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Prinzipienabwägungen erfordern normative Urteile, in denen autonome Akteure zu
unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Dies ist in Bezug auf konkrete normative Fragen sogar wahrscheinlich. Daher ist zu erwarten, dass definitive Menschenrechte
in verschiedenen Rechtskulturen differieren werden. Dies schließt es allerdings nicht
aus, dass es einen gemeinsamen Kern definitiv gültiger Menschenrechte gibt, der in
allen Rechtsordnungen gilt oder jedenfalls aufgrund des Kriterium vernünftiger Konvergenz objektiv gerechtfertigt werden kann. Daher muss die Existenz definitiver universeller Menschenrechte akzeptiert werden. Darüber hinaus muss das Recht eines jeden
Individuums anerkannt werden, menschenrechtlichen Schutz für fundamentale Interessen zu fordern. Die Reichweite der Anerkennung solcher Forderungen ist allerdings
ein Problem, das erst verfassungsrechtlich zu entscheiden ist.
Eine andere Ursache für kulturelle Differenzierungen im Bereich definitiver Menschenrechte sind kulturelle Werte, die in Abwägungen relevant sein können. Dies setzt
allerdings voraus, dass solche Werte mit der Konzeption einer autonomen Normbegründung vereinbar sind, also als autonom begründete Entscheidung eines Kollektivs
verstanden werden können. Dies ist nicht der Fall sein, wenn kulturelle Traditionen
ohne Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen entstanden sind und eine rationale Argumentation über sie unterdrückt wird. Dennoch besteht die Möglichkeit, das
kulturelle Werte die Abwägung menschenrechtlicher Prinzipien beeinflussen und dementsprechend die definitiv anerkannten Menschenrechte in verschiedenen Rechtskulturen differieren.
IV. Grundrechte
Grundrechte können als verfassungsrechtlich anerkannte Menschenrechte definiert werden. Sie basieren also auf der Idee universeller Menschenrechtsprinzipien. Verfassungen
können diese Prinzipien jedoch in unterschiedlicher Weise in positives Recht übersetzen.
Entsprechend dem einfachen Abwägungsmodell von Menschenrechten einerseits und
der Konzeption von Menschenrechten als exklusionäre, öffentlicher Entscheidungsgewalt
prinzipiell entzogener Rechte lassen sich verschiedene Konzeptionen von Grundrechten
unterscheiden. In einem einfachen Abwägungsmodell bedeutet die verfassungsrechtliche
Anerkennung lediglich, dass Grundrechtsabwägungen als Rechtsfragen behandelt werden,
nicht nur als politische Fragen. In modernen Verfassungsstaaten ist damit die Anerkennung einer gerichtlichen Kontrolle solcher Grundrechtsabwägungen verbunden. Sie führt
zu dem Problem konkurrierender Abwägungskompetenzen von Gerichten und anderen
Organen.
In einem Modell von Grundrechten als exklusionären Rechten ergibt sich hingegen
eine andere Struktur grundrechtlicher Abwägungen. Zunächst handelt es sich um ein spezifisch verfassungsrechtliches Problem, weil exklusionäre Menschenrechtsprinzipien nicht
unmittelbar autonom begründet werden können, sondern positivrechtlich, und das heißt:
verfassungsrechtlich, festgelegt werden müssen. Ferner führt der Anspruch solcher exklusionäre Grundrechte, Abwägungen öffentlicher Entscheidungsträger entzogen zu sein, zu
einer spezifischen Struktur grundrechtlicher Abwägung. In einer grundrechtlichen Abwä-
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gung ist zunächst zu klären, ob der Anspruch auf Immunität grundrechtlicher Positionen
definitiv gerechtfertigt ist. Wenn ja, ist eine öffentliche Eingriffskompetenz in das
Grundrecht in dem betreffenden Fall zu verneinen. Wenn nicht, sind einfache Grundrechtsprinzipien gegen kollidierende Belange abzuwägen.
