Leipziger Schriften zum Völkerrecht,
Europarecht und ausländischen öffentlichen Recht
Herausgegeben von
Prof. Dr. Helmut Goerlich
Prof. Dr. Franz Häuser
Prof. Dr. Markus Kotzur
Institut für Völkerrecht, Europarecht und ausländisches
öffentliches Recht der Universität Leipzig
Band 15
Patricia Wiater
Kulturpluralismus als
Herausforderung für
Rechtstheorie und Rechtspraxis
Eine völkerrechtsdogmatische und ethnologische
Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR
Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung zu
den ökologischen Menschenrechten auf europäischer und
verfassungsrechtlicher Ebene
Nomos
1. Auflage 2009
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2009. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und
der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 2008
Zugl.: Straßburg, Univ., Diss., 2008
ISBN 978-3-8329-4134-5
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds
Wissenschaft der VG WORT
5
Meinen Eltern
6
7
Inhalt
Geleitwort von Christian Giordano 15
Geleitwort von Constance Grewe 19
Vorwort 23
Einleitung 25
A. Universalität und kulturelle Relativität der Menschenrechte im Diskurs 25
I. Der Rekurs auf die Universalität der Menschenrechte 25
1. Universalität der Menschenrechte im politikwissenschaftlichen
Diskurs 25
2. Universalität der Menschenrechte im völkerrechtlichen Diskurs 28
a) Universalität der Menschenrechte aus rechtshistorischer und
rechtstheoretischer Perspektive 28
b) Universalität der Menschenrechte im rechtsdogmatischen
und rechtspraktischen Diskurs 31
II. Der Rekurs auf die kulturelle Relativität der Menschenrechte 35
1. Kulturbezogene Einwände gegen die Universalität der
Menschenrechte 35
a) Kulturelle Relativität aus rechtstheoretischer und
rechtsphilosophischer Perspektive 36
b) Kulturelle Relativität in der Menschenrechtspraxis 41
2. Wissenschaftliche Würdigung kulturbezogener Einwände
im Menschenrechtsdiskurs 43
III. Die Debatte um Universalität und kulturelle Relativität der
Menschenrechte – Hinführung zur Thematik des Forschungsprojekts 47
1. Offene Fragen im Diskurs um Universalität und kulturelle
Relativität 47
2. Re? exionen zur kulturellen Diversität im Rahmen des Europarats:
Europäischer Menschenrechtsschutz als Fundament eines
interkulturellen Dialogs 49
B. Thema des Forschungsprojekts und methodische Vorgehensweise 52
I. Fragestellung des Forschungsprojekts 52
II. Praxeologischer Ansatz – Zur Interdependenz von Theorie und Praxis 53
III. Methodisches Vorgehen und Gang der Analyse 54
8
1. Teil – Das Verhältnis von Kultur und Menschenrechten aus
ethnologischer Perspektive 59
A. Einführung 59
I. Grundlegung zur (rechts-)ethnologischen Forschung – Gegenstand
und Methoden 59
1. Ethnologie und Kulturforschung im 21. Jahrhundert 59
a) Forschungsgegenstand der Ethnologie 59
b) Theoriebildung und Methodik in der ethnologischen
Forschung 62
c) Forschungsgegenstand der Rechtsethnologie 63
2. Kulturtheorien im historischen Wandel 64
a) Evolutionismus im 19. Jahrhundert 65
b) Kritik am Evolutionismus im 20. Jahrhundert 67
II. Anfänge der ethnologischen Haltung zum internationalen
Menschenrechtsschutz 70
1. Stellungnahme der American Anthropological Association zur
Allgemeinen Menschenrechtserklärung 70
2. Einwände gegen die Stellungnahme der American Anthropological
Association 73
B. Das Verhältnis von Kultur und Menschenrechten aus gegenwärtiger
ethnologischer Perspektive 76
I. Empirische Dimensionen 76
1. Interdependenzen von Individuum, Gesellschaft, Kultur und
Recht – empirische Dimensionen des Kulturrelativismus 76
a) Kulturrelativismus, Enkulturation und internationaler
