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VI. Die Abmilderung der Sitztheorie durch das Jersey-Urteil des BGH vom
01.07.2002695
Die Verschiebung der Sanktionsebene weg von den materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Aspekten der Rechtssubjektivität von Personenzusammenschlüssen
lässt sich auch im Jersey-Urteil des BGH vom 01.07.2002 ausmachen. Dieses Urteil
muss jedoch vor dem Hintergrund der damals vor dem EuGH anhängigen Rechtssache „Überseering“ betrachtet werden. Der II. Zivilsenat versuchte über die Abmilderung der Sitztheorie, deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht herzustellen.
Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde. Die Klägerin nimmt
den Beklagten aus einer Bürgschaftserklärung in Anspruch. Die Klägerin ist 1966
nach dem Recht der Kanalinsel Jersey als „Limited Company“ ordnungsgemäß errichtet worden. Die Klägerin behauptet, dass sowohl ihr satzungsmäßiger als auch
ihr tatsächlicher Sitz in Jersey liege. Demgegenüber trägt der Beklagte vor, dass ihr
Sitz entweder in Portugal oder in Deutschland sei. Dort sei sie weder neu gegründet
noch in das Handelsregister eingetragen worden. Der Beklagte meint daher, dass es
der Klägerin an der Parteifähigkeit ermangele.
Da die Klägerin den Beweis nicht zu führen vermochte, dass sich ihr Verwaltungssitz auf der Kanalinsel Jersey befindet, hatte der BGH sich damit auseinander
zu setzen, ob bei einem Verwaltungssitz in Deutschland oder Portugal die Parteifähigkeit zu bejahen ist. Im Hinblick auf einen möglichen Verwaltungssitz in Deutschland bejahte der BGH die Parteifähigkeit der Klägerin. Auch unter Geltung der Sitztheorie wäre sie bei einer Sitzverlegung ins Inland jedenfalls als rechtsfähige
Personengesellschaft (§ 14 Abs. 2 BGB) zu behandeln und in der Folge sowohl aktiv
als auch passiv parteifähig.
Unter der traditionellen Gesamthandsdoktrin, wie sie vor der Entscheidung „wei-
ßes Ross“ herrschend war, hätte dies zu erheblichen Problemen im Prozess- und
Zwangsvollstreckungsrecht geführt. Als Beispiel nennt der BGH die Situation, in
der Gegenansprüche zur Aufrechnung gestellt werden. Dann hätten sich die Gegenansprüche gegen die ausländische Gesellschaft als – nach Gründungsrecht – juristische Person gerichtet und nicht gegen die Gesellschafter in ihrer gesamthänderischen Verbundenheit.696 Käme es bei teilweiser oder gänzlicher Klagabweisung zur
Notwendigkeit von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen die klagende ausländische Gesellschaft, würde ein Titel existieren, der sich gegen die Gesellschafter als
GbR richten würde. Es müsste aber u.U. in Vermögensgegenstände vollstreckt werden, die nominell im Eigentum der ausländischen Gesellschaft als juristischer Person stehen oder in Konten, die auf deren Namen errichtet sind. Eine Titelumschreibung gem. § 727 ZPO scheide wegen mangelnder Rechtsnachfolge aus.
Diese Bedenken entfallen mit Bejahung der Rechtsfähigkeit der GbR. Die Versagung der Rechts- und Parteifähigkeit sei überdies nicht verhältnismäßig.697 Es sei