Ein Problem der Grundrechtstheorie ist somit, welche Besonderheiten sich für
Grundrechte in einem Abwägungsmodell der Normbegründung ergeben. Im Folgenden
soll dargelegt werden, wie sich mit einem Prinzipienmodell der Normbegründung aufgrund der Idee individueller Autonomie individuelle Rechte begründen lassen, die nur
beschränkt Abwägungen unterworfen werden dürfen und zu einer strukturellen Modifikation des Abwägungsmodells führen. Es sollen ferner Kriterien dafür vorgeschlagen
werden, welchen individuellen Rechten ein solcher abwägungsresistenter Status zukommt.
1. Zur Begründung prinzipiell immuner Rechte
Ein einfaches Abwägungsmodell führt zu Problem, dass individuelle Rechte als unbeschränkt abwägungsfähig behandelt werden und jeder kollidierende Belang zu ihrer
Einschränkung führen könnte. So ist insbesondere gegen utilitaristische Theorien eingewandt worden, dass das Individuum als solches, seine Verschiedenheit von anderen
Individuen, nicht ernst genommen werde, wenn seine Interessen unbeschränkt gegen die
Interessen anderer Individuen abgewogen würden und von ihm verlangt werde, seine
Interessen aufzugeben, soweit dies zur Erreichung eines Maximums an Interessenbefriedigung notwendig ist.353 Andererseits könnte argumentiert werden, dass individuelle
Rechte, die die Realisierung des optimalen, alle Interessen in gleicher Weise, nämlich
entsprechend ihrem Gewicht, berücksichtigenden Ergebnisses verhinderten, die egoistische Verfolgung eigener Interessen rechtfertigten, ohne auf andere Interessen Rücksicht
nehmen zu müssen. Die Ideen der Universalisierbarkeit und der gleichen Berücksichtigung aller scheinen durch den Utilitarismus besser realisiert zu werden.354 Wenn jedenfalls bestimmte individuelle Rechte einer allgemeinen, umfassenden Abwägung entzogen werden sollen, bedarf es daher einer moralisch fundierten Begründung dieser Rechte. Als Ansatz hierfür bietet sich die Idee individueller Autonomie an.
1.1. Normbegründung und individuelle Autonomie
Die Idee individueller Autonomie umfasst verschiedene Aspekte, nämlich das Interesse,
die Fähigkeit und das Recht, sein Leben selbst gestalten und kontrollieren zu können.
Persönliche Autonomie besteht in der Fähigkeit, einen eigenen Lebensplan entwerfen
und auch durchführen zu können.355 Moralische Autonomie fordert, dass Individuen
von ihnen selbst anerkannten Normen folgen können und nur solche Normen für sie
353 Rawls 1971, 26f.; Hart 1983, 204; Spector 1992, 152ff.
354 Vgl. Hare 1981, 107ff., 147ff., und insbesondere Hare 1982, 29 Fn. 11. Ferner Dworkin 1978, 275.
355 Raz 1986, 369f.; Nino 1991, 137; Spector 1992, 29f.
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verbindlich sind, deren Anerkennung von ihnen vernünftigerweise verlangt werden
kann. Soweit verbindliche Normen nicht begründet werden können, muss es Individuen
erlaubt sein, ihren eigenen Interessen und normativen Überzeugungen zu folgen, insbesondere sich als Individuen mit eigenen Konzeptionen eines guten Lebens zu verstehen.
Für die Kritik des Utilitarismus ergeben sich daraus zwei Ansatzpunkte, der Übergang von einer Beobachter- zu einer Teilnehmerperspektive und die Begründung von
Abwägungsverboten. Es genügt für die Begründung moralischer Normen nicht, dass
eine Norm aus der Sicht eines unbeteiligten, unparteilichen Beobachters als richtig erscheint. Normen müssen vielmehr gegenüber den Beteiligten als verbindlich begründet
werden, d.h. es muss nicht nur begründet werden, dass die Beteiligten bestimmten
Normen folgen sollen, sondern auch, dass jeder die Anwendung dieser Normen als
gerechtfertigt ansehen muss. Es ist unter diesem Aspekt problematisch, die Interessen
verschiedener Individuen unbeschränkt gegeneinander aufzurechnen (und insofern
Individuen gleich zu behandeln, als niemandem ein intrinsischer Wert beigemessen
wird356), wie es die Maximierung der Erfüllung dieser Interessen als Kriterium der
Normbegründung vorsieht. Nur wenn und soweit eine Begründung dieses Kriteriums
aus der Teilnehmerperspektive gelingt, ist eine utilitaristische Begründung verbindlicher
Normen möglich.
