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auszulegen452. Sie sind gemäß Art. 300 Abs. 7 EG ein integraler Bestandteil der
Gemeinschaftsrechtsordnung und gehen den europäischen Sekundärrechtsakten
vor453. Eine unmittelbare Wirkung einzelner Bestimmungen des GPA kommt jedoch
nach der Rechtsprechung des EuGH zu den WTO-Übereinkommen nicht in Betracht454.
Derzeit wird die Ausarbeitung eines Abkommens über die Transparenz im Bereich der staatlichen Auftragsvergabe diskutiert und eine Erweiterung der Vertragspartner durch eine Verbesserung der Attraktivität des GPA erwogen455. Insbesondere
sollen als inhaltliche Neuerungen umfassendere und ausgeweitete Bestimmungen
über die Sonderbehandlung für Entwicklungsländer erfolgen, Sekundärzwecke genannt und weitere Diskriminierung beseitigt werden456. Durch diese Neuerungen im
Bereich des völkerrechtlichen Wettbewerbsrechts wird eine Fortentwicklung der
internationalen Bezüge des Vergaberechts angestrebt. Über das GPA hinaus gibt es
zahlreiche weitere völkerrechtliche Abkommen über die Vergabe öffentlicher Aufträge, welche Ausdruck der Vielschichtigkeit vergaberechtlicher Regelungen sind457.
Diese Abkommen sind in der Regel bilateral. In erster Linie treffen sie ergänzende
Vereinbarungen zu den plurilateralen bereits bestehenden Regelungen. Dies gilt
allerdings nur, soweit die Vertragspartner ebenfalls Parteien des GPA sind. Beispielsweise vereinbarte die Europäische Gemeinschaft mit den USA im Jahre 1995
eine weitergehende Öffnung der beiderseitigen Vergabemärkte458. Diese führte dann
zu entsprechenden Änderungen des jeweiligen Anhangs I zum GPA.
II. Europarechtliche Vorgaben
Wesentliche vergaberechtliche Bestimmungen finden sich im Europarecht. Bereits
in den 70er Jahren wurden in Richtlinien erste Rahmenbedingungen für die Vergabe
452 Dreher/Motzke-Dörr, Einleitung: Vergaberecht in Deutschland – Das Recht der öffentlichen
Auftragsvergabe im Stufenbau der Rechtsordnung, Rn. 158 i.E.
453 Vgl. nur EuGH, Slg. 1982, 3641 Rn. 13 f. (Kupferberg); Slg. 1987, 3719 Rn. 7 (Demirel);
Slg. 1995, I-4533 Rn. 40 (Chiquita Italia).
454 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I-8395 Rn. 47 (Portugal/Rat); Slg. 2002, I-2569 Rn. 93 (Omega Air);
Slg. 2004, I-10989 Rn. 54 (Anheuser-Busch); Slg. 2005, I-1465 Rn. 38 ff. (Van Parys). Näher
dazu Dörr/Lenz, Rn. 183.
455 Byok/Jaeger-Rudolph, Einführung Rn. 165; Dischendorfer PPLR 9 (2000) 1, 29 ff.; Bungenberg, in: WTO-Recht und Globalisierung, 251 (262 ff.).
456 Herrmann/Weiß/Ohler, § 21 Rn. 1071 ff.
457 Vgl. zum Beispiel das Abkommen zwischen der EG und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens, vom 21.06.1999,
ABlEG 2002 Nr. L 114, S. 430 und zum schweizerischen Vergaberecht Stöckli, NZBau 2002,
7 (7 ff.); oder das Abkommen mit Israel über das öffentliche Beschaffungswesen, vom
10.07.1997, ABlEG 1997 Nr. L 202, S. 85.
458 Abkommen in Form eines Briefwechsels zwischen der EG und den Vereinigten Staaten von
Amerika über das öffentliche Beschaffungswesen, vom 30.5.1995, ABlEG 1995 Nr. L 134, S.
26.
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öffentlicher Aufträge aufgestellt459. Diese Richtlinien dienten der Koordinierung und
Rechtsangleichung des öffentlichen Beschaffungswesens in den Mitgliedstaaten. Sie
wurden seit dem Jahr 1989 grundlegend überarbeitet und geändert.