695 BGH, Urt. v. 01.07.2002 – II ZR 380/00 = BGH DStR 2002, 1678 = DB 2002, 2039.
696 Vgl. auch REHBINDER, IPRax 1985, 324.
697 BGH DB 2002, 2039.
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nicht durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt, diesen Gesellschaften ihren rechtlichen Besitzstand und ihre Klagemöglichkeiten abzusprechen.698 Die Praxis zeige, dass weder der Gläubigerschutz noch das Gebot der
Rechtssicherheit dieses zu rechtfertigen vermöge.699 Vielmehr sei daher schon früher
die passive Parteifähigkeit der ausländischen Gesellschaft anerkannt worden.700
Überdies sei die Rechtspraxis widersprüchlich, da Bankbürgschaften, die die Klägerin zur Abwehr der Vollstreckung und zur Stellung der Prozesskostensicherheit
beigebracht habe, von den Instanzgerichten akzeptiert worden sei. Bei fehlender
Rechtsfähigkeit nach deutschem Recht müssten solche in Deutschland abgeschlossenen Bürgschaftsverträge nichtig sein.701Die Jersey-Entscheidung des BGH erschließt sich unter Berücksichtigung der Umstände, die ihren Erlass überschatteten.
Der VII. Zivilsenat hatte das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache Überseering vorgelegt und die Schlussanträge des Generalanwalts hatten bereits die Versagung der Rechts- und Parteifähigkeit als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit
eingestuft. Unter diesen Vorzeichen milderte der II. Zivilsenat die Sitztheorie ab, um
auf diese Weise wenigstens eine modifizierte Version der Sitztheorie aufrecht erhalten zu können.702 Der BGH wollte gezielt die als unbillig betrachtete Aberkennung
der Subjekteigenschaft durch die „klassische Sitztheorie“ vermeiden.
Die Analyse der Entscheidung wird durch terminologische Unschärfen in Bezug
auf die Trennung der kollisionsrechtlichen und sachrechtlichen Ebene erschwert.703
Das gewünschte Ergebnis der Bejahung der aktiven Parteifähigkeit kann sowohl über die kollisionsrechtliche als auch durch eine andere Einordnung auf der sachrechtlichen Ebene erreicht werden kann.704 Der BGH spricht in seiner Entscheidung
wiederholt von einer „ausländischen Gesellschaft“ im Zusammenhang mit einem inländischen Verwaltungssitz, was auf die Anwendung der Gründungstheorie bei Bestimmung des Personalstatuts deutet. Bei genaurer Betrachtung ist jedoch das Gegenteil der Fall. Der BGH wendet zuerst die Sitztheorie an, um danach sich mit der
Frage auseinander zu setzen, was für Folgen auf sachrechtlicher Ebene hieraus erwachsen.
Auf sachrechtlicher Ebene folgt der BGH den Impulsen, die sich aus der Änderung der Rechtsprechung zur Rechtsfähigkeit der GbR705 ergeben. Die bisherige
Scheinauslandsgesellschaft durchlebt eine „Metamorphose“706 von einem rechtli-
698 BGH DB 2002, 2039.
699 BGH DB 2002, 2039.
700 BGH DB 2002, 2039; siehe die oben besprochenen Urteile: OLG Nürnberg, IPRax 1985,
342; dazu REHBINDER, IPRax 1985, 324; BGHZ 97, 269, 271.
701 Was einen möglichen Verwaltungssitz in Portugal betrifft, verwies der BGH den Rechtsstreit
wegen bisher fehlenden Feststellungen an das Berufungsgericht zurück.
702 EBKE, FS Thode, S. 611; ders., JZ 2003, 927, 929; BEHRENS, IPRax, 2003, 193, 199;
SCHANZE/JÜTTNER, AG 2003, 30, 32; EMDE, BGH EWiR § 50 ZPO 2/02, 971, 972;
HEIDENHAIN, NZG 2002, 1141, 1142; SPINDLER/BERNER, RIW 2003, 949, 950.
703 So auch LEIBLE/HOFFMANN, DB 2002, 2203.
704 LEIBLE/HOFFMANN, DB 2002, 2203.
705 BGH NJW 2001, 1056ff.
706 So LEIBLE/HOFFMANN, DB 2002, 2203, 2204.
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chen nullum, dem trotzdem die passive Parteifähigkeit zugesprochen wird, hin zu
einer rechtsfähigen (aber inländischen) Personengesellschaft. Genauso wie bei der
GbR wird nunmehr auch auf prozessualer Ebene der für die prozessrechtliche Qualifikation der Parteifähigkeit typische Sanktionscharakter aufgegeben. Anstatt dessen
ordnet der BGH die in Frage stehende Gesellschaft in den numerus clausus des
deutschen Gesellschaftsrechts ein.