Auf der Grundlage der individuellen Autonomie der Beteiligten lassen sich als
verbindlich nur Normen begründen, denen die Beteiligten vernünftigerweise zustimmen
müssen. Diese werden keinem Kriterium der Normbegründung zustimmen, das ihre Autonomie nicht respektiert. Eine unbeschränkte Abwägung von Rechten ist im Hinblick
auf die individuelle Autonomie der Rechtsträger problematisch, da Individuen auf diese
Weise die Kontrolle über die Gestaltung ihres eigenen Lebens verlieren. Welche Normen sich daraus ergeben, hängt entscheidend davon ab, welche anderen Individuen beteiligt sind, welche Interessen diese haben und welche Intensität deren Interessen haben.
Die individuelle Autonomie wird in Gruppen mit hoher Mitgliederzahl praktisch vollständig zur Disposition gestellt. Darauf kann sich aber ein Subjekt, das ein Interesse an
individueller Autonomie hat, nicht vorbehaltlos einlassen, auch wenn es, soweit die
Notwendigkeit allgemeinverbindlicher Normen begründet werden kann, Einschränkungen seiner Autonomie hinnehmen muss. Individuelle Rechte müssen eingeführt werden,
um diese Vorbehalte näher zu definieren. Sie sind einer allgemeinen, auf Optimierung
aller relevanten Interessen gerichteten Abwägung entzogen und insofern abwägungsresistent. Ihre Anerkennung schafft eine Voraussetzung dafür, dass vernünftige Subjekte
mit einem Interesse an individueller Autonomie den als Abwägungsergebnis festgesetzten Normen zustimmen können und damit die Begründung der Verbindlichkeit dieser
Normen möglich ist.
Daher muss derjenige, der Verbindlichkeit für eine Norm beansprucht, noch näher
zu spezifizierende individuelle Rechte beachten, die die Autonomie der Beteiligten
sichern. Diese Rechte ergeben sich aus den Anforderungen, die an verbindliche Norm-
356 So Hart 1983, 200.
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begründungen zu stellen sind.357 Nun beanspruchen Rechtssysteme und deren Organe
Verbindlichkeit für ihre normativen Festsetzungen. Wegen der individuellen Autonomie
der Beteiligten setzt dieser Anspruch die Anerkennung individueller Rechte voraus.
Demzufolge lassen sich diese Rechte jedenfalls innerhalb von Rechtssystemen begründen.358
1.2. Subjektive Rechte als Voraussetzung der Normbegründung
Normbegründungen erfordern somit ein diskursives Verfahren, in dem die Beteiligten
aufgrund einer Abwägung von Prinzipien individuelle normative Konzeptionen entwickeln, darin auf 2. Stufe die individuellen Normkonzeptionen der anderen Beteiligten
berücksichtigen und versuchen, einen Konsens über die verbindlichen definitiven Normen oder jedenfalls über ein autoritatives Verfahren zu deren Festlegung zu finden.
Individuelle Rechte sind in diesem Modell in zwei Hinsichten Voraussetzung für die
Möglichkeit der Begründung verbindlicher Normen. Einerseits müssen die Beteiligten
diejenigen Rechte haben, die zur Durchführung dieses Begründungsverfahrens notwendig sind. Dazu gehören prozedurale Rechte i.e.S. auf Teilnahme an diesem Begründungsverfahren sowie substantielle prinzipielle Rechte (prozedurale Rechte i.w.S.) auf
die Berücksichtigung legitimer normativer Argumente und korrekt gebildeter normativer Urteile. Von ihnen sind definitive substantielle Rechte mit Blick auf die möglichen
Ergebnisse dieser Verfahren zu unterscheiden.
