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nationale Autoritäten, d.h. Exekutive, Legislative und Judikative? Das entscheidende international besetzte Richterkollegium?
Wo liegt die Grenze zwischen förderungs- und schützenswerter kultureller Diversität in Rechtsinterpretation und -anwendung auf der einen und – aus europäischer
Sicht – inakzeptabler Unterschiedlichkeit auf der anderen Seite? Wie ist „Kultur“
einer Bewertung zu unterwerfen, d.h. wie und entlang welcher Determinanten ist
diese Grenze zu ziehen?
Im Kern berührt dieses Fragenspektrum, dessen Thematisierung Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, das Wechselverhältnis, in dem Kultur und (Menschen-)rechtsschutz im gerichtlichen Verfahren, speziell im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zueinander stehen. Die Analyse dieser Interdependenz
am Beispiel des europäischen Systems zum Schutz der Menschenrechte vorzunehmen,
dient einer Klärung des für Rechtstheorie und Rechtspraxis relevanten Kulturbegriffs
und einer Komplettierung und Konkretisierung der auf Weltebene geführten Gesamtdebatte um Universalität und kulturelle Relativität der Menschenrechte.
II. Praxeologischer Ansatz – Zur Interdependenz von Theorie und Praxis
Das Wechselverhältnis zwischen Menschenrechten und Kultur ist zum einen Gegenstand theoretischer Re? exionen im Rahmen eines klassisch rechtswissenschaftlichen
Diskurses, der – wie eingangs als erste Variante des Diskurses dargestellt – Überlegungen zu Universalität und kultureller Relativität der Menschenrechte anstellt. Das
Verhältnis von Recht und Kultur des Menschen ist zudem Gegenstand einer Theoriedebatte, die die empirisch forschende Ethnologie, im Speziellen die Rechtsethnologie,
anstellt. Deren Haltung begründet eine zweite Variante des Wissenschaftsdiskurses
zum Verhältnis von Recht und Kultur.
Darüberhinaus ist, wie eingangs aufgeworfen, eine Klärung des Verhältnisses von
Kultur, kultureller Diversität und Menschenrechten allgegenwärtige Herausforderung,
der sich die gerichtliche Menschenrechtspraxis zu stellen hat. Die Rechtspraxis ist in
der Lage, dem theoretischen Diskurs das einzelfallbezogene Material zu liefern, das
als Fundament theoretischer Denkmodelle dienen kann und anhand dessen sich argumentative Kohärenz und Stringenz der theoretischen Überlegungen messen lassen
können151. Die Unterschiedlichkeit von Individualantragstellern, Gesellschaften, Vertragsstaaten, Lebenssachverhalten und Rechtssystemen verlangen dem Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte ab, in seiner Rechtsprechung theoretische und methodische Prämissen im Umgang mit Kultur und kultureller Diversität aufzuwerfen.
Liefert die Spruchpraxis somit den Schauplatz, Theoriemodelle einer kritischen Würdigung zu unterwerfen, so ermöglichen jene Theoriemodelle, eine Außenperspektive
bei der Analyse der Rechtsprechung einzunehmen.
151 Vgl. zu Qualitätskriterien der Theoriebildung: Schaal/Heidenreich, Einführung in die Politischen Theorien der Moderne, S. 31.
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Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist insofern interdependent, als dass a priori
angestellte theoretische Überlegungen die Determinanten für eine strukturierte und
strukturierende Betrachtung der Praxis aufzeigen können152. Kernaspekte theoretischer Re? exionen bestimmen die Perspektive, aus der die Rechtspraxis analysiert
wird, und benennen das Ziel der kasuistischen Analyse. Der theoretische Diskurs dient
als „Wegbeschreibung“, an der sich die Analyse der Rechtsprechung orientiert. Neben
dieser deskriptiv-analytischen Komponente können Theoriemodelle Feststellungen
über das, was sein soll, beinhalten und insofern eine normative Dimension aufweisen153. Rechtsdogmatisch fruchtbar gemacht, vermögen theoretische Denkmodelle mit
abstrahierbarem normativem Gehalt, der Rechtspraxis Entscheidungskriterien für das
„‚Allgemeine’ und das ‚Typische der Fälle’“154 an die Hand zu geben, die diese bei der
Lösung des Einzelfalls aufgreifen kann.
Theorie und Praxis derart gegenüberzustellen, macht den hier gewählten Forschungsansatz zu einem sog. „praxeologischen Ansatz“: Praxeologisch ist der Ansatz,
weil sich das Verständnis von der hier problematisierten Interdependenz zwischen
Kultur und gerichtlichem Menschenrechtsschutz aus der Selbstdurchleuchtung der gerichtlichen Praxis gewinnt „(…) und das Ziel verfolgt, die implizite wissenschaftliche
Theorie dieser Praxis auf ein re? ektiertes Niveau zu erheben und das (…) (gerichtliche, P.W.) Handeln unter eine kritisch vermittelte Verantwortung zu stellen.“155 Maßstab für Selbstre? exion und Kritik der Praxis ist der zunächst gerichtspraxisferne Theoriediskurs. Der Anspruch der Arbeit, die Komplexität der Beziehung zwischen Recht
und Kultur sowie Theorie und Praxis umfassend zu re? ektieren, ohne die Stringenz
der Analyse im Perspektivenreichtum zu verlieren, verlangt die folgende Vorgehensweise.
III. Methodisches Vorgehen und Gang der Analyse
In methodischer Hinsicht wird eine rein hermeneutische Haltung eingenommen, d.h.,
dass der inhaltliche Gegenstand des Wissenschaftsdiskurses und der Rechtspraxis einer kritischen Auslegung unterworfen werden156. Die kurz skizzierte Wechselbeziehung zwischen Theorie und Praxis bedingt den Gang der Analyse: Die strukturierte
und strukturierende Analyse der Rechtsprechung setzt einen offengelegten Analysemaßstab voraus, an dem sich die kritische Würdigung der Rechtspraxis bemisst. Dieser Analysemaßstab soll anhand der vorangestellten Auswertung der theoretischen
152 Schaal/Heidenreich, Einführung in die Politischen Theorien der Moderne, S. 24.
153 Ebenda, S. 25 ff.
154 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaften, S. 123.
155 Derbolav, Praxeologische Grundlegung der Erziehungswissenschaft, in: Schaller (Hrsg.), Erziehungswissenschaft der Gegenwart – Prinzipien und Perspektiven moderner Pädagogik, Bochum 1979.
156 Die mit der Methode der Hermeneutik ebenfalls erfassbare Form des Diskurses und ein in chronologischer Analyse erfassbarer historischer Haltungswandel des Diskurses bleiben unberücksichtigt.
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References
Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.