Menschenrechtsschutz 76
b) Prozess der Enkulturation 79
2. Individuum und Gesellschaft im Spannungsfeld 84
3. Kultur im Spannungsfeld 87
a) Inhalte des Kulturkonzepts 87
b) Kennzeichen des Kulturkonzepts 91
4. Recht im Spannungsfeld 95
a) Inhalte des Rechtskonzepts – Rechtspluralismus 95
b) Kennzeichen des Rechtskonzepts 100
5. Internationaler Menschenrechtsschutz im Spannungsfeld 107
a) Gegenstand des internationalen Menschenrechtssystems 107
b) Internationaler Menschenrechtsschutz im kulturellen Kontext 108
9
II. Normative Dimensionen 114
1. Interdependenzen von Individuum, Gesellschaft, Kultur
und Recht – normative Dimensionen des Kulturrelativismus 114
2. Negative Schlussfolgerungen aus den Interdependenzen von
(Menschen-)Rechtssystem und Kultursystem 116
3. Positive Schlussfolgerungen aus den Interdependenzen von
(Menschen-)Rechtssystem und Kultursystem 122
a) Herausforderungen bei der Normbegründung 122
b) Herausforderungen bei der staatlichen Rechtsetzung und
Rechtspraxis 125
c) Herausforderungen in der Praxis internationaler Gerichte
zum Schutz der Menschenrechte 132
III. Fazit zur ethnologischen Perspektive auf das Verhältnis von Kultur
und Menschenrechten – ein Beitrag zum Diskurs um Universalität
und kulturelle Relativität der Menschenrechte 136
2. Teil – Kultur- und Rechtspluralismus in der Rechtsprechung
des EGMR 141
A. Einführung 141
I. Zusammenspiel von Ethnologie und Völkerrecht bei der
Rechtsprechungsanalyse 141
II. Ethnologische Parameter für die Rechtsprechungsanalyse 142
1. Erkenntnisinteresse bei der Rechtsprechungsanalyse 142
2. Herleitung und Begründung der Fallauswahl 144
3. Aufbau und Methodik der Fallanalyse – zur Durchführung
einer „Kulturdiskursanalyse“ 146
B. Kultur- und rechtspluralistische Kon? ikte im Verfahren vor dem EGMR 149
I. Einbringen von Kultur- und Rechtspluralismus durch den Antragsteller 149
1. Religiöse Normativität als Ausdruck gesellschaftlicher
Normativität im Kon? ikt mit staatlicher Legalität 151
a) Systematische Darstellung rechtspluralistischer Kon? ikte
im Kontext religiöser Normativität 151
aa) Art. 8 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 151
bb) Art. 9 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 152
cc) Art. 10 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 158
dd) Art. 11 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 159
10
ee) Art. 2, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 161
b) Auswertung rechtspluralistischer Kon? ikte im Kontext
religiöser Normativität 163
2. Traditions- und gewohnheitsrechtliche Normativität als Ausdruck
gesellschaftlicher Normativität im Kon? ikt mit staatlicher Legalität 167
a) Systematische Darstellung rechtspluralistischer Kon? ikte im
Kontext traditions- und gewohnheitsrechtlicher Normativität 167
aa) Art. 8 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 168
bb) Art. 11 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 170
cc) Art. 2, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 175
dd) Art. 3, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 176
b) Auswertung rechtspluralistischer Kon? ikte im Kontext
traditions- und gewohnheitsrechtlicher Normativität 178
3. Sonstige Formen gesellschaftlicher Normativität im Kon? ikt
mit staatlicher Legalität 184
a) Systematische Darstellung rechtspluralistischer Kon? ikte
im Kontext gesellschaftlicher Normativität i.w.S. 184
aa) Art. 2 und Art. 3 EMRK im rechtspluralistischen
Spannungsfeld 185
bb) Art. 8 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 189
cc) Art. 10 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 197
