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Geleitwort von Christian Giordano
Multikulturalismus und Rechtspluralismus.
Eine sozialanthropologische Perspektive
Das vorliegende Buch von Patricia Wiater ist eine intelligente und zur Diskussion herausfordernde wissenschaftliche Arbeit, denn die Autorin setzt sich als Juristin mit der
Frage des Rechtspluralismus im Kontext europäischer Rechtsinstitutionen auseinander. In diesem Sinne gelingt es Patricia Wiater, neue Wege der Analyse zu skizzieren,
denn sie versucht in gekonnter Weise, das äusserst komplexe und von den Sozialwissenschaftlern oft angesprochene Phänomen des Rechtspluralismus in die für den Sozialanthropologen fremde Logik der Rechtswissenschaften zu übersetzen. Diese ungewöhnliche und schwierige Gratwanderung zwischen den Disziplinen erweist sich
allerdings für den Rechtsanthropologen als besonders interessant und ergiebig, wie
auch die folgenden Re? exionen, die aus einer konventionellen Perspektive etwas ketzerisch erscheinen mögen, aufzeigen sollen.
In diesem Zusammenhang muss zunächst geklärt werden, was die Sozialanthropologie unter Rechtspluralismus versteht. Ausgewiesenen Experten zufolge lässt sich der
Rechtspluralismus in zwei grundsätzliche Formen unterteilen: in eine minimalistische
und eine maximalistische Form. Der französische Rechtsanthropologe Norbert Rouland spricht deshalb von einer schwachen und einer starken Version (Rouland, 1991:
124-125). Im ersten Fall existieren unterschiedliche Rechtsmechanismen, die innerhalb eines einzigen von staatlichen Instanzen garantierten Rechtssystems auf identische Situationen angewandt werden. Die De? nition des Rechtspluralismus in der starken Version geht von der Vorstellung aus, dass innerhalb einer bestimmten Gesellschaft mehrere parallele Rechtsordnungen aufeinander stossen, einerseits staatliches
Recht, andererseits extrastaatliche Systeme von Rechtsnormen. Zwischen diesen verschiedenen Rechtsordnungen kann es Übereinstimmungen oder Abweichungen geben,
bzw. Entsprechungen oder Kon? ikte zwischen Normen und Sanktionen.
Beide De? nitionen sind jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht unproblematisch. Die schwache Version ist grundsätzlich ethnozentrisch, denn sie unterstellt, dass
Recht nur da existiert, wo es auch einen Staat gibt. Im besten Fall betrachtet sie somit
gewohnheitsrechtliche Instrumente, wie sie für segmentäre Gesellschaften typisch
sind, als primitive, niedrige Vorformen des Rechts. Die starke Version birgt hingegen
die Gefahr einer allzu radikal relativistischen Sichtweise, für die jegliche Form von
sozialer Norm gewissermassen schon als Recht gilt. Wenn alles recht ist, dann ist
nichts mehr Recht!
Bisher wurde die Frage nach den Möglichkeiten und der Angemessenheit einer of-
? ziellen Anerkennung bestimmter Formen von Rechtspluralismus in den okzidentalen
Gesellschaften kaum angesprochen. Ein fast einzigartiges Beispiel neueren Datums ist
die Erklärung des Erzbischofs von Canterbury. Er hatte die Idee formuliert, Elemente
und Mechanismen des islamischen Rechts ins britische Common Law zu integrieren.
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Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass der Vorschlag des ein? ussreichen und angesehenen Oberhauptes der anglikanischen Kirche eine grosse Polemik mit vielen
Missverständnissen entfacht hat.
