine
ethische Dimension aufweist, wird als Bruch mit dem ethnologischen Wissenschaftsethos perzipiert.
Die Ethnologie be? nde sich als grundsätzlich werturteilsfreie Wissenschaft im Dilemma, wenn sie – wie in Form einer Toleranzforderung bei der Kodi? zierung von
Menschenrechten – normative Aussagen formuliere249. Die Kodi? zierung von Menschenrechten verlange unwillkürlich, dass im Rahmen der rechtlichen Formulierung
bestimmte Wertesysteme als vorzugswürdig erkannt und bestimmte moralische Universalien benannt würden. Aufgabe der Sozialwissenschaften, im Speziellen der Ethnologie, sei es dagegen, diese Wertentscheidungen und Wertesysteme in ihrer Komplexität mit dem Anspruch möglichter Objektivität und Neutralität aufzudecken und
zu analysieren250. Jegliche wertende, beurteilende, beratende Haltung, die durch Aussagen über die Vorzugswürdigkeit bestimmter Kultursysteme eingenommen würde,
sei aus ethnologischer Sicht unwissenschaftlich251. In Konsequenz wird den Thesen
der AAA der Status der ethnologischen Wissenschaftlichkeit abgesprochen, weil sie
auf moralischen Schlussfolgerungen basierten: So resultiere der Respekt gegenüber
kultureller Unterschiedlichkeit nicht allein und automatisch aus der empirischen Tatsache, dass sich Kulturen nicht auf qualitative Art und Weise messen ließen, sondern
sei eine moraltheoretische Wertung252.
Vertreter der Moraltheorie (wie beispielsweise Robert P. Sylvester) beziehen zum
Inhalt dieser ethischen Schlussfolgerungen Stellung. Indem die Ethnologie aus der
empirischen Tatsache, dass Standards, Werte und Urteile des Menschen kulturgeprägt,
d.h. kulturrelativ seien und variierten, den Schluss ziehe, dass moralische Universali-
247 Steward, Comments on the Statement on Human Rights, in: American Anthropologist, Vol. 50,
No. 2 (Apr.–Jun. 1948), S. 351.
248 Vgl. zu dieser Nihilismus-kritischen Haltung und deren Vertretern die Ausführungen von Renteln, Relativism and the Search for Human Rights, in: American Anthropologist, Vol. 90, No. 1.
(Mar. 1988), S. 58. Sally Merry interpretiert die Stellungnahme der AAA gegensätzlich und stellt
fest, dass in der Erklärung durchaus Stellung zu den Grenzen eines Toleranzpostulats bezogen
worden sei. Vgl. Merry, Human Rights Law and the Demonization of Culture (And Athropology
Along the Way), in: Political and Legal Anthropology Review 26/1 (May 2003), S. 57.
249 Steward, Comments on the Statement on Human Rights, in: American Anthropologist, Vol. 50,
No. 2 (Apr.–Jun. 1948), S. 351 f.
250 Barnett, On Science and Human Rights, in: American Anthropologist, Vol. 50, No. 2 (Apr.–
Jun., 1948), S. 352 f.
251 Ebenda, S. 353: „In other words, the worth or propriety of human motivations and goals is a
matter of opinion, adjudication and policy. (…) It is an inescapable fact that we cannot at the
same time be moralists (or policy makers) and scientists.“
252 Ebenda, S. 354.
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en und objektive Normenkataloge nicht existent seien, thematisiere sie die Grenzen
der Moraltheorie253. Diese Schlussfolgerung sei, so Sylvester, paradox: Die Ethnologie begäbe sich in eine epistemologische, d.h. erkenntnistheoretische, Paradoxie und
Unlogik, wenn sie die Allgemeingültigkeit menschlicher Urteile und objektiver Wahrheiten im Allgemeinen in Anbetracht des Ethnozentrismus, der aus der soziokulturellen Prägung resultiere, negiere und gleichzeitig davon ausginge, dass diese Negation
mit dem Anspruch der Objektivität und Allgemeingültigkeit versehen auf alle Kulturen zuträfe: „Thus, the principle assumes in one area of study (science) a postulate that
it denies for another (ethics). (…) How could one know that ‚all judgments are ethnocentrically channeled’ is a universally valid principle if that very judgment is itself
ethnocentrically channeled?“254 Die Kernthese der Kulturrelativität von Urteilen sei
selbst ein Urteil und insofern, wird jene Kernthese konsequent weitergedacht, kulturrelativ und nur eingeschränkt gültig. Beziehe sich die These der Ethnologie also undifferenziert auf jegliches menschliche Urteil, d.h. auch auf wissenschaftliche, speziell
naturwissenschaftliche sowie medizinische Urteile, so sei sie in sich unstimmig und
trage, trotz ihrer ethischen Implikationen, nicht konstruktiv zum philosophischen Diskurs bei255.