dd) Art. 12 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 200
ee) Art. 2, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 202
b) Auswertung rechtspluralistischer Kon? ikte im Kontext
gesellschaftlicher Normativität i.w.S. 203
II. Einbringen von Kultur- und Rechtspluralismus durch den
Vertragsstaat 210
1. Rechtspluralistische Kon? ikte im Kontext des staatlichen Berufens
auf den „Schutz der Moral“ in Art. 8 – 11 Abs. 2 EMRK 213
a) Systematische Darstellung rechtspluralistischer Kon? ikte
im Kontext des staatlichen „Schutzes der Moral“ 213
aa) Art. 8 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 213
bb) Art. 10 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 216
cc) Art. 11 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 220
b) Auswertung rechtspluralistischer Kon? ikte im Kontext des
staatlichen „Schutzes der Moral“ 222
11
2. Rechtspluralistische Kon? ikte im Kontext des staatlichen
Berufens auf den „Schutz der religiösen Gefühle anderer“
in Art. 8 – 11 Abs. 2 EMRK 226
a) Systematische Darstellung rechtspluralistischer Kon? ikte
im Kontext des staatlichen „Schutzes der religiösen Gefühle
anderer“ 226
aa) Art. 9 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 226
bb) Art. 10 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 227
b) Auswertung rechtspluralistischer Kon? ikte im Kontext des
staatlichen „Schutzes der religiösen Gefühle anderer“ 231
III. Fazit zu kultur- und rechtspluralistischen Kon? ikten im Verfahren
vor dem EGMR 232
C. Lösungstechniken für kultur- und rechtspluralistische Kon? ikte in der
Rechtsprechung des EGMR 236
I. Zur Übersetzung kultur- und rechtspluralistischer Kon? ikte in die
Prüfungssystematik der Europäischen Menschenrechtskonvention 236
1. Konventionsrechte und -freiheiten als „ordre public européen“
und als „europäische Kulturordnung“ 236
2. Konstituierungsprozess der „europäischen Kulturordnung“ 239
II. Kon? iktlösung in der Struktur der Konventionsanwendung 242
1. Kon? iktlösung im Kontext der Bestimmung des Schutzbereichs 242
a) Systematische Darstellung der Kon? iktlösung im Einzelfall 242
aa) Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK im rechtspluralistischen
Spannungsfeld 242
bb) Art. 10 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 245
cc) Art. 12 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 246
dd) Art. 2, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 247
b) Abstrahierbare Prüfungsparameter und Auswertung der
Kon? iktlösung 248
2. Kon? iktlösung im Kontext des Vorliegens eines Eingriffs 254
a) Systematische Darstellung der Kon? iktlösung im Einzelfall 254
aa) Art. 3 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 254
bb) Art. 8 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 255
cc) Art. 9 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 256
dd) Art. 2, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 258
b) Abstrahierbare Prüfungsparameter und Auswertung der
Kon? iktlösung 259
12
3. Kon? iktlösung im Kontext des Vorliegens eines legitimen
Eingriffsziels 262
a) Systematische Darstellung der Kon? iktlösung im Einzelfall 262
b) Abstrahierbare Prüfungsparameter und Auswertung der
Kon? iktlösung 263
4. Kon? iktlösung im Kontext der Verhältnismäßigkeitsprüfung –
„Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft“ 264
a) Abstrahierbare Prüfungsparameter 264
aa) Herleitung und Begründung der Kontrollaufgaben
von EGMR und Vertragsstaat 265
bb) Gegenstand und Umfang der Kontrollaufgaben
des EGMR 272
cc) Normative Parameter des EGMR bei der Ausübung
seiner Kontrollaufgaben 277
b) Systematische Darstellung der Kon? iktlösung im Einzelfall 284
