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Untersuchung dar. Die Darstellung beginnt mit einem Vergleich der sozial- und
vergaberechtlichen Grundsätze, um verwerfen zu können, dass sich beide Rechtsmaterien bereits von vornherein wegen miteinander unvereinbarer Grundsätze ausschließen. Sodann wird geprüft, inwieweit die Sozialleistungsträger öffentliche Auftraggeber im Sinne des Vergaberechts sind. Abschließend erfolgt eine Untersuchung
der Anwendbarkeit des Vergaberechts auf den Abschluss sozialrechtlicher Leistungserbringungsverträge.
Der fünfte und zugleich letzte Teil der Untersuchung widmet sich der vergaberechtlichen Behandlung sozialer Dienstleistungen. Es werden die konkreten Anforderungen an eine sozialrechtliche Leistungsbeschaffung für Sozialleistungsträger bei
nicht-prioritären Dienstleistungen und Dienstleistungskonzessionen aufgezeigt.
C. Begriffsbestimmungen
Die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Sozial- und Vergaberecht
macht es erforderlich, die zentralen Begriffe vorab konkret zu bestimmen.
I. Sozialrecht und Vergaberecht
Im Ausgangspunkt regeln das Sozial- und das Vergaberecht unterschiedliche Materien. Der Begriff des Sozialrechts ist zwar gesetzlich nicht definiert, er stellt aber
eine Ausprägung des verfassungsrechtlich garantierten Sozialstaatsprinzips dar. Um
diesem Begriff eine hinreichend bestimmte Kontur zu geben, unterscheidet die juristische Lehre daher einen formellen und einen materiellen Sozialrechtsbegriff7.
Zum Sozialrecht im formellen Sinne gehören alle Rechtsbereiche, die der Gesetzgeber in das Sozialgesetzbuch aufgenommen hat8. Neben den einzelnen Büchern des
Sozialgesetzbuches werden also auch diejenigen Bereiche davon umfasst, die über
§ 68 SGB I als besondere Teile in das Sozialgesetzbuch integriert sind. Die formelle
Begriffsbestimmung ist zwar eindeutig, berücksichtigt jedoch nicht die Dynamik
und den Wandel des Sozialrechts9.
In Randbereichen kann eine materielle Bestimmung des Sozialrechts schwierig
sein. Daher orientiert sich die wohl überwiegende Literatur an den in § 1 SGB I
7 Bley/Kreikebohm/Marschner, Rn. 2; Igl/Welti, § 1 Rn. 3; Gitter/Schmitt, § 1 Rn. 4; Bley, S.
13; Schmid, S. 165; Waltermann, § 2 Rn. 33 ff.; SRH-von Maydell, § 1 Rn. 3 ff.; Zacher, in:
FS für Horst Schieckel, 1978, S. 371 ff.; Müller-Volbehr, JZ 1978, 249 (249 ff.); Zacher,
VSSR 1976, 1 (6 ff.).
8 Vgl. zur Definition Fuchs/Preis-Preis, § 5 I.; SRH-von Maydell, § 1 Rn. 3; Waltermann, § 2
Rn. 33.
9 SRH-von Maydell, § 1 Rn. 7; Waltermann, § 2 Rn. 33.
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genannten Zielen der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit10. Sozialrecht im materiellen Sinn ist also – angelehnt an § 1 SGB I – das der sozialen Gerechtigkeit und
Sicherheit dienende Recht, das diese Ziele durch die Gewährung von Sozialleistungen zu verwirklichen sucht11. Soziale Gerechtigkeit nach § 1 SGB I ist erreicht,
wenn jeder Mensch die Chance hat, die seinen individuellen Kräften und Fähigkeiten entsprechende soziale Stellung in der Gesellschaft zu erlangen12. Beispielsweise
ist eine gute berufliche Aus- und Fortbildung Voraussetzung für eine mögliche
Wahrnehmung der Chance, eine entsprechende soziale Stellung zu erlangen. Somit
fallen unter anderem die Vorschriften über die Arbeitsförderung unter soziale Gerechtigkeit gemäß § 1 SGB I. Soziale Sicherheit im Sinne des § 1 SGB I ist erreicht,
wenn der Einzelne in die Lage versetzt ist, auf verlässlicher Basis sein Leben zu
gestalten13. Insbesondere Vorschriften über die materielle Existenzsicherung fallen
unter das Ziel, soziale Sicherheit zu verwirklichen. Im Ergebnis erfolgt die Begriffsbestimmung von Sozialrecht im materiellen Sinne folglich von den Aufgaben des
Sozialrechts her.
