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Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist insofern interdependent, als dass a priori
angestellte theoretische Überlegungen die Determinanten für eine strukturierte und
strukturierende Betrachtung der Praxis aufzeigen können152. Kernaspekte theoretischer Re? exionen bestimmen die Perspektive, aus der die Rechtspraxis analysiert
wird, und benennen das Ziel der kasuistischen Analyse. Der theoretische Diskurs dient
als „Wegbeschreibung“, an der sich die Analyse der Rechtsprechung orientiert. Neben
dieser deskriptiv-analytischen Komponente können Theoriemodelle Feststellungen
über das, was sein soll, beinhalten und insofern eine normative Dimension aufweisen153. Rechtsdogmatisch fruchtbar gemacht, vermögen theoretische Denkmodelle mit
abstrahierbarem normativem Gehalt, der Rechtspraxis Entscheidungskriterien für das
„‚Allgemeine’ und das ‚Typische der Fälle’“154 an die Hand zu geben, die diese bei der
Lösung des Einzelfalls aufgreifen kann.
Theorie und Praxis derart gegenüberzustellen, macht den hier gewählten Forschungsansatz zu einem sog. „praxeologischen Ansatz“: Praxeologisch ist der Ansatz,
weil sich das Verständnis von der hier problematisierten Interdependenz zwischen
Kultur und gerichtlichem Menschenrechtsschutz aus der Selbstdurchleuchtung der gerichtlichen Praxis gewinnt „(…) und das Ziel verfolgt, die implizite wissenschaftliche
Theorie dieser Praxis auf ein re? ektiertes Niveau zu erheben und das (…) (gerichtliche, P.W.) Handeln unter eine kritisch vermittelte Verantwortung zu stellen.“155 Maßstab für Selbstre? exion und Kritik der Praxis ist der zunächst gerichtspraxisferne Theoriediskurs. Der Anspruch der Arbeit, die Komplexität der Beziehung zwischen Recht
und Kultur sowie Theorie und Praxis umfassend zu re? ektieren, ohne die Stringenz
der Analyse im Perspektivenreichtum zu verlieren, verlangt die folgende Vorgehensweise.
III. Methodisches Vorgehen und Gang der Analyse
In methodischer Hinsicht wird eine rein hermeneutische Haltung eingenommen, d.h.,
dass der inhaltliche Gegenstand des Wissenschaftsdiskurses und der Rechtspraxis einer kritischen Auslegung unterworfen werden156. Die kurz skizzierte Wechselbeziehung zwischen Theorie und Praxis bedingt den Gang der Analyse: Die strukturierte
und strukturierende Analyse der Rechtsprechung setzt einen offengelegten Analysemaßstab voraus, an dem sich die kritische Würdigung der Rechtspraxis bemisst. Dieser Analysemaßstab soll anhand der vorangestellten Auswertung der theoretischen
152 Schaal/Heidenreich, Einführung in die Politischen Theorien der Moderne, S. 24.
153 Ebenda, S. 25 ff.
154 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, S. 123.
155 Derbolav, Praxeologische Grundlegung der Erziehungswissenschaft, in: Schaller (Hrsg.), Erziehungswissenschaft der Gegenwart – Prinzipien und Perspektiven moderner Pädagogik, Bochum 1979.
156 Die mit der Methode der Hermeneutik ebenfalls erfassbare Form des Diskurses und ein in chronologischer Analyse erfassbarer historischer Haltungswandel des Diskurses bleiben unberücksichtigt.
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Erwägungen zum Verhältnis von Kultur und Menschenrechten erarbeitet werden. Er-
öffnet dieser Analysemaßstab eine Betrachtung der Rechtspraxis aus einer Außenansicht, so ist die genaue Perspektive der Außenbetrachtung festzulegen.
In der juristischen Wissenschaftsmethodik ist es üblich, die Rechtsprechung aus der
Perspektive der Rechtsdogmatik zu analysieren. Kritische Stellungnahmen der Rechtsdogmatik gegenüber Normen, gerichtlichen Problemlösungen und Entscheidungen basieren auf Re? exionen zu Rechtsgedanken und Wertungsgrundsätzen des positiven
Rechts selbst157. Die in concreto angewandte Rechtsordnung und deren Auslegung ist
Bezugspunkt allgemeingültiger theoretischer Re? exionen der Rechtsdogmatik. Eine
rechtsdogmatische Perspektive einzunehmen, scheidet vorliegend schon deshalb aus,
weil sich die aufgeworfenen Fragen – den Umgang des EGMR mit der kulturellen Diversität von Individuen, Gesellschaften und Staaten und die Interdependenz zwischen
Kultur und gerichtlichem Menschenrechtsschutz betreffend – nicht aus der Innenperspektive der Europäischen Menschenrechtskonvention stellen, insofern auch nicht
durch eine reine Innenbetrachtung der Konvention zu beantworten sind.
Die Fragen sind vielmehr Gegenstand theoretischer Erwägungen, die rechtswissenschaftliche Teildisziplinen wie die Rechtstheorie, -philosophie und -geschichte sowie
Sozialwissenschaften wie die Ethnologie, spezieller die Rechtsethnologie, anstellen,
deren gedanklicher Ansatzpunkt nicht die Beschäftigung mit einer bestimmten Rechtsordnung ist (und dadurch grundsätzlich durch den Rahmen des positiven Rechts begrenzt ist). Die Beziehung von Kultur und Menschenrechten ist nicht normierter Gegenstand einer bestimmten Rechtsordnung (wie der EMRK) und begründet trotzdem
eine Herausforderung, der sich die Rechtspraxis und somit auch die Rechtsdogmatik,
die sich mit der Anwendung dieser Rechtsordnung beschäftigen, zu stellen haben: Es
wurde kurz aufgedeckt, dass sich der im Abstrakten statt? ndende Widerstreit zwischen
Universalität und kultureller Relativität der Menschenrechte im Konkreten auch in der
Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wieder? ndet, indem dieser
den Anspruch erhebt, eine europäische Menschenrechtskultur zu etablieren und dabei
mit der faktischen Diversität der Vertragsstaaten konfrontiert ist.
