77
schrift zu § 4 Abs. 3 SGB XI findet sich im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung in § 2 Abs. 4 SGB V255. Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit wird auch im
SGB XI an mehreren Stellen angesprochen und verdeutlicht damit, ebenso wie in
den anderen Sozialleistungsbereichen, die Bedeutung dieses Grundsatzes256. Neben
§ 4 Abs. 3 SGB XI ist dieser Grundsatz vor allem in § 29 SGB XI verankert. Inhaltlich stimmt § 29 SGB XI weitgehend mit § 12 SGB V und damit auch mit den weiteren Büchern des SGB überein257.
6. Zwischenergebnis
Die sozialen Vorsorgesysteme zielen allesamt darauf ab, einen abgegrenzten Kreis
von Personen gegen typische soziale Risiken wie Krankheit, Alter, Unfall oder Pflegebedürftigkeit abzusichern. Dennoch fällt es schwer, von einem einheitlichen „Wesen“ der Vorsorge zu sprechen, weil darin ganz unterschiedliche Einzelsysteme
zusammengefasst sind, die sich trotz aller Gemeinsamkeiten durch zahlreiche Unterschiede auszeichnen. Gemeinsam sind allen Systemen die im SGB IV geregelten
Grundsätze über den Umfang der Versicherung, über Meldepflichten des Arbeitgebers und über Auskunfts- und Vorlagepflichten des Beschäftigten sowie über die
Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Die weiteren Grundsätze gelten nicht für alle
Sozialversicherungssysteme gleichermaßen, sondern nur für den Bereich, aus dessen
Recht sie erschlossen wurden.
V. Grundsätze der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
Die Grundsätze der Rehabilitation und der Teilhabe behinderter Menschen sind im
SGB IX geregelt. Die Vorschriften des SGB IX umfassen insbesondere den Grundsatz der Teilhabe, den Grundsatz vom Wunsch- und Wahlrecht sowie den vom persönlichen Budget. Schließlich ist im SGB IX wiederum der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit kodifiziert.
1. Grundsatz der Teilhabe
Der Grundsatz der Teilhabe ist ein zentraler Grundsatz im SGB IX. Er ist in § 1
SGB IX niedergelegt und besagt, dass behinderte oder von Behinderung bedrohte
Menschen Sozialleistungen nach dem SGB IX bekommen, um ihre Selbstbestim-
255 KK-Peters, SGB XI, § 4 Rn. 6. Siehe allgemein zum Grundsatz von Wirtschaftlichkeit und
Sparsamkeit 1. Teil, B. II. 1. d).
256 Wannagat-Trenk-Hinterberger, § 4 SGB XI Rn. 18.
257 Wannagat-Peters-Lange, § 29 SGB XI Rn. 3; KK-Leitherer, SGB XI, § 29 Rn. 3.
78
mung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern258.
Zweck des SGB IX ist es also, die soziale Benachteiligung auszugleichen, denen
Personen infolge einer Behinderung im beruflichen und gesellschaftlichen Leben
ausgesetzt sind. Die Leistungen zur Teilhabe werden nach § 4 Abs. 1 SGB IX unabhängig von der Ursache der Behinderung gewährt. Dass eine gleichberechtigte Teilhabe angestrebt ist, entspricht nicht nur den verfassungsrechtlichen Vorgaben des
Art. 3 Abs. 2 Satz 3 GG, sondern auch den europäischen, allerdings noch unverbindlichen Vorgaben des Art. 26 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union259.
Diesem Grundsatz entsprechend soll zunächst verhindert werden, dass eine Behinderung eintritt. Insofern kodifiziert § 3 SGB IX einen Vorrang von Leistungen
zur Prävention. Zudem entspricht es dem Grundsatz der Teilhabe, dass Leistungen
zur Teilhabe gemäß § 8 Abs. 2 und 3 SGB IX Vorrang vor Renten- und Pflegeleistungen haben.
2. Wunsch- und Wahlrecht
Um eine gerechte Teilhabe verwirklichen zu können, räumte der Gesetzgeber behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen in § 9 SGB IX ein Wunsch- und
Wahlrecht ein. Den berechtigten Wünschen des Betroffenen ist also nach § 9 Abs. 1
Satz 1 SGB IX bei Entscheidungen über die Leistungen zur Teilhabe und bei ihrer
Ausführung zu entsprechen. Berechtigte Wünsche sind solche, die sich im Rahmen
des Leistungsrechts und der mit ihnen verfolgten Ziele bewegen260. In die Entscheidung darüber, ob ein Wunsch berechtigt ist, fließen auch die in § 9 Abs. 1 Satz 2
SGB IX aufgezählten Merkmale der persönlichen Lebenssituation, des Alters, des
Geschlechts, der Familie sowie der religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse
mit ein261. Im Gegensatz zu dem in § 5 Abs. 2 SGB VIII geregelten Wunsch- und
Wahlrecht hängt die Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts gemäß § 9 SGB IX
nicht davon ab, dass keine unverhältnismäßigen Mehrkosten entstehen. Insofern
erfordert § 9 SGB IX einen Rückgriff auf die allgemeine Vorschrift des § 33 SGB I,
nach der lediglich angemessenen Wünschen entsprochen wird262. § 9 SGB IX kon-
258 Menschen sind gemäß § 2 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von
dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen. Mit dieser Definition orientiert sich
der Gesetzgeber bewusst an dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten
Behinderungsbegriff, vgl. HK-SGB IX-Welti, § 2 Rn. 18; Mrozynski, SGB IX, § 2 Rn. 1;
N/P/M-Neumann, SGB IX, § 2 Rn. 2; Welti, NJW 2001, 2210 (2211).
