190
die vergaberechtlichen Grundsätze auch den Mitwirkungspflichten der Pflegebedürftigen nicht entgegen694. Sie lassen die Mitwirkungspflichten vielmehr unberührt.
Die Grundsätze der Vorsorge und die vergaberechtlichen Grundsätze schließen
einander nicht aus. Eine Anwendung des Vergaberechts auf den Bereich der Vorsorge kann also nicht von vornherein aufgrund unterschiedlicher Grundsätze ausgeschlossen werden.
V. Grundsätze der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen und Vergaberecht
Die Grundsätze der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen bestehen aus
dem Grundsatz der Teilhabe, dem Wunsch- und Wahlrecht, dem persönlichen Budget und dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit695.
Der Grundsatz der Teilhabe fördert die Selbstbestimmung behinderter und von
Behinderung bedrohter Menschen und deren gleichberechtigte Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft. Daher werden die Sozialleistungen unabhängig von der Ursache
der Behinderung gewährt. Er dient der Gleichbehandlung der Sozialleistungsberechtigten indem er allen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
ermöglicht. Aus diesem Grund entspricht dieser Grundsatz unter anderem den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 GG und steht nicht mit den
vergaberechtlichen Grundsätzen im Widerspruch. Der Sozialleistungsberechtigte
wird in seinem Recht auf Teilhabe nicht eingeschränkt, wenn die vergaberechtlichen
Grundsätze angewendet werden.
Der Grundsatz vom Wunsch- und Wahlrecht des SGB IX ist stärker ausgeformt
als in den übrigen Büchern des Sozialgesetzbuches. Der Wortlaut des § 9 SGB IX
sieht vor, dass berechtigten Wünschen des Sozialleistungsberechtigten entsprochen
wird, während in den anderen Büchern des Sozialgesetzbuches solchen Wünschen
lediglich entsprochen werden soll. Dennoch führt diese stärkere Ausformung nicht
zu einem Ausschluss der vergaberechtlichen Grundsätze. Der Grund dafür besteht
darin, dass auch das Wunsch- und Wahlrecht des SGB IX nicht vorbehaltlos gewährleistet wird und damit vergaberechtskonform ausgelegt werden kann. Es steht
zwar nicht unter einem direkt in § 9 SGB IX niedergelegten Mehrkostenvorbehalt,
aber dennoch gilt laut § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB IX im Übrigen § 33 SGB I. Demnach
werden nur berechtigte Wünsche berücksichtigt, soweit sie angemessen sind. Im
Rahmen dieser sozialrechtlich vorgesehenen Einschränkung können bereits vergaberechtliche Grundsätze über Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden. Umgekehrt kann auch im Vergabeverfahren das Wunsch- und Wahlrecht des
Sozialleistungsberechtigten als vergabefremder Zweck berücksichtigt werden. Insofern kann ein möglicher Konflikt zwischen den vergaberechtlichen Grundsätzen und
694 Siehe 4. Teil, B. I.
695 Siehe 1. Teil, B. V.
191
dem Grundsatz vom Wunsch- und Wahlrecht des SGB IX schonend aufgelöst werden, ohne dass es zu einem Ausschluss wegen entgegenstehender Grundsätze
kommt.
Der Grundsatz vom persönlichen Budget des SGB IX schließt die Anwendung
des Vergaberechts aus, weil es keine Rechtsbeziehung zwischen Sozialleistungsträger und Sozialleistungserbringer gibt, die dem Vergaberecht unterliegen könnte696.
Der auch im SGB IX geregelte Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit
steht nicht im Widerspruch zu den vergaberechtlichen Grundsätzen697.
Insgesamt schließen sich die Grundsätze der Rehabilitation und die vergaberechtlichen Grundsätze von Wettbewerb, Transparenz, Gleichbehandlung und Wirtschaftlichkeit nicht aus. Eine Anwendung des Vergaberechts auf den Bereich der Rehabilitation ist also nicht bereits wegen unterschiedlicher Grundsätze ausgeschlossen.
B. Sozialleistungsträger als öffentliche Auftraggeber
Das Vergaberecht kann nur Anwendung auf die sozialrechtliche Leistungserbringung finden, wenn daran öffentliche Auftraggeber beteiligt sind. Die vielfältigen in
den zwölf Büchern des SGB genannten Sozialleistungsträger kommen dabei als
öffentliche Auftraggeber im Sinne des Vergaberechts in Betracht.
I. Sozialleistungsträger der allgemeinen Vorschriften
Zuständige Sozialleistungsträger für die allgemeinen Sozialleistungen sind gemäß
§ 12 SGB I die in den §§ 18 bis 29 SGB I genannten Körperschaften, Anstalten und
Behörden. Wie diese voneinander abzugrenzen sind, ergibt sich nach § 12 Satz 2
SGB I aus den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuches. Damit nennt § 12 SGB I
alle Sozialleistungsträger der 12 Bücher des Sozialgesetzbuches. Bereits aus dieser
Vorschrift wird daher deutlich, dass es keinen eigenständigen Sozialleistungsträger
für den Bereich des SGB I gibt. Die Aufklärung, Beratung oder Auskunft im Sinne
des SGB I werden durch die übrigen Sozialleistungsträger der SGB II bis XII, auf
die in §§ 18 bis 29 SGB I verwiesen wird, erbracht.
Im SGB X sind lediglich Vorschriften über das Sozialverwaltungsverfahren und
den Sozialdatenschutz geregelt. Einen konkreten für die Durchführung des Sozialverwaltungsverfahrens zuständigen Sozialleistungsträger gibt es nicht. Ebenso regelt
das SGB X keine sozialen Dienstleistungen. Insgesamt gibt es also weder im SGB I
noch im SGB X einen besonderen Sozialleistungsträger, der den vergaberechtlichen
Vorschriften über öffentliche Auftraggeber unterliegen könnte.
696 Siehe 4. Teil, B. II.
697 Siehe 4. Teil, B. II.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Müssen soziale Dienstleistungen öffentlich ausgeschrieben werden? Die Frage wird dahingehend beantwortet, dass nicht alle sozialen Dienstleistungen unter das Vergaberecht fallen. Teilweise handelt es sich bei sozialen Dienstleistungen um vergaberechtsfreie Dienstleistungskonzessionen.
Die Autorin analysiert die Auftraggebereigenschaft der Sozialleistungsträger und untersucht ausführlich, welche sozialen Dienstleistungen dem Vergaberecht unterliegen und welche als Dienstleistungskonzessionen einzuordnen sind. Abschließend werden die Anforderungen an die konkrete Auftragsvergabe dargestellt.
Das Werk wendet sich nicht nur an wissenschaftlich interessierte Leser, sondern auch an Personen und Körperschaften, die praktisch mit der Beschaffung sozialer Dienstleistungen betraut sind. Mit der präzisen Herausarbeitung der einzelnen sozialen Dienstleistung und deren detailliert begründeten vergaberechtlichen Einordnung, leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Beschaffung sozialer Dienstleistungen und ist damit für den Praktiker in besonderem Maße geeignet.