Erst die außerhalb der Rechtsdogmatik liegende Perspektive deckt diese Herausforderung, der sich die Rechtspraxis zu stellen hat, auf. Steht in Frage, inwiefern aus dieser Außenperspektive Lösungsmodelle erarbeitet und für die Rechtspraxis fruchtbar
gemacht werden können, so erscheint der klassisch-rechtswissenschaftliche Diskurs
wenig zielführend. Soll die Außenperspektive der inhaltlichen Ausfüllung und Konkretisierung von Schlüsselbegriffen wie denen der „Kultur“ und des „Kulturrelativismus“ dienen, um eine Operationalisierung des Kulturbegriffs für die gerichtliche Menschenrechtspraxis zu ermöglichen, so ist die erste Variante der Debatte ungeeignet.
Das Verständnis von Kultur und Kulturrelativismus variiert und divergiert und ist, je
nach Verständnisform, auf vorschreibende Art und Weise positiv oder negativ – selten
jedoch neutral – konnotiert. Zudem setzt diese Variante des Diskurses, um allgemeingültige Aussagen formulieren zu können, häu? g ein Ausmaß an Homogenität in den
157 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 123.
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regionalen Menschenrechtssystemen voraus, das vorliegend in Frage gestellt wird.
Die zweite Variante des Diskurses, die die Ethnologie, im Speziellen die Rechtsethnologie, begründet, ist für die Operationalisierung des Kulturbegriffs insofern geeigneter, als dass die theoretischen Erwägungen zum Kulturbegriff und zur Interdependenz zwischen Kultur und Recht auf empirischer Forschung basieren und insofern
eine deskriptive Perspektive auf die soziale Wirklichkeit eröffnen. Beschäftigungsgegenstand der Rechtsethnologie ist die – von einer spezi? schen Rechtsordnung losgelöste – Frage nach der Aufrechterhaltung von sozialer Ordnung in den unterschiedlichen Gesellschaften158. Die Komplexität der Arten von Kon? iktlösung und die Unterschiedlichkeiten in der Gewichtung bei der Einhaltung sozialer Normen decken auf,
dass Rechtsnormen und Rechtstheorien variabel und kulturspezi? sch sind159. Jene
Diskursvariante begründet im Folgenden die Außenperspektive, an der sich die Analyse der Rechtspraxis des EGMR orientieren soll. Der (rechts-)ethnologische Diskurs
zum Verhältnis von Kultur und Menschenrechten soll insbesondere im Hinblick auf
seine deskriptiv-analytischen und normativen Komponenten analysiert werden, die
von rechtsdogmatischer Relevanz sein und insofern für die Rechtspraxis fruchtbar gemacht werden könnten.
Die textwissenschaftliche Betrachtung zielt auf eine Systematisierung des theoretischen ethnologischen Diskurses ab. Der Fokus der anschließenden hermeneutischen
Analyse der Rechtspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte soll auf
theoretisch-normative und methodische Prämissen des Gerichtshofs im Umgang mit
Kultur und kultureller Diversität gerichtet werden, wobei auch hier das Aufzeigen abstrahierbarer, über den Einzelfall hinausgehender, Entscheidungsmaximen angestrebt
wird. Der Kulturbegriff, der der Analyse der Rechtspraxis zugrunde gelegt wird, soll
in der ethnologischen Abhandlung erarbeitet werden.
Ziel dieses Forschungsansatzes ist es, die implizite theoretische und methodische
Haltung des EGMR gegenüber der Dimension der Kultur auf ein re? ektiertes Niveau
zu heben und kritisch zu würdigen. Allgemeingültige, d.h. abstrahierbare Entscheidungskriterien für die gerichtliche Menschenrechtspraxis im Umgang mit der kulturellen Diversität der von der EMRK betroffenen Individuen, Gesellschaften und Staaten sollen aufgezeigt werden. Angestrebte Folge dieser Analyse ist es, einen Beitrag
zur Konkretisierung und Komplettierung der Debatte um Universalität und kulturelle
Relativität der Menschenrechte zu leisten. Der Rekurs auf dogmatikfremde Erkenntnisquellen, d.h. theoretische Ansätze der Ethnologie, Denkmodelle und Methoden –
empirisch-deskriptiver und normativer Art – verleiht dem Ansatz eine interdisziplinäre Dimension.
Im Konkreten gliedert sich die Arbeit somit in drei Teile: Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Variante des Theoriediskurses, die die empirisch forschende
(Rechts-)ethnologie vertritt. Die Analyse dieser Diskursvariante zielt auf eine Opera-
158 Kokot, W., Editorial: „Forensische Ethnologie“ – Zum Themenschwerpunkt dieser Ausgabe, in:
Institut für Ethnologie der Universität Hamburg (Hrsg.), ETHNOSCRIPTS, Jahrgang 2, Heft 2,
S. 1.
159 Ebenda.
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tionalisierung, d.h. ein Messbarmachen des Kulturbegriffs für die gerichtliche Praxis,
ab. Der zweite Teil beinhaltet die Analyse von Beispielen aus der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in denen der Gerichtshof mit der Dimension der Kultur konfrontiert ist. In einem dritten Teil soll sich eine kritische Würdigung des theoretischen und methodischen Umgangs des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte mit der Dimension der Kultur anschließen.
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Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.