259 N/P/M-Neumann, SGB IX, § 1 Rn. 6.
260 Mrozynski, SGB IX, § 9 Rn. 6 f.; HK-SGB IX-Welti, § 9 Rn. 17; SRH-Reimann, § 28 Rn.
69.
261 N/P/M-Majerski-Pahlen, SGB IX, § 9 Rn. 6.
262 Vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 a.E. SGB IX, nach dem im Übrigen § 33 SGB I gilt.
79
kretisiert und erweitert damit das allgemeine, in § 33 SGB I geregelte Wunsch- und
Wahlrecht263.
3. Persönliches Budget
Das persönliche Budget ist in § 17 Abs. 2 bis 6 SGB IX geregelt. Von dieser Regelung ausgehend, wurde das persönliche Budget als Modell auch in den Leistungsgesetzen der in § 6 SGB IX geregelten Rehabilitationsträger eingeführt264.
4. Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit
Auch im SGB IX ist der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit niedergelegt. Er findet in den §§ 15 Abs. 1 Satz 3, 35 Abs. 1 Nr. 4, 41 Abs. 3 SGB IX
Erwähnung. Er umfasst inhaltlich das gleiche wie in den übrigen Büchern des Sozialgesetzbuches265.
VI. Zwischenergebnis
Im Sozialrecht gibt es zahlreiche Grundsätze, die sich auf die vergaberechtliche
Beurteilung der Leistungsvergabe auswirken. Von diesen Grundsätzen gelten allerdings nur die im SGB I und im SGB X genannten für alle Bücher des Sozialgesetzbuches. Neben den allgemeinen Betreuungs- und Informationspflichten der Sozialleistungsträger und den Mitwirkungspflichten der Sozialleistungsberechtigten ist vor
allem der Grundsatz vom Wunsch- und Wahlrecht für die Leistungsgewährung und
damit für das Verhältnis von Sozialrecht und Vergaberecht entscheidend.
Der Grundsatz vom Wunsch- und Wahlrecht besagt allgemein, dass angemessene
Wünsche der Sozialleistungsberechtigten im Rahmen der Leistungsgewährung entsprochen werden sollen. Dieser Grundsatz findet sich im Recht der sozialen Hilfe
und Förderung und im Recht der sozialen Pflegeversicherung sowie im Bereich der
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen des SGB IX wieder. In diesen
Büchern des Sozialgesetzbuches ist der allgemeine Grundsatz des § 33 SGB I allerdings bereichsspezifisch konkretisiert und ausgestaltet worden. Das Wunsch- und
Wahlrecht ist darin für einen Sozialleistungsberechtigten folglich stärker ausgestaltet
worden als bei dem allgemeinen Grundsatz des SGB I. Die Angemessenheit der
Wünsche ist im Rahmen einer Abwägung zwischen Verwaltungsaufwand oder
–kosten und den Vorteilen für den Leistungsberechtigten zu ermitteln. In diese An-
263 Siehe 1. Teil, B. I. 1. c) bb).
264 Siehe 1. Teil, B. II. 2. c).
265 Siehe 1. Teil, B. II. 1. d).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Müssen soziale Dienstleistungen öffentlich ausgeschrieben werden? Die Frage wird dahingehend beantwortet, dass nicht alle sozialen Dienstleistungen unter das Vergaberecht fallen. Teilweise handelt es sich bei sozialen Dienstleistungen um vergaberechtsfreie Dienstleistungskonzessionen.
Die Autorin analysiert die Auftraggebereigenschaft der Sozialleistungsträger und untersucht ausführlich, welche sozialen Dienstleistungen dem Vergaberecht unterliegen und welche als Dienstleistungskonzessionen einzuordnen sind. Abschließend werden die Anforderungen an die konkrete Auftragsvergabe dargestellt.
Das Werk wendet sich nicht nur an wissenschaftlich interessierte Leser, sondern auch an Personen und Körperschaften, die praktisch mit der Beschaffung sozialer Dienstleistungen betraut sind. Mit der präzisen Herausarbeitung der einzelnen sozialen Dienstleistung und deren detailliert begründeten vergaberechtlichen Einordnung, leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Beschaffung sozialer Dienstleistungen und ist damit für den Praktiker in besonderem Maße geeignet.