aa) Art. 8 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 285
bb) Art. 9 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 293
cc) Art. 10 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 297
dd) Art. 11 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 307
ee) Art. 12 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 315
c) Auswertung der Kon? iktlösung im Kontext der
Notwendigkeitsprüfung 315
aa) Auswertung der abstrahierbaren Prüfungsparameter 315
bb) Auswertung der Anwendung im Einzelfall 320
5. Kon? iktlösung im Kontext des Bestehens und Erfüllens
staatlicher Gewährleistungsp? ichten („positive obligations“) 324
a) Systematische Darstellung der Kon? iktlösung im Einzelfall 324
aa) Art. 8 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 324
bb) Art. 11 EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 332
cc) Art. 2, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 333
dd) Art. 3, 1. Zusatzprotokoll der EMRK im rechtspluralistischen Spannungsfeld 335
b) Abstrahierbare Prüfungsparameter und Auswertung
der Kon? iktlösung 337
III. Fazit zu den Lösungstechniken für kultur- und rechtspluralistische
Kon? ikte in der Rechtsprechung des EGMR 341
13
3. Teil – Eine Konfrontation völkerrechtlicher und ethnologischer
Grundsatzre? exionen zu Kultur- und Rechtspluralismus 349
A. Ethnologische Anregungen zum Umgang des Vertragsstaats und des
EGMR mit kultur- und rechtspluralistischen Kon? ikten 349
B. Völkerrechtliche Parameter für den Umgang von Staat und EGMR
mit kultur- und rechtspluralistischen Kon? ikten 351
I. Völkerrechtliche Möglichkeiten und Grenzen eines interdisziplinären
Austausches: Staatensouveränität, Subsidiarität und Beweislast 351
II. Staatensouveränität und Subsidiarität des europäischen
Menschenrechtsschutzes 353
1. Herleitung des Grundsatzes der Subsidiarität 353
2. Bedeutung des Grundsatzes der Subsidiarität 357
3. Zum Wandel des Souveränitätskonzepts und zur völkerrechtsdogmatischen Integrierbarkeit ethnologischer Anregungen 360
III. Beweislast und Beweismaß im Verfahren vor dem EGMR 368
1. Verfahrensrechtliche Vorgaben im Prozess vor dem EGMR 368
2. Zur völkerprozessrechtlichen Realisierbarkeit ethnologischer
Anregungen im Verfahren vor dem EGMR 371
Zusammenfassung 374
Literaturverzeichnis 389
Anhang 405
14
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Der Kulturpluralismus, der gegenwärtige Gesellschaften prägt, stellt Staat, Individuum und EGMR vor Herausforderungen: Der Staat ist angehalten, das Spannungsfeld, das bisweilen zwischen staatlichem Recht und den Verhaltenspostulaten soziokultureller Normativität (Beispiel muslimisches Kopftuch) besteht, in seinem Rechtssystem zu lösen – ohne allein der ethnischen oder sozialen Mehrheit gerecht zu werden. Das Individuum befindet sich bei einem Widerspruch zwischen staatlichem Recht und „seiner Kultur“ in einem „Kulturkonflikt“, der notwendigerweise die Verletzung einer der anwendbaren Handlungsnormen – staatlicher oder nicht-staatlicher Art – bedingt. Der EGMR ist in derartigen Fällen herausgefordert, über den Konventionsschutz von Antragstellern zu entscheiden, deren Kulturwerte und -praktiken auf nationaler Ebene Restriktionen ausgesetzt sind.
Die Untersuchung zeigt systematisch verschiedene Formen kulturpluralistischer Konflikte nationaler und internationaler Natur auf. Sie erarbeitet, auf welche methodische Art und Weise der EGMR durch die Anwendung der EMRK eine „europäische Kulturordnung“ schafft, die das Zusammenspiel von staatlichem Recht und pluralistischer gesellschaftlicher Kultur auf nationaler Ebene prägt.