Bis heute ist sowohl eine ernste wissenschaftliche als auch eine politische Auseinandersetzung mit dem Rechtspluralismus im europäischen Kontext ausgeblieben. Diese Tatsache dürfte darauf zurückzuführen, dass bisher in Europa und vor allem im
Westen des Kontinents die Praxis des Rechtspluralismus nur Zweifel und Argwohn
hervorgerufen hat. Rechtspluralismus wurde meistens als Anomalie oder als Zeichen
kultureller Rückständigkeit vormoderner und postkolonialer Gesellschaften angesehen. Diese abweisende Haltung hat gewiss etwas damit zu tun, dass die Idee der rechtlichen Vielfalt einen der zutiefst verankerten Mythen der okzidentalen Rechtsdoktrin
und zwar die interne Kohärenz und Einheitlichkeit sowie die überkulturelle, ja universelle Natur der westlichen Rechtssysteme in Frage stellt. Schon Max Weber, der wohl
als Jurist ausgebildet war und als Anwalt arbeitete, hatte die logische Systematisierung
des Rechts in formale juristische Begriffe (Weber, 1956: Bd. II, 476) als Grundlage für
eine rationale, berechenbare, transparente und daher gerechte Justiz angesehen und
gepriesen. Rechtspluralismus wird daher oft als eine unannehmbare Aufgabe solcher
Prinzipien angesehen, ohne dass dabei gefragt wird, ob und inwieweit okzidentale
Rechtssysteme wahrhaftig so kohärent sind. Er wird somit als eine konfuse Anhäufung
parallel funktionierender Justizinstitutionen dargestellt, die lediglich für nicht berechenbare, willkürliche und daher ungerechte Behandlungsweisen sorgen.
Aber in der späten Moderne, in der sich das Modell des Nationalstaats weltweit
durchgesetzt hat, ist der Rechtspluralismus, in welcher Form auch immer, in fast allen
Gesellschaften mit sichtbarer ethnischer und kultureller Vielfalt eine Realität. Er wird
jedoch meistens of? ziell nicht anerkannt, ja sogar ignoriert, verneint und heftig bekämpft, weil er als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und vor allem auf
den unantastbaren Grundsatz der Gleichheit aller Bürger betrachtet wird. In diesem
Zusammenhang sollte man sich allerdings fragen, was man unter Gleichheit versteht,
denn man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass heute rechtliche Gleichheit,
wie der britisch-indische Politphilosoph Bhikhu Parekh in subtiler Weise behauptet
hat, immer häu? ger mit Uniformität verwechselt wird, was die Anerkennung kultureller Differenzen erschwert oder gar verunmöglicht (Parekh 2006).
Rechtspluralismus gibt es nicht nur in den so genannten Entwicklungsgesellschaften oder in den zu Recht oder Unrecht so bezeichneten Schwellenländern in denen
einerseits westliches kodi? ziertes Recht bzw. Common Law und andererseits traditionelle Rechtsformen aufeinander treffen. Wie auch das vorliegende Buch von Patricia
Wiater zeigt, sind mittlerweile rechtspluralistische Situationen auch in unseren westlichen Gesellschaften eine mindestens of? ziöse Realität geworden, die nicht selten
bewusst ignoriert oder verschleiert wird, weil sie schlicht und ergreifend unbequem
ist.
Diese ziemlich heikle Argumentation des Anthropologen kann nun in noch provozierender Art, wie folgt, weitergeführt werden. Die meisten Theoretiker der Globalisierung wollten uns glauben lassen, dass sich die Welt inmitten eines epochalen Umbruchs be? ndet, in dem sich alle Gesellschaften schrittweise einander annähern und
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sich dementsprechend immer mehr gleichen. Die begeisterten Befürworter eines solchen Prozesses sahen in der Globalisierung eine Möglichkeit, die Welt zu vereinheitlichen und sie somit chancengleicher und daher gerechter zu gestalten: Globalisierung
wäre in diesem Fall eine Garantie für weltweite Demokratisierung (Fukuyama, 1992).
Die radikalen Kritiker hingegen befürchteten, dass dieser Prozess die Menschheit in
eine öde, stumpfe, eindimensionale Zukunft führen wird, die man mit dem Ausdruck
Macdonaldisierung charakterisieren kann: Globalisierung käme in diesem Fall der
Verwirklichung eines erschreckenden eisernen Kä? gs gleich (Ritzer, 1996). Beide untereinander konträre Ansätze waren allerdings darüber einig, dass das Zeitalter der
kulturellen Vielfalt zu Ende geht.
Spätestens seit Featherstone wissen wir aber, dass die Realität nuancierter und facettenreicher ist – vor allem was die erwartete Au? ösung kultureller Unterschiede betrifft
– und dass die Globalisierung sogar zu einer erhöhten Sensibilität für Differenzen im
allgemeinen führt (Featherstone 1993: 169ff.). Die Globalisierung hat zusammen mit
der demographischen Entwicklung aber auch die faktische Zunahme der kulturellen
Vielfalt in ganz Europa und vor allem in seinen Immigrationsländern vorangetrieben.