Der Begriff des Vergaberechts umfasst hingegen die Gesamtheit der Vorschriften,
die dem Staat, seinen Untergliederungen und seinen sonstigen Einrichtungen eine
bestimmte Vorgehensweise beim Einkauf von Leistungen oder Gütern am Markt
vorschreiben14. Zudem umfasst das Vergaberecht auch die Rechts- und Verfahrensvorschriften, nach denen Bieter Rechtsschutz wegen der Verletzung der Vergabevorschriften bei den vorgenannten Rechtsgeschäften suchen können15. Weil der
Staat in der Regel im Interesse der Allgemeinheit handelt, unterliegt er – im Gegensatz zu privaten Unternehmen – keinem Anreiz, möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Aus diesem Grund ist der Staat nicht in gleicher Weise den Marktbedingungen
ausgesetzt wie private Unternehmen, weil es keine vergleichbare Konkurrenzsituation und kein vergleichbares Insolvenzrisiko gibt16. Ohne Vergaberecht könnten öffentliche Aufträge ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit geschlossen und damit
die Wettbewerbsvorschriften untergraben werden. Daher kommt dem Vergaberecht
im Wesentlichen die Aufgabe zu, durch die Festlegung objektiver Vergabekriterien
eine Verschwendung staatlicher Mittel zu verhindern. Außerdem wird hierdurch
staatliche Willkür beim Kauf von Gütern oder der Vergabe von Leistungen ausge-
10 Fuchs/Preis-Preis, § 5 I; SRH-von Maydell, § 1 Rn. 7; Waltermann, § 2 Rn. 34; Eichenhofer,
Rn. 5; Bley/Kreikebohm/Marschner, Rn. 2; Igl/Welti, § 1 Rn. 1; Zacher, in: FS für Horst
Schieckel, 1978, S. 371 ff.; Müller-Volbehr, JZ 1978, 249 (249 ff.); Zacher, VSSR 1976, 1
(7).
11 Eichenhofer, Rn. 3; Bley/Kreikebohm/Marschner, Rn. 3; Igl/Welti, § 1 Rn. 1; Gitter/Schmitt,
§ 1 Rn. 2; Waltermann, § 2 Rn. 34 f.; Eichenhofer, ISR und IPR, S. 34; SRH-von Maydell, §
1 Rn. 3 ff.; Zacher, in: FS für Horst Schieckel, 1978, S. 371 ff.; Müller-Volbehr, JZ 1978, 249
(249 ff.).
12 Igl/Welti, § 1 Rn. 7; Waltermann, § 2 Rn. 36.
13 Igl/Welti, § 1 Rn. 9; Waltermann, § 2 Rn. 37.
14 Byok/Jaeger-Rudolf, Einführung Rn. 1; Jestaedt/Kemper/Marx/Prieß-Marx, Rn. 1.1; Koenig/Haratsch, NJW 2003, 2637 (2637); Elbel, DÖV 1999, 235 (235).
15 JurisPK-VergabeR-Zeiss, Einleitung VergR Rn. 25.
16 Byok/Jaeger-Rudolf, Einführung Rn. 1.
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schaltet, weil sich alle Anbieter nach gleichen Kriterien an der Ausschreibung beteiligen können und gleiche Chancen für einen Zuschlag zur Lieferung von Waren oder
Dienstleistungen haben. Das Vergaberecht dient also im Wesentlichen dem Haushalts- und Wettbewerbsschutz.