Die Begründung abwägungsresistenter substantieller Rechte ist im Abwägungsmodell allerdings problematisch. Welche Rechte kann ein Individuum noch geltend machen, wenn eine korrekt durchgeführte Begründungsprozedur, die seine Interessen und
normativen Vorstellungen korrekt berücksichtigt hat, aufgrund eines autoritativen, aber
diskursiv gerechtfertigten Entscheidungsverfahrens zu einem Ergebnis kommt, das der
normativen Konzeption dieses Beteiligten widerspricht?359 Kann es solche Rechte
überhaupt geben, ohne die autoritative Entscheidung und damit die Möglichkeit einer
verbindlichen Normbegründung selbst wieder in Frage zu stellen?
Ein Ansatz zur Begründung abwägungsresistenter substantieller Rechte ist das
Interesse an individueller Autonomie und dem begrenzten Interesse des Individuums an
357 Vgl. auch Nino 1991, 253, der zudem annimmt, dass Individuen letztlich selbst darüber entscheiden
könnten, ob ihre Interessen in korrekter Weise berücksichtigt worden sind. Dies vernachlässigt
jedoch die Unterscheidung zwischen der Forderung und der Begründung von Rechten und dürfte
allenfalls für moralische Rechte gelten. Hinsichtlich der Verbindlichkeit von Rechtsnormen muss
auch über die Einhaltung der Bedingungen eines rationalen Diskurses u.U. autoritativ entschieden
werden.
358 Im Bereich der Moral könnte demgegenüber mit der Begründung von Verpflichtungen auch die Begründung von Rechten scheitern. Gelingt eine moralische Begründung von Normen nicht, würde ein
Zustand einfacher Freiheit bestehen, aber keine Rechte. In Rechtsordnungen lassen sich demgegen-
über wegen des in Rechtssystemen erhobenen Verbindlichkeitsanspruchs individuelle Rechte unabhängig von allgemeinen Problemen der Normbegründung einführen. Rechte sind bei dieser Begründung nicht vorrechtlich, sondern normative Implikationen des positiven Rechts.
359 Vgl. Habermas 1994, 229: "im Taumel (kommunikativer) Freiheit gibt es keine Fixpunkte mehr
außer dem des demokratischen Verfahrens selber."
248
der Geltung verbindlicher Normen. Das Interesse an individueller Autonomie und an
der Geltung verbindlicher Normen können kollidieren. Individuelle Autonomie wird
sich nicht vollständig realisieren lassen. Ein gewisser Verlust an Kontrolle über das
eigene Leben wird sich in Rechtssystemen nicht vermeiden lassen. Individuelle Autonomie kann aber auch nicht vollständig aufgegeben werden, die eigene Lebensgestaltung
nicht vollständig zur Disposition gestellt werden.360 Die Regelung von Interessenkonflikten durch allgemeinverbindliche Normen ist ein wesentlicher Aspekt in den individuellen Konzeptionen eines guten Lebens, aber nicht das einzige oder oberste, alles
andere überlagernde Interesse von Individuen.
Dies bedeutet eine Modifikation des Kriteriums der Verbindlichkeit von Normen.
Verbindlichkeitsansprüche sind generell gerechtfertigt, wenn vernünftige Konvergenz
über eine Norm besteht und eine gemeinsame, für alle Beteiligten verbindliche Regelung notwendig ist. Diese Notwendigkeit muss wiederum begründet werden. Es treten
Probleme normativer Begründung wie hinsichtlich der Normen erster Stufe auf. Verschiedene Subjekte können unterschiedliche Auffassungen vertreten. Dieser Streit ist
wiederum nach dem Kriterium vernünftiger Konvergenz zu entscheiden. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Regelung ist auf der zweiten Stufe notwendigerweise gegeben. Das Argument der Existenz abwägungsresistenter Rechte macht nun geltend, dass
sich vernünftige Konvergenz über die Notwendigkeit einer verbindlichen Regelung
nicht erreichen lässt, wenn Autonomieinteressen mancher Beteiligter in derart starker
Weise beeinträchtigt werden, dass sie vernünftigerweise einen ungeregelten Zustand
einer rechtlichen Regelung vorziehen.