Zunächst erließ der Rat auf der Grundlage Richtlinien aus den 70er Jahren über
die Vergabe öffentlicher Aufträge vier materielle Koordinierungsrichtlinien, die das
Vergabeverfahren maßgeblich beeinflussten. Dieses sekundäre europäische Regelwerk
bestand aus der Baukoordinierungsrichtlinie (BKR)460, der Lieferkoordinierungsrichtlinie
(LKR)461, der Sektorenkoordinierungsrichtlinie (SKR)462 sowie der Dienstleistungskoordinierungsrichtlinie (DKR)463.
Die BKR galt für Aufträge im Baugewerbe ab 5 Mio. EUR. Die LKR wiederum galt für
Aufträge über Lieferleistungen von Bundesbehörden ab 130.000 EUR und andere Auftraggeber ab 200.000 EUR. Der DKR hingegen kam im Wesentlichen eine Auffangfunktion zu, weil sie für alle öffentlichen Aufträge galt, die nicht bereits durch die BKR oder
LKR erfasst wurden. In der BKR und LKR waren öffentliche Aufträge durch Auftraggeber
in den Bereichen der Trinkwasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Telekommunikation noch ausgenommen worden. Diese ehemals von der BKR und LKR ausgeschlossenen Bereiche wurden als Sektoren in der eigens für sie geschaffenen Sektorenkoordinierungsrichtlinie aufgegriffen und entsprechend geregelt. Die Schwellenwerte für
die Anwendung der SKR waren 400.000 EUR für Liefer- und Dienstleistungsaufträge und
5 Mio. EUR für Bauaufträge. Zudem wurden zur Durchsetzung des materiellen Vergaberechts zwei Rechtsmittelrichtlinien464 erlassen, die eine Nachprüfung von Vergabeentscheidungen vorschreiben.
Dieses sekundäre europäische Regelwerk wurde jedoch im Jahr 2004 durch ein EU-
Legislativpaket modernisiert. Den Ausgangspunkt für die Novelle der europäischen Vergaberichtlinien bildete das Grünbuch der Kommission „Das öffentliche Auftragswesen in
459 Richtlinie des Rates vom 26.07.1971 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe
öffentlicher Bauaufträge (71/305/EWG), ABlEG 1971 Nr. L 185, S. 5 und Richtlinie des Rates vom 21.12.1976 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (77/62/EWG), ABlEG 1976 Nr. L 13, S. 1.
460 Richtlinie des Rates vom 14.6.1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (93/37/EWG), AblEG 1993 Nr. L 199, S. 54, zul. geänd. AblEG 2001 Nr. L 285, S. 1.
461 Richtlinie des Rates vom 14.6.1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (93/36/EWG), AblEG 1993 Nr. L 199, S. 1, zul. geänd. AblEG 2001 Nr. L 285, S. 1.
462 Richtlinie des Rates vom 14.6.1993 zur Koordinierung der Auftragvergabe durch Auftraggeber im
Bereich der Wasser-, Energie-, und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor
(93/38/EWG), AblEG 1993 Nr. L 199, S. 84, zul. geänd. AblEG 2001 Nr. L 285, S. 1.
463 Richtlinie des Rates vom 14.6.1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (92/50/EWG), AblEG 1992 Nr. L 209, S. 1, zul. geänd. AblEG 2001 Nr. L 285, S. 1.
464 Richtlinie des Rates vom 21.12.1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die
Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge
(89/665/EWG), ABlEG 1989 Nr. L 395, S. 33 und die Richtlinie des Rates vom 25.2.1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften
durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie-, und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (92/13/EWG), ABlEG 1992 Nr. L 76, S. 14.