Insbesondere ist im Bereich sozialer Dienstleistungen ein besonderes Augenmerk
auf die vergaberechtlichen Vorschriften zu legen. Soziale Dienstleistungen sind
häufig staatlich finanziert17. Aus diesem Grund kann es daher zu staatlichen Wettbewerbsbeeinflussungen kommen, welche durch die Vorschriften des Vergaberechts
ausgeschlossen werden sollen.
II. Dienstleistungen im Sozial- und Vergaberecht
Dienstleistungen gibt es sowohl im Sozial- als auch im Vergaberecht. Zu Überschneidungen dieser beiden Rechtsmaterien kann es also kommen, wenn staatliche
oder staatsnahe Rechtsträger als Sozialleistungsträger soziale Dienstleistungen beschaffen.
1. Dienstleistungen im Sozialrecht
Neben Dienstleistungen umfasst das deutsche Sozialleistungssystem zudem gemäß
§ 11 SGB I Geld- und Sachleistungen. Diese verschiedenartigen Sozialleistungen
müssen folglich voneinander abgegrenzt werden.
Geldleistungen sind dabei Leistungen, welche die einmalige oder dauernde Zahlung von Geld an den Leistungsberechtigten selbst oder an einen Dritten umfassen,
wie beispielsweise Krankengeld, Pflegegeld oder Rentenzahlungen18.
Unter Sachleistungen hingegen ist die Hingabe oder Bereitstellung von Sachen
durch Eigentumsübertragung, leihweise Überlassung oder Einräumung eines Nutzungsrechts zu verstehen19. Damit unterfallen alle Leistungen, die von einem Sozialleistungsträger in Natur zu gewähren sind, den Sachleistungen im Sinne des § 11
SGB I.
Die Definition sozialer Dienstleistungen wird negativ bestimmt und umfasst allgemein alle Tätigkeiten, ohne dass es sich dabei um Geld- oder Sachleistungen handelt. Im Sozialversicherungsrecht hingegen, insbesondere im Kranken- und Pflegeversicherungsrecht, umfasst in der Regel bereits der Begriff Sachleistung sowohl
Sach-, als auch Dienstleistungen. Der Grund dafür liegt darin, dass im Sozialversi-
17 Giesen, in: Die Zukunft der sozialen Dienste vor der Europäischen Herausforderung (Hrsg.:
Linzbach/Lübking/Scholz/Schulte), 425 (430).
18 Fuchs/Preis-Preis, § 7 I. 2.; SRH-Waltermann, § 7 Rn. 7; Eichenhofer, VSSR 1994, 323
(333).
19 KK-Seewald, SGB I, § 11 Rn. 7; Fuchs/Preis-Preis, § 7 I. 2.; SRH-Waltermann, § 7 Rn. 6;
Eichenhofer, VSSR 1994, 323 (333).
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Müssen soziale Dienstleistungen öffentlich ausgeschrieben werden? Die Frage wird dahingehend beantwortet, dass nicht alle sozialen Dienstleistungen unter das Vergaberecht fallen. Teilweise handelt es sich bei sozialen Dienstleistungen um vergaberechtsfreie Dienstleistungskonzessionen.
Die Autorin analysiert die Auftraggebereigenschaft der Sozialleistungsträger und untersucht ausführlich, welche sozialen Dienstleistungen dem Vergaberecht unterliegen und welche als Dienstleistungskonzessionen einzuordnen sind. Abschließend werden die Anforderungen an die konkrete Auftragsvergabe dargestellt.
Das Werk wendet sich nicht nur an wissenschaftlich interessierte Leser, sondern auch an Personen und Körperschaften, die praktisch mit der Beschaffung sozialer Dienstleistungen betraut sind. Mit der präzisen Herausarbeitung der einzelnen sozialen Dienstleistung und deren detailliert begründeten vergaberechtlichen Einordnung, leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag für die Beschaffung sozialer Dienstleistungen und ist damit für den Praktiker in besonderem Maße geeignet.