Das moderne europäische Staatensystem hat sich seit dem 17. Jahrhundert als eine
hoch ef? ziente politische Errungenschaft erwiesen, die sowohl befriedete Nationalterritorien als auch die Erhöhung der sozialen Kohäsion unter den Individuen und zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen innerhalb der einzelnen institutionellen
Flächenstaaten garantiert hat. Die modernen Staaten Europas beruhen zugleich auf
dem Ideal der kulturellen bzw. zivilen Homogenität, das seine Wurzeln, um eine Formel von Bhikhu Parekh zu paraphrasieren, in monistischen Gesellschaftsvorstellungen
liberaler Provenienz hat (Parekh, 2006: 33 ff.)
Es ist heutzutage angebracht, sich zu fragen, ob und inwieweit die modernen Staaten die von der Globalisierung verursachte erhöhte Mobilität und kulturelle Komplexität mit den alt bewährten Instrumenten in voll befriedigender Weise noch managen
kann. Meiner Meinung nach ist eine eher pragmatische und zugleich etwas pessimistische Antwort gerechtfertigt. Die europäischen Staaten werden sich in der Zukunft
mit der Anerkennung kultureller Differenzen der einzelnen Minderheiten und vor allem der Immigrationsgemeinschaften stärker auseinandersetzen müssen, da es unwahrscheinlich ist, dass die Totalität der Individuen den Assimilations- bzw. den Integrationsweg automatisch und frei wählen wird. Die tiefe Einbettung der einzelnen
Menschen in ihren Herkunftskulturen darf also nicht unterschätzt werden.
Wenn man dieses Szenario weiterdenkt, dann ist es nicht auszuschliessen, dass im
Rahmen eines staatlich bzw. supranational garantierten Rechtssystems in der Zukunft
mehrere, auch nicht westliche Rechtstraditionen in integrierter Weise durchaus miteinander koexistieren können. Selbstverständlich handelt es sich um partielle, bedingte
und kontrollierte Integrierungen. Vor allem müssen die geeigneten Vorränge und Hierarchien zwischen verschiedenen Rechtssegmenten geschaffen werden, damit die Gültigkeit der grundlegenden Menschenrechte, der jeweiligen Verfassung und der Grundsätze der demokratischen Regeln garantiert und respektiert wird. Es muss aber auch
gewährleistet werden, dass die Individuen den juristischen Mechanismus sowie die
entsprechenden Verfahrensweisen je nach Rechtssensibilität frei wählen dürfen.
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Weisen also die spätmodernen sozialen Kon? gurationen Europas in Punkto kultureller Vielfalt immer mehr Ähnlichkeiten mit den vormodernen und den postkolonialen Gesellschaften auf? Suggeriert uns also das Buch von Patricia Wiater, dass die
immer wieder thematisierte Trennung zwischen the West und the Rest dabei ist, sich
als anachronistisch zu erweisen?
Christian Giordano
Professor für Sozialanthropologie an der Universität Fribourg
Bibliographie
Rouland, Norbert, 1991, Aux con? ns du droit. Anthropologie juridique de la modernité, Paris
(Odile Jacob).
Featherstone, Mike, 1990, Global Culture: An Introduction, in: Featherstone, Mike, ed., 1990,
Global Culture: Nationalism, Globalization and Modernity, London, Thousand Oaks, New
Delhi (Sage Publications): 1-14.
Fukuyama, Francis, 1992, The End of History and the Last Man, New York (Macmillan: Free
Press).
Hefner, Robert, (Ed.), 2001, The Politics of Multiculturalism: Pluralism and Citizenship Malaysia, Singapore and Indonesia, Honolulu (University of Hawai’i Press).
Parekh, Bhikhu, 2006, Rethinking Multiculturalism: Cultural Diversity and Political Theory,
New York and Basinstoke (Palgrave Macmillan)
Ritzer, George, 1996, The McDonaldization of Society, An Investigation into the Changing Character of Contemporary Social Life. Thousand Oaks, London, New Delhi (Pine Forge Press)
(Revised Edition).
Weber, Max, 1956, Wirtschaft und Gesellschaft, 2 Bde, Tübingen (J.C.B. Mohr & Paul Siebeck).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.