Die Beurteilung dieser Frage erfordert wiederum eine Abwägung, und zwar der
jeweiligen individuellen Interessen an individueller Autonomie und an der Geltung allgemeinverbindlicher Normen durchgeführt werden. Diese Abwägung unterscheidet sich
jedoch in ihrem Gegenstand von der der Begründung einer verbindlichen Norm erster
Stufe. Fraglich ist auch, wer das Abwägungsurteil zu treffen hat und welche Kriterien
sich für diese Abwägung angeben lassen, und damit dafür, welche individuellen Rechte
als notwendige Bedingung für die Begründung verbindlicher Normen anerkannt werden
müssen.
Der Gegenstand dieser Abwägung sind nicht einfach die faktischen Interessen des
Betroffenen und deren Intensität. Vielmehr ist zu vergleichen, wie weit die autoritativ
begründete Regelung von der normativen Konzeption des Betroffenen, also den von
ihm für richtig gehaltenen Regelungen, abweicht. Es ist zu fragen, inwieweit diese
Abweichung von der eigenen normativen Konzeption die betreffende Person in ihren
Interessen, also in ihrer Konzeption eines guten Lebens, beeinträchtigt und ob diese
Beeinträchtigung so weit geht, dass sie ein Interesse an einer verbindlichen Regelung
überwiegt. Im letzteren Fall kann die Regelung als unzumutbar bezeichnet werden.
Zur Frage, wessen Abwägungsurteil maßgeblich sein soll, ist davon auszugehen,
dass das Urteil, ob die Beeinträchtigung einer individuellen Lebenskonzeption das Interesse an verbindlicher Regelung überwiegt und die Regelung damit unzumutbar ist,
360 Vgl. auch Nagel 1991, 3ff., 16.
249
wiederum ein individuelles Urteil sein muss. Es kann jedoch nicht das des Betroffenen
selbst sein. Denn dies würde zwar eine Forderung des Betroffenen begründen, aber
keine Begründung von Rechten als Voraussetzung der Verbindlichkeit von Normen
erlauben. Eine Begründung von Rechten als Voraussetzung einer verbindlichen Normbegründung erfordert, dass derjenige, der die Verbindlichkeit einer Norm behauptet,
dies korrekt nur unter Beachtung bestimmter individueller Rechte tun kann. Diese
Rechte werden jedoch nicht ohne weiteres durch entsprechende Forderungen der
Betroffenen begründet. Es können unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen,
welche individuellen Rechte anzuerkennen sind. Da individuelle Rechte als Begrenzung
von Verbindlichkeitsansprüchen dienen sollen, müssen sie Teil der normativen Konzeption desjenigen sein, der solche Verbindlichkeitsansprüche erhebt. Es kommt also
darauf an, welche individuellen Rechte der Proponent einer Regelung notwendigerweise
anerkennen muss, um die Verbindlichkeit dieser Regelung legitimerweise behaupten zu
können. Damit ist aber auch das Urteil über das Verhältnis von individueller Beeinträchtigung und Verbindlichkeitsinteresse des Betroffenen nicht durch diesen selbst,
sondern durch denjenigen zu treffen, der eine Norm als richtig behauptet und als
Ergebnis einer autoritativen Entscheidung vorschlägt.
Als Kriterien für diese Abwägung kommen ein Rollentauschkriterium und ein
Universalisierbarkeitskriterium in Betracht. Das Rollentauschkriterium fordert von
anderen Beteiligten die Beantwortung der Frage, ob sie eine Regelung akzeptieren
würden, die in einem Maß in ihre Lebensgestaltung eingreift, wie dies die fragliche
Regelung in Bezug auf die Konzeption des nachteilig Betroffenen tut.361 Es ist z.B. zu
fragen, ob jemand es akzeptieren würde, wenn seine Privatsphäre durch Fotoveröffentlichungen ohne seine Zustimmung in einer Weise beeinträchtigt würden, wie dies bei der
Bildberichterstattung über Prominente üblich ist. Eine andere Möglichkeit ist, vergleichbare Beeinträchtigungen in anderen Fällen zu suchen und zu fragen, ob eine Beeinträchtigung der fraglichen Intensität akzeptabel wäre. Dies kann Probleme bereiten,
erscheint aber nicht unmöglich. Akzeptieren der Regelung bedeutet hier, sie zwar nicht
notwendig als richtig, aber dennoch als verbindlich anzusehen. Dies erfordert eine positive normative Einstellung und ist damit mehr als ein Sichabfinden mit einer Regelung,
etwa weil keine Chance besteht, sie zu ändern oder sich ihr zu entziehen und Sanktionsdrohungen es vorteilhaft erscheinen lassen, der Regelung zu folgen. Es muss also
vom Proponenten einer Regelung beansprucht werden, dass diese Regelung von jedem
vernünftigen Subjekt freiwillig, ohne Ausübung von Zwang, als verbindlich anerkannt
werden muss. Dies kann er legitmerweise nur tun, wenn er selbst, sollte er von einer
entsprechende Regelung betroffen sein, diese akzeptieren und für gerechtfertigt halten
würde.
