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E) Einige Bemerkungen zu methodischen Schranken für eine Nichtanwendbarkeit
des § 651 S. 1 BGB
Wie im Rahmen der einzelnen Sachprobleme noch darzustellen sein wird, besteht in
der Literatur und mittlerweile auch bei einigen Gerichten vielfach das Bemühen,
den Anwendungsbereich des § 651 S. 1 möglichst restriktiv auszulegen, insbesondere soweit es Fallgruppen betrifft, die im bisherigen Recht eindeutig dem Werkvertragsrecht unterfielen.168
Für solche Versuche setzt die Methodenlehre jedoch prinzipielle Grenzen: Es
kann beispielsweise nicht einfach argumentiert werden, das Kaufrecht passe nicht
auf die eine oder andere nunmehr von § 651 S. 1 erfasste Fallgruppe, so dass Werkvertragsrecht anzuwenden sei.169 Die in § 651 S. 1 niedergelegte gesetzgeberische
Entscheidung besagt letztlich nichts anderes, als dass die Normen des Kaufrechts
von Gesetzes wegen grundsätzlich als passend zu gelten haben, soweit ein Fall
unter § 651 S. 1 zu subsumieren ist. Dies geht der »nur« rechtspolitischen Auffassung des Gesetzesanwenders, dass der Gesetzgeber zu weit gegangen sei, grundsätzlich vor.
Natürlich ist es möglich und auch erforderlich, sich zu fragen, ob die Normen, die
nach einer ersten Subsumtion unter § 651 S. 1 auf den Vertrag anzuwenden wären,
»passen« und ob es andernfalls einen Weg gibt, im Rahmen der erlaubten Methoden
von diesem zunächst gefundenen Ergebnis ganz oder teilweise abzuweichen. Da
dem Gesetz aber (schon vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung) grundsätzlich zu
unterstellen ist, dass es der Gerechtigkeit genügende Lösungen ermöglicht, kann
diese »Suche nach der Gerechtigkeit« aber nur ein die Auslegung mitbestimmender
Faktor sein, der innerhalb der Auslegungsregeln zu berücksichtigen ist, aber kein
eigenes Auslegungskriterium darstellt.170 Wer »nur« nach der Einzelfallgerechtigkeit sucht, verkehrt nicht nur das Verhältnis von Tatbestand und Rechtsfolge in sein
Gegenteil, er verletzt auch das Normsetzungsmonopol des Gesetzgebers, indem er
subjektive Einschätzungen vorschnell in die Beurteilung einfließen lässt, ohne dass
der gesetzgeberische Wille berücksichtigt wurde.171
Wer auf einen bestimmten Vertrag § 651 S. 1 nicht anwenden möchte, muss
daher entweder belegen, dass sich der Vertrag nicht auf die Lieferung herzustellender oder zu erzeugender beweglicher Sachen richtet, oder er muss – falls im Rahmen
der erlaubten Auslegungsmethoden an einer Subsumtion unter § 651 S. 1 kein Weg
168 Vgl. z.B. die Ausführungen zur Erfassung von Verträgen über unvertretbare Sachen und die dort
zitierten Nachweise: Teil 2 Kap. 1, B) IV.
169 Exemplarisch für eine solche Argumentationsweise (Kaufrecht passe nicht auf Verträge über die
individuelle Anfertigung einer Sache, weswegen Werkvertragsrecht anzuwenden sei) H. Beckmann DStR 2006, 1329 f.
170 Larenz/Canaris Methodenlehre S. 168 ff.
171 Larenz/Canaris Methodenlehre S. 168 ff.; vgl. auch speziell zur Problematik des § 651 S. 1 Thewalt S. 14 ff.
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vorbeiführt – belegen, dass die Voraussetzungen für eine Rechtsfortbildung vorliegen.172 Die Anforderungen, welche die Methodenlehre hierfür stellt, sind freilich
recht hoch. Diese Anforderungen sind aber unbedingt zu respektieren.
Bei vielen Sachproblemen wird es daher nicht möglich sein, ein der möglicherweise berechtigten rechtspolitischen Kritik entsprechendes Ergebnis zu erzielen.
Hier muss sich mit dem methodengerechten Ergebnis zufrieden gegeben werden.
Um den Vorrang der gesetzgeberischen Entscheidung nicht zu umgehen, reicht es
jedenfalls nicht aus, wenn als einzig tragfähiges Argument einer die Anwendbarkeit
des § 651 S. 1 ablehnenden »Auslegung« oder »Reduktion« letztlich doch nur die
(subjektive) Erkenntnis bleibt, dass die Normen des Kaufrechts auf einen konkreten
Fall nicht so gut passen wie die des Werkvertragsrechts. Kurz: ein rein rechtsfolgenorientierter Umgang mit § 651 S. 1 ist unzulässig.
172 Vgl. Larenz/Canaris Methodenlehre S. 168 ff.
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References
Zusammenfassung
§ 651 BGB ist durch die Schuldrechtsreform grundlegend verändert worden. Während zuvor für die Anwendbarkeit des Kaufrechts letztlich entscheidend war, ob der Vertrag im Schwerpunkt kauftypisch ist, scheint nunmehr nur maßgeblich zu sein, ob eine bewegliche Sache zu liefern ist, selbst wenn sie nach individuellen Vorgaben herzustellen ist. Diese Abgrenzung wird vielfach als unbefriedigend empfunden, gerade weil sie nicht typologisch, sondern nur anhand von (nur scheinbar einfach zu bestimmenden) Äußerlichkeiten erfolgt. Der Autor untersucht zum einen den Anwendungsbereich der neuen Norm. Die Probleme liegen hier u.a. im Baurecht, bei komplexen Maschinen (Anlagenbau) und bei der Abgrenzung zu geistigen Leistungen. Problematisch sind wegen Bezügen zum Sachenrecht auch Fälle, bei denen der maßgebliche Stoffanteil vom Besteller gestellt wird. Zum anderen untersucht der Autor die z.T. praktisch sehr gravierenden Rechtsfolgen und inwiefern vertragliche Abweichungen möglich sind. Dabei legt er vor dem europäischen Hintergrund (Verbrauchsgüterkaufrichtlinie) dar, welche methodischen Grenzen einer restriktiven Auslegung gesetzt sind. Das Werk ist damit zugleich ein wichtiger Beitrag zur Dogmatik der (überschießenden) Richtlinienumsetzung.