Die hier kurz skizzierten Einwände gegen die 1947 verfasste ethnologische Stellungnahme zum Verhältnis von Kultur und Menschenrechten haben gemeinsam, dass
sie die ethischen Konsequenzen, die aus der empirischen Forschung zur Kulturbedingtheit des Menschen, seiner Verhaltensweisen und seiner Urteils? ndung gezogen
werden – zusammengefasst unter dem Schlagwort „Toleranzpostulat“ –, kritisieren. In
der Problematisierung jenes Toleranzpostulats gegenüber rechtsfeindlichen Praktiken,
die im Rekurs auf kulturelle Besonderheiten vollzogen werden, ähneln sich die Re? exionen, die die Ethnologie in den 1940er und 1950er Jahren anstellt, und die oben
umschriebene Haltung im gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Diskurs, die die
Berücksichtigung von Kultur als Angriff auf die Menschenrechtsidee perzipiert.
Es wurde aufgezeigt, dass die Stellungnahme der Ethnologie zum internationalen
Menschenrechtsschutz in den 1940er Jahren eine empirische, eine erkenntnistheoretische und eine ethische Komponente aufweist. Die Zusammenhänge und Schlussfolgerungen, die zwischen den verschiedenen Komponenten von Herskovits aufgezeigt
werden, stoßen auf Widerspruch von Seiten der Ethnologengemeinschaft selbst und
von Seiten der Philosophie. Jene kritischen Einwände prägen den Beginn der ethnologischen Positionierung zum internationalen Menschenrechtsschutz, was die ethnologische Forschung veranlasst, in der Folgezeit eine differenzierte Haltung bei der Theoriebildung zum Verhältnis von Menschenrechten und Kultur einzunehmen.
Die in den 1980er Jahren neu einsetzende Beschäftigung der Ethnologie mit Fragen
des internationalen Menschenrechtsschutzes ist insofern differenzierter, als sie sich
der notwendigen Trennung von empirischen Forschungsergebnissen und daraus zu
253 Sylvester, A Comment on Some Further Comments on Cultural Relativism, in: American Anthropologist, Vol. 61, No. 5 (Oct., 1959), S. 883.
254 Ebenda, S. 885.
255 Ebenda, S. 885 f.
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ziehenden normativen Implikationen bewusst ist. In dieser Differenziertheit unterscheiden sich gegenwärtige ethnologische Theorien zum Verhältnis von Menschenrechtsschutz und Kultur von der gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Debatte.
Diese rechtswissenschaftliche Debatte, in der Einleitung kurz dargestellt, unterscheidet nicht zwischen der Kulturbedingtheit als empirischem Phänomen und den normativen Herausforderungen, die aus diesem empirischen Phänomen resultieren. Der dadurch entstehende Mangel an Trennschärfe erschwert, den Kulturbegriff als empirisches Faktum zu neutralisieren. Die gegenwärtige ethnologische Theoriendiskussion
soll, um diese Trennung zwischen der empirischen Grundlegung und den normativen
Implikationen deutlich zu machen, in einem Zweischritt analysiert werden: Zunächst
hinsichtlich ihrer empirischen Dimension, d.h. ihre deskriptiv-analytischen Komponenten, und anschließend hinsichtlich ihrer normativen Schlussfolgerungen, die von
rechtsdogmatischer Relevanz sein und insofern für die Rechtspraxis fruchtbar gemacht werden könnten.
B. Das Verhältnis von Kultur und Menschenrechten aus gegenwärtiger
ethnologischer Perspektive
I. Empirische Dimensionen
1. Interdependenzen von Individuum, Gesellschaft, Kultur und Recht –
empirische Dimensionen des Kulturrelativismus
a) Kulturrelativismus, Enkulturation und internationaler Menschenrechtsschutz
Eine Verständnisvariante des Kulturrelativismus erfasst die kognitive, moralische und
emotionale Prägung des Individuums durch seine kulturelle Umgebung, d.h. die Internalisierung von Kategorien und Wertestandards der den Einzelnen umgebenden soziokulturellen Gemeinschaft256. Der so kurz umschriebene Prozess der Enkulturation
wird von Vertretern der gegenwärtigen ethnologischen Haltung257, wie der amerikanischen Ethnologin Alison Dundes Renteln, als – in ihrer Richtigkeit fortbestehende –
empirisch fundierte Kernaussage der von Boas und seinen Schülern begründeten Theorie des kulturellen Relativismus verstanden: „It is crucial to understand the extent to
which the theory of cultural relativism is based on enculturation. Enculturation is the
256 Cohen, Human Rights and Cultural Relativism: The Need for a New Approach, in: American
Anthropologist, Vol. 91, No. 4. (Dec., 1989), S. 1016.
257 Auch im ethnologischen Diskurs wird der Begriff „Cultural Relativism“ bisweilen als Einschränkung des Rechtsschutzes durch Rekurs auf antiquierte Kulturpartikularitäten verstanden;
vgl. hierzu beispielweise die Ausführungen von Marie-Bénédicte Dembour: Dembour, Following the movement of a pendulum: between universalism and relativism, in: Cowan/Dembour/Wilson (Hrsg.), Culture and Rights – Anthropological Perspectives, S. 58 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.