Ein Universalisierbarkeitskriterium lässt sich in Form der Frage einführen, ob in
der fraglichen Gesellschaft von allen vernünftigen Beteiligten eine Norm akzeptiert
werden würde, die die Interessen eines jeden Mitglieds in einer Intensität einschränkte,
361 Ein Rollentauschkriterium verwendet auch Dworkin zur Erläuterung seines Rechts zu "equal concern and respect", ders., 1978, 357. Vgl. ferner Nagel 1991, 17.
250
wie dies bei der fraglichen Regelung für einzelne Betroffenen der Fall ist. Dies lässt
sich auch als eine Frage nach der Stabilität der Gesellschaft verstehen.362 Wenn Eingriffe gegenüber einzelnen eine Intensität haben, die, würden sie alle oder die meisten
der Beteiligten treffen, vermutlich nicht hingenommen werden würden und damit die
Stabilität des Rechtssystems in Frage stellten, wäre es nicht zumutbar, sie einzelnen Betroffenen aufzuerlegen. Sie wären dann nur als Unterdrückung einer Gruppe der Beteiligten möglich, da sie als allgemeine, jeden treffende Beeinträchtigung nicht akzeptiert
würden.
Unter Akzeptierung ist wiederum nicht faktische Akzeptierung aufgrund äußeren
Zwangs, sondern Akzeptierung als verbindliche Regelung zu verstehen. Diese fehlt,
wenn die Beteiligten Regelungen nicht als an der Idee der Richtigkeit orientierte, für
alle Beteiligten verbindliche Normen ansehen, sondern lediglich als Instrument zur
Durchsetzung von Interessen. Die Beteiligten könnten zwar weiterhin normative Ansprüche erheben und Normen als richtig oder verbindlich behaupten, jedoch nur, weil
und soweit dies der Durchsetzung ihrer Interessen förderlich ist. Es bestünde keine
normative Gemeinschaft363 im Sinne einer Menge von Personen, die, soweit erforderlich, nach gemeinsamen, für alle verbindlichen Normen lebt und in der, als Voraussetzung dafür, Interessenkonflikte mit dem Ziel einer für alle akzeptablen Regelung
entschieden werden. Beeinträchtigungen individueller Interessen können so weit gehen,
dass die betroffenen Individuen diese nicht mehr als Regelungen innerhalb einer normativen Gemeinschaft verstehen. Soweit nur einzelne Individuen betroffen sind, führt dies
jedoch nicht notwendig zu feststellbaren gesellschaftlichen Auswirkungen. Das Universalisierbarkeitskriterium fordert eine Abschätzung, welche Auswirkungen sich ergeben,
wenn nicht einzelne, sondern alle Individuen in entsprechender Weise Beeinträchtigungen unterworfen würden. Es kann daher zu deutlicheren Ergebnissen führen als die
Betrachtung der Situation einzelner Beteiligter aufgrund des Rollentauschkriteriums.
Auch das Universalisierbarkeitskriterium erfordert Abschätzungen, die schwer begründbar sein können, aber jedenfalls nicht generell unmöglich sind.