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der Europäischen Union – Überlegungen für die Zukunft“465. In diesem Grünbuch und der
darauf folgenden Mitteilungen der Kommission466 kritisierte sie insbesondere die teilweise
noch unvollständige und lückenhafte Umsetzung der Richtlinien zum öffentlichen Auftragswesen in den Mitgliedstaaten. Die Ergebnisse der Diskussion über das Grünbuch und
die Mitteilung setzte die Kommission mit dem Vorschlag für ein Legislativpaket zum
öffentlichen Auftragswesen um. Obwohl es zwischen dem Rat und dem Europäischen
Parlament einige Differenzen hinsichtlich des Kommissionsvorschlages zur Vereinfachung
und Neuerung der Vergaberichtlinien gab, wurde im Dezember 2003 ein Kompromiss
gefunden, dem das Europäische Parlament am 29.01.2004 und der Rat am 02.02.2004
zustimmten.
Zur Vereinfachung wurden die Liefer-, Bau- und Dienstleistungskoordinierungsrichtlinie zu einer einzigen Richtlinie, der Vergabekoordinierungsrichtlinie (VKR)467, zusammengefasst. Die bisherige Sektorenkoordinierungsrichtlinie wurde durch eine neue Sektorenrichtlinie468 ersetzt. Als wesentliche Veränderungen zu den ursprünglichen vergaberechtlichen Richtlinien wurden in die VKR Vorschriften über Rahmenvereinbarungen und
über den wettbewerblichen Dialog eingefügt. Der wettbewerbliche Dialog stellt nach Art.
29 VKR als weitere Art des Vergabeverfahrens eine Variante des Verhandlungsverfahrens
für die Vergabe außergewöhnlich komplexer Vorhaben dar. Rahmenvereinbarungen hingegen sind nach der Legaldefinition von Art. 1 Abs. 5 VKR alle Vereinbarungen zwischen
einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern und einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern, die zum Ziel haben, die Bedingungen für die Aufträge, die im Laufe eines bestimmten Zeitraumes vergeben werden sollen, festzulegen. Dies geschieht insbesondere in
Bezug auf den Preis und gegebenenfalls die in Aussicht genommene Menge. Darüber
hinaus ist mit Art. 53 VKR eine Regelung aufgenommen worden, wonach die Zuschlagskriterien nicht nur in der Reihenfolge ihrer Bedeutung aufzuführen, sondern auch zu gewichten sind. Die Schwellenwerte liegen derzeit bei 5,15 Mio. EUR für Bauvorhaben, bei
133.000 EUR für Liefer- und Dienstleistungen des Bundes, bei 206.000 EUR für alle anderen Liefer- und Dienstleistungsaufträge und bei 412.000 EUR für Liefer- und Dienstleistungsvergaben durch Sektorenauftraggeber. Eine wesentliche Neuerung der Sektorenrichtlinie ist die Freistellung von Unternehmen der Telekommunikation vom Anwendungsbereich der Sektorenrichtlinie. Dafür wurde der Anwendungsbereich gemäß Art. 6 dieser
Richtlinie auf Postdienste ausgedehnt.
Gemäß Art. 80 VKR und Art. 71 der Sektorenrichtlinie mussten die Mitgliedstaaten diese Richtlinien bis spätestens zum 31.01.2006 in nationales Recht umsetzen. In Deutschland
465 Grünbuch der Kommission vom 26.11.1996: „Das öffentliche Auftragswesen in der Europäischen Union – Überlegungen für die Zukunft“, KOM (1996) 583.
466 Mitteilung der Kommission vom 11.03.1998: „Das öffentliche Auftragswesen in der Europäischen Union“, KOM (1998) 143.
467 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.03.2004 über die Koordinierung der
Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge
(2004/18/EG), AblEG 2004 Nr. L 134, S. 114.
468 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.03.2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und der Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (2004/17/EG), AblEG 2004 Nr. L 134, S. 1.
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wurde dieses EU-Legislativpaket bislang noch nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich der Einzelne jedoch gegenüber dem
Staat auf die nicht fristgemäß oder ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie direkt berufen,
wenn die Bestimmungen dieser Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau
erscheinen469. Hinsichtlich der Vergabekoordinierungsrichtlinie und der Sektorenrichtlinie
sind sowohl die Vergabevorschriften, welche die Vergabeverfahren und die Durchführung
von Wettbewerben, die gemeinsamen technischen und Bekanntmachungsvorschriften, die
Teilnahme- sowie die Eignungs- und Zuschlagskriterien betreffen als auch die Vorschriften
über den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien so unbedingt und so genau, dass sich ein Einzelner vor nationalen Gerichten auf sie berufen
kann470.