Fraglich ist jedoch, ob es sich wirklich um eine „Metamorphose“ ein und desselben Rechtsträgers handelt oder ob vielmehr zu eine Duplizierung des Rechtsträger
kommt. Die Problematik der Spaltgesellschaft707 tritt in Erscheinung. Diese unklare
Ausgangslage materialisiert sich zuerst in einer Reihe prozessualer Probleme. Wenn
Frage der Identität der Parteien aus der Perspektive verschiedener Prozessrechte potenziell unterschiedlich beurteilt wird, ergeben sich Konsequenzen die sich durch
das ganze Verfahren und durch die darauf folgende Zwangsvollstreckung ziehen.
Die Abgrenzung zwischen Berichtigung der Parteibezeichnung und Parteiwechsel ist
unklar.708 Auch der lis pendens-Einwand ist bei einem gleichzeitigen Verfahren vor
einem ausländischen Gericht schwierig zu beantworten.709 Im Vollstreckungsverfahren muss das zur Verfügung stehende Gesellschaftsvermögen ermittelt werden.710
Diese Verfahrensfragen verschärfen sich im Hinblick auf die VO 44/2001. Auch die
abgemilderte Sitztheorie beraubt die Parteifähigkeit ihrer im ersten Teil dieser Untersuchung herausgearbeiteten Koordinierungsfunktion.
Die Problematik der „milden Sitztheorie“ wird jedoch besonders bei der ausländischen Ein-Personen-Kapitalgesellschaft deutlich, die im Inland mangels Personenmehrheit nicht als Personengesellschaft aufgefasst werden kann.711 LEIBLE und
HOFFMANN vertreten den Standpunkt, dass es sich dann um eine unschädliche
Falschbezeichnung handele und die Wirkungen des Prozesses gegenüber dem Gesellschafter als Einzelkaufmann oder Einzelperson eintreten, der auch materiellrechtlich berechtigt und verpflichtet werde.712 Damit verschwindet jedoch die Gesellschaft wie bisher als eigenständiger Rechtsträger mit allen daraus folgenden
Nachteilen. Wenn man die Mindermeinung, die eine Ein-Personen-Gesellschaft für
möglich hält, ablehnt,713 so müsste man an dieser Stelle über eine Lösung analog der
Ein-Personen-Gründungsgesellschaft bei Kapitalgesellschaften nachdenken. Die
Versagung der Subjektivität als Sanktion hat die Entscheidung des BGH ja gerade
aufgegeben. Eine zusätzliche Haftung des Gesellschafters, die Aberkennung des
Haftungsprivilegs, ist dabei (unter Ausklammerung europarechtlicher Implikationen) weiterhin möglich und schließt die Rechtsträgerschaft der Gesellschaft nicht
aus.
707 EBKE, FS Thode, S. 598 und S. 610.
708 WALDEN, EWS 2001, 256, 261f.
709 WALDEN, EWS 2001, 256, 259.
710 WALDEN, EWS 2001, 256, 259.
711 Vgl. hierzu K. SCHMIDT, GesR, § 8 IV 2b m.w.N.
712 LEIBLE/HOFFMANN, DB 2002, 2204 u. 2205.
713 Vgl. hierzu K. SCHMIDT, GesR, § 8 IV 2b m.w.N.
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Für die Bestimmung der Parteifähigkeit kommt es aus Sicht des BGH zu keinen
Besonderheiten. Da der BGH von einem deutschen Personalstatut ausgeht, geht die
Entscheidung nicht darauf ein, wie die Parteifähigkeit bei ausländischem Personalstatut ermittelt wird.