Als abwägungsresistente Rechte, die nicht unbeschränkt Abwägungen unterworfen
werden dürfen, sind demnach diejenigen Rechte anzuerkennen, deren Beeinträchtigung
ein solches Maß erreichen kann, dass sie die vernünftige Akzeptanz der Verbindlichkeit
von Normen in Frage stellen kann. Es lassen sich bestimmte, besonders wichtige Rechte
angeben, wie sie in verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalogen enthalten sind. Jedoch
kann für eine solche Aufzählung keine Vollständigkeit beansprucht werden, weil es auf
die Wichtigkeit bestimmter Interessen in individuellen Lebenskonzeptionen und das
362 Zur Stabilität von Gesellschaften und "overlapping consensus" Rawls 1992, 293ff., 333ff. Rawls
sieht einen über Kosten-Nutzen-Überlegungen hinausgehenden Konsens über eine regulative politische Gerechtigkeitskonzeption als notwendig für die Stabilität einer Gesellschaft an. Dieses
Argument hat empirischen Charakter. Demgegenüber wird hier das Kriterium der Stabilität normativ als Bedingung der Begründung von Verbindlichkeitsansprüchen eingeführt.
363 Gemeinschaft wird hier in einem weiten Sinn verstanden, ohne Voraussetzung fester Grenzen der
Mitgliedschaft, gemeinsamer substantieller Prinzipien oder einer eigenen Identität. Zu anderen
Gemeinschaftsbegriffen Dworkin 1986, 208ff., der mit dem "model of principle" einen erheblich
stärkeren Gemeinschaftsbegriff verbindet (ebd., 211ff.).
251
Maß von deren Beeinträchtigung ankommt. Jedes Interesse, das eine hinreichend gewichtige Form persönlicher Freiheit darstellt, kann grundrechtlichen Schutz beanspruchen. Hinreichend gewichtig ist es, wenn seine völlige Verdrängung die Akzeptabilität
einer verbindlichen Regelung in Frage stellen würde.
2. Sonderstatus von Grundrechten in Abwägungen
Ein Problem von Grundrechten im Prinzipienmodell ist, ob und wie sich ein Sonderstatus solcher Rechte in Abwägungen, also in optimierenden Normbegründungsverfahren,
konstruieren lässt. Es lassen sich prozedurale und substantielle Grundrechte als Voraussetzung der Möglichkeit einer verbindlichen Normbegründung unterscheiden. Zu den
prozeduralen Rechten gehören Rechte auf Teilnahme an diskursiven und autoritativen
Entscheidungsverfahren sowie Rechte auf die Berücksichtigung der eigenen Interessen
und normativen Konzeptionen durch die anderen Beteiligten. Substantielle Grundrechte
bestimmen Grenzen der Abwägung dieser Interessen und Konzeptionen. Sie umfassen
ein prinzipielles Recht auf Anerkennung der individuellen Autonomie jedes einzelnen
sowie definitive Rechte, die sich aus der Abwägung dieses Rechts auf Autonomie gegen
das Interesse des betreffenden Individuums an allgemeinverbindlichen Normen ergeben.
Dies führt zu einer Trennung von zwei Problemen und Abwägungen, zum einen die
Bestimmung der richtigen, optimalen Norm im Hinblick auf die Interessen und Überzeugungen der Beteiligten, zum anderen die Prüfung, ob diese Norm bei keinem der
Beteiligten dazu führt, dass dessen Interesse an individueller Autonomie sein Interesse
an der Geltung verbindlicher Normen überwiegt. Prozedurale Grundrechte sind in
beiden Abwägungen zu beachten. Substantielle Grundrechte sind zwar auch prinzipielle
Rechte auf der ersten, optimierenden Stufe der Abwägung.364 Ihren Status als Grundrecht haben sie jedoch deshalb, weil ihre Beeinträchtigung auf der zweiten Stufe zu
einem Überwiegen des Interesses individueller Autonomie führen kann und damit die
Verbindlichkeit der als Abwägungsergebnis festgesetzten Norm in Frage stellen kann.
Ob dies der Fall ist, ist vom Urteilenden aufgrund von Rollentausch- und Universalisierbarkeitskriterien zu prüfen. Sie können der Realisierung eines insgesamt optimalen
Ergebnisses entgegenstehen. Es ist demgegenüber nicht möglich, diese Rechte in einer
Abwägung erster Stufe zu berücksichtigen, indem der individuellen Autonomie ein
besonders hohes Gewicht beigemessen wird. Dies würde dazu führen, dass auch die
Autonomie der anderen Beteiligten in gleicher Weise zu gewichten wäre und damit die
Mehrheitsmeinung stets überragendes Gewicht erhielte. Abwägungsresistente Rechte
einzelner lassen sich im Abwägungsmodell nur begründen, wenn der Gegenstand der
Abwägung verändert wird. Statt einer Optimierung in Bezug auf sämtliche relevanten
Interessen muss der Urteilende die Zumutbarkeit für einzelne Beteiligte nach Rollentausch- und Universalisierbarkeitskriterien beurteilen.
364 Als prinzipielle Rechte haben sie zugleich prozeduralen Charakter, insofern sie eine Optimierung
verlangen.
252
V. Fazit
(1) Die Analyse der Idee von Menschenrechten im Rahmen des Prinzipienmodells zeigt,
dass in manchen Hinsichten eine universelle Begründung von Menschenrechten möglich ist, in anderen jedoch kulturelle Differenzierungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können.
(2) Es sind verschiedene Unterscheidungen zu treffen: zwischen Autonomierechten, die
die Basis der Menschenrechtsbegründung bilden, Menschenrechtsprinzipien und definitiven Menschenrechten. Ferner sind Menschenrechtskonzeptionen, die lediglich die Abwägung fundamentaler Interessen verlangen, von solchen, die exklusionäre Menschenrechtsprinzipien enthalten, zu unterschieden. Entsprechend wurden Konzeptionen eines
"demokratischen Totalitarismus" und eines "konstitutionellen Liberalismus" unterschieden.
(3) Die Idee individueller Autonomie kann als universell gültig verteidigt werden.
Keine akzeptable Konzeption der Normbegründung kann die Rechte, interessenbasierte
Argumente vorzubringen, und eigene normative Urteile zu bilden, bestreiten.
(4) Interessenbasierte Menschenrechtsprinzipien sind ebenfalls universell gültig, verlangen aber Abwägungen.
(5) Exklusionäre Menschenrechtsprinzipien müssen rechtlich festgelegt werden und
können daher in verschiedenen Rechtskulturen differieren. Das Recht, solche prinzipiellen Rechte zu fordern, kann jedoch nicht bestritten werden. Ferner kann ein Kern exklusionärer Menschenrechtsprinzipien notwendigerweise in allen Rechtsordnungen anzuerkennen sein.
(6) Definitive Menschenrechte sind abwägungsabhängig und damit kulturrelativ. Jedoch
lässt sich wiederum das Recht, solche Rechte einzufordern, nicht bestreiten. Ferner wird
sich wiederum ein Kern definitiver Menschenrechte als universell gültig begründen lassen, der allerdings für demokratische Verfassungsstaaten wenig interessant ist, weil verfassungsrechtliche Regelungen über ihn hinaus gehen werden.
(7) Grundrechte lassen sich ebenfalls in verschiedenen Konzeptionen konstruieren, als
einfache Prinzipien oder als prinzipiell immune, abwägungsresistente Rechte. Letzteres
führt in Verbindung mit der Idee individueller Autonomie auf eine Struktur der Normbegründung, die individuelle normative Konzeptionen mit Richtigkeitsanspruch, autoritative Entscheidungen und individuelle Rechte als Begrenzung des Verbindlichkeitsanspruchs autoritativer Entscheidungen enthält.
(8) Grundrechte im Sinne prinzipiell immuner Rechte haben einen Sonderstatus in
Abwägungen insofern, als sie gesonderte Abwägungen mit einem eigenem Gegenstand
erfordern. In solchen Abwägungen geht es um die individuelle Zumutbarkeit autoritativer Regelungen für autonome Individuen, die eigene Konzeptionen eines guten Lebens
sowie ein Interesse an allgemeinverbindlichen Normen haben. Der Sonderstatus solcher
Rechte erfordert eine Modifikation eines einfachen Abwägungsmodells.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.