Aus diesem Grund gelten die meisten Bestimmungen der Vergabekoordinierungsrichtlinie und der Sektorenkoordinierungsrichtlinie ab dem 01.02.2006 direkt und sind seitdem
bei Vergabeverfahren oberhalb der Schwellenwerte zwingend von den Vergabestellen zu
beachten471. Das Bundesministerium für Wirtschaft hat diesbezüglich Rundschreiben zur
Anwendbarkeit der Richtlinienbestimmungen in Deutschland erlassen472. Sie sollen insbesondere den Vergabestellen in ihrem Geschäftsbereich erleichtern, in der täglichen Praxis
für die Auträge oberhalb der EU-Schwellenwerte die ab dem 1. Februar 2006 zu beachtenden und gegebenenfalls von den geltenden deutschen Vergaberegeln abweichenden europäischen Vergaberegeln anzuwenden.
III. Nationale Regeln
Traditionell war das deutsche Vergaberecht ein spezieller Teil des Haushaltsrechts.
Die dabei einschlägigen Regeln befinden sich im Haushaltsgrundsätzegesetz (§ 30
HGrG) sowie in der Bundeshaushaltsordnung (§ 55 BHO). Für Auftragsvergaben
der Bundesländer oder Gemeinden finden die jeweiligen Landeshaushaltsordnungen,
Landesvergabegesetze beziehungsweise Gemeindehaushaltsverordnungen Anwendung.
Mit dem zum 01.01.1999 eingeführten Vergaberechtsänderungsgesetz und der fast zeitgleich verabschiedeten 6. Kartellrechtsnovelle wurden die zukünftigen Vergabevorschriften im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verankert. Nach der Harmonisierung des Vergaberechts auf europäischer Ebene durch Erlass der Vergaberichtlinien
fand nun in Deutschland ein vergaberechtlicher Paradigmenwechsel statt. Der traditionelle
verwaltungsinterne Ansatz des deutschen Vergaberechts musste unter dem Einfluss des
europäischen Gemeinschaftsrechts teilweise aufgegeben werden. Der Paradigmenwechsel
469 EuGH, Slg. 1999, I-7671, Rn. 49 (Alcatel Austria).
470 VÜA des Landes Hessen, WuW/E Verg. 1998, 103 (104) – Stadtbusverkehre.
471 Kulartz/Kus/Portz-Eschenbruch, Auftraggeber § 98 Rn. 13.
472 Vgl. Rundschreiben vom 26.01.2006 zur Anwendung der Richtlinie 2004/18/EG und vom
31.01.2006 zur Anwendung der Richtlinie 2004/17/EG, abrufbar auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums unter www.bmwi.de.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Müssen soziale Dienstleistungen öffentlich ausgeschrieben werden? Die Frage wird dahingehend beantwortet, dass nicht alle sozialen Dienstleistungen unter das Vergaberecht fallen. Teilweise handelt es sich bei sozialen Dienstleistungen um vergaberechtsfreie Dienstleistungskonzessionen.
Die Autorin analysiert die Auftraggebereigenschaft der Sozialleistungsträger und untersucht ausführlich, welche sozialen Dienstleistungen dem Vergaberecht unterliegen und welche als Dienstleistungskonzessionen einzuordnen sind. Abschließend werden die Anforderungen an die konkrete Auftragsvergabe dargestellt.
Das Werk wendet sich nicht nur an wissenschaftlich interessierte Leser, sondern auch an Personen und Körperschaften, die praktisch mit der Beschaffung sozialer Dienstleistungen betraut sind. Mit der präzisen Herausarbeitung der einzelnen sozialen Dienstleistung und deren detailliert begründeten vergaberechtlichen Einordnung, leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Beschaffung sozialer Dienstleistungen und ist damit für den Praktiker in besonderem Maße geeignet.