VII. Gesellschaften im Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtlichen Niederlassungsfreiheit - Das Überseering-Urteil des BGH vom 13.03.2003714
Die klagende Gesellschaft Überseering B.V. ist eine eingetragene Gesellschaft niederländischen Rechts. Die Klägerin hatte ihren Verwaltungssitz ins Inland verlegt.
Die Beklagte war der Ansicht, die Klägerin sei daher weder rechts- noch parteifähig.
Der BGH setzte das Verfahren aus und holte eine Vorabentscheidung des EuGH ein.
Nachdem der EuGH im Überseering-Urteil715 entschieden hatte, dass die Sitztheorie gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt, bejahte der BGH die Parteifähigkeit
der Gesellschaft Überseering. Sie müsse auch nach einer Sitzverlegung ins Inland
ihre vertraglichen Rechte als Besloten Vennootschap geltend machen können. Hierzu müsse sie das deutsche Internationale Gesellschaftsrecht hinsichtlich ihrer
Rechtsfähigkeit derjenigen Rechtsordnung unterstellen, nach der sie gegründet worden sei. Eine Gesellschaft, die unter dem Schutz der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit stehe, sei berechtigt, ihre vertraglichen Rechte in jedem Mitgliedstaat
geltend zu machen, wenn sie nach der Rechtsordnung des Staats, in dem sie gegründet worden ist und in dem sie nach einer Verlegung ihres Verwaltungssitzes in einem anderen Mitgliedstaat weiterhin ihren satzungsmäßigen Sitz hat, hinsichtlich
des geltend gemachten Rechts rechtsfähig sei.
Die Parteifähigkeit der Klägerin beurteile sich nach der lex fori, also gem. dem
deutschen Prozessrecht. Nach § 50 Abs. 1 ZPO ist eine Gesellschaft parteifähig,
wenn sie rechtsfähig ist. Auch insoweit sei das dargestellte Personalstatut maßgebend.
In diesem Urteil sucht der BGH, die Vorgaben des EuGH hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit umzusetzen. Die Rechtsfähigkeit wird nach der Gründungstheorie
bestimmt. Bei der Parteifähigkeit beschränkt sich der BGH auf die Aussage, dass sie
nach der lex fori bestimmt werde. Parteifähigkeit liegt somit bei Rechtsfähigkeit
nach dem Personalstatut vor. Gilt diese Regel nur für rechtsfähige Gebilde, muss es
für solche nach der Gründungstheorie als ausländisch eingestuften Gebilde zu einem
Gleichlauf zwischen Rechts- und Parteifähigkeit in inländischen Verfahren kommen. Dies hat aber zur Folge, dass lediglich rechtsfähige Gebilde vom Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit erfasst werden. Ansonsten hätte die Parteifähigkeit
bei prozessrechtlicher Qualifikation kollisionsrechtlich durch Verweisung auf die
Parteifähigkeitsregelungen des Gründungsstaates bestimmt werden müssen.
714 BGH Urt. v. 13.03.2003 – VII ZR 370/98 (= BGH GmbHR 2003, 527).
715 Vgl. dazu S. 150ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Mit der Untersuchung der Parteifähigkeit erörtert der Autor grundsätzliche Fragen des prozessualen und materiellen Gesellschaftsrechts und zeigt bestehende Brüche zwischen beiden Regelungsmaterien auf.
Die Parteifähigkeit wurde traditionell vor allem prozessrechtlich qualifiziert. Nach der Zuerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit an die Außen-GbR durch den BGH und den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in den Verfahren Centros, Überseering und Inspire Art steht die hergebrachte Konzeption auf dem Prüfstand.
Diesen Befund nimmt der Autor zum Anlass und untersucht zunächst die Dogmatik der Parteifähigkeit anhand inländischer Sachverhalte. Nach einem rechtsvergleichenden Teil geht der Verfasser auf die Parteifähigkeit von Gebilden mit ausländischem Personalstatut ein und diskutiert insbesondere die so genannte Scheinauslandsgesellschaft. Darüber hinaus wird die gemeinschaftsrechtliche Dimension der Parteifähigkeit erörtert.