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bestimmen." Allerdings muss auch ein konstitutioneller Liberalismus die Existenz und
Notwendigkeit einer öffentlichen Gewalt akzeptieren, die in das Leben der Bürger
eingreift. Es muss daher politische Rechte geben, über das Leben anderer zu entscheiden. Aber diese Eingriffsmöglichkeiten können nicht unbegrenzt akzeptiert werden. Autonome Subjekte werden manche ihrer Interessen gegen Eingriffe schützen. Ein
Kriterien dafür kann sein, ob Interessen so wichtig sind, dass Individuen eher auf die
Vorteile gemeinsamer Regelungen verzichten als auf die Realisierung dieser Interessen.
III. Ein System von Menschenrechten
Die Struktur des Prinzipienmodells führt zu einer Unterscheidung verschiedener Aspekte von Menschenrechten. Die Grundlage ist die Idee individueller Autonomie mit der
Konsequenz der Anerkennung bestimmter Autonomierechte. Hinzu kommen Menschenrechtsprinzipien, die fundamentale menