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individuals and groups belonging to different cultures that leads to a deeper understanding of the other’s global perception.“149 Der politische Schutz von Menschenrechten,
Rechtsstaatlichkeit und Demokratieprinzip durch den Europarat soll auf allen Individuen und Gesellschaftsgruppen gemeinsamen, diskursiv erarbeiteten europäischen
Ordnungsprinzipien aufbauen. Das ursprünglich philosophische Konzept des interkulturellen Dialogs strebt die Erarbeitung transkultureller, d.h. über Raum und Zeit stehender, Schnittmengen an, indem sich die Dialogteilnehmer im Bewusstsein der eigenen und in Anerkennung der fremden Kulturbedingtheit von Werteordnungen und
Verhaltensweisen auf diskursive Art und Weise einem Konsens annähern150.
B. Thema des Forschungsprojekts und methodische Vorgehensweise
I. Fragestellung des Forschungsprojekts
Erwächst das Betreiben von interkulturellem Dialog angesichts der kulturellen Diversität seiner Mitgliedstaaten zur politischen Priorität des Europarats, so stellt sich die
Frage, wie der Europäische Gerichtshof mit jener kulturellen Diversität, die innerhalb
und zwischen europäischen Staaten und Gesellschaften vorherrscht, umgeht – d.h.,
welche rechtliche Priorität sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im
Streben nach Harmonisierung des europäischen Menschenrechtsschutzes setzt. Diese
Frage, hier aufgeworfen am Beispiel der Rechtspraxis des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte, eröffnet ein Spektrum weiterer grundlegender Fragen:
Welche Rolle spielen Kultur und kulturelle Diversität von Individuen, Gesellschaften und Staaten in einem internationalen gerichtlichen System zum Schutz der
Menschenrechte wie dem Europäischen Menschenrechtsschutzsystem?
Dürfen kulturelle Partikularitäten in einem gerichtlichen Verfahren, das beansprucht, auf dem Fundament universeller Menschenrechte und den rechtsstaatlichen Prinzipien der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit eine europäische Menschenrechtskultur zu etablieren, Berücksichtigung ? nden? In welchem Rahmen und
in welchem Umfang?
Angenommen, dass der Dimension der Kultur im gerichtlichen Verfahren Raum
eingeräumt wird, wer ist dann – im Bild des interkulturellen Dialogs – Dialogteilnehmer, d.h. maßgeblich und legitimiert, das Kultureigene, das Kulturtypische im
Rahmen von Rechtsinterpretation und -anwendung zu de? nieren? Der Antragsteller, der eine Menschenrechtsverletzung geltend macht? Die ihn umgebene Gesellschaft? Soziale Mehrheit oder Minderheit? Der Vertragsstaat, repräsentiert durch
149 Diese vom Europarat herangezogene De? nition von „interkulturellem Dialog“ ist als elektronisches Dokument abzurufen unter: http://www.coe.int/t/dg4/intercultural/concept_EN.asp (abgerufen am 06.08.2007, 14:35 Uhr).
150 Zum Begriff der Interkulturalität: Wierlacher, Interkulturalität, in: Wierlacher (Hrsg.), Handbuch interkultureller Germanistik, S. 22.
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nationale Autoritäten, d.h. Exekutive, Legislative und Judikative? Das entscheidende international besetzte Richterkollegium?
Wo liegt die Grenze zwischen förderungs- und schützenswerter kultureller Diversität in Rechtsinterpretation und -anwendung auf der einen und – aus europäischer
Sicht – inakzeptabler Unterschiedlichkeit auf der anderen Seite? Wie ist „Kultur“
einer Bewertung zu unterwerfen, d.h. wie und entlang welcher Determinanten ist
diese Grenze zu ziehen?
Im Kern berührt dieses Fragenspektrum, dessen Thematisierung Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, das Wechselverhältnis, in dem Kultur und (Menschen-)rechtsschutz im gerichtlichen Verfahren, speziell im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zueinander stehen. Die Analyse dieser Interdependenz
am Beispiel des europäischen Systems zum Schutz der Menschenrechte vorzunehmen,
dient einer Klärung des für Rechtstheorie und Rechtspraxis relevanten Kulturbegriffs
und einer Komplettierung und Konkretisierung der auf Weltebene geführten Gesamtdebatte um Universalität und kulturelle Relativität der Menschenrechte.
II. Praxeologischer Ansatz – Zur Interdependenz von Theorie und Praxis
Das Wechselverhältnis zwischen Menschenrechten und Kultur ist zum einen Gegenstand theoretischer Re? exionen im Rahmen eines klassisch rechtswissenschaftlichen
Diskurses, der – wie eingangs als erste Variante des Diskurses dargestellt – Überlegungen zu Universalität und kultureller Relativität der Menschenrechte anstellt. Das
Verhältnis von Recht und Kultur des Menschen ist zudem Gegenstand einer Theoriedebatte, die die empirisch forschende Ethnologie, im Speziellen die Rechtsethnologie,
anstellt. Deren Haltung begründet eine zweite Variante des Wissenschaftsdiskurses
zum Verhältnis von Recht und Kultur.
Darüberhinaus ist, wie eingangs aufgeworfen, eine Klärung des Verhältnisses von
Kultur, kultureller Diversität und Menschenrechten allgegenwärtige Herausforderung,
der sich die gerichtliche Menschenrechtspraxis zu stellen hat. Die Rechtspraxis ist in
der Lage, dem theoretischen Diskurs das einzelfallbezogene Material zu liefern, das
als Fundament theoretischer Denkmodelle dienen kann und anhand dessen sich argumentative Kohärenz und Stringenz der theoretischen Überlegungen messen lassen
können151. Die Unterschiedlichkeit von Individualantragstellern, Gesellschaften, Vertragsstaaten, Lebenssachverhalten und Rechtssystemen verlangen dem Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte ab, in seiner Rechtsprechung theoretische und methodische Prämissen im Umgang mit Kultur und kultureller Diversität aufzuwerfen.
Liefert die Spruchpraxis somit den Schauplatz, Theoriemodelle einer kritischen Würdigung zu unterwerfen, so ermöglichen jene Theoriemodelle, eine Außenperspektive
bei der Analyse der Rechtsprechung einzunehmen.
151 Vgl. zu Qualitätskriterien der Theoriebildung: Schaal/Heidenreich, Einführung in die Politischen Theorien der Moderne, S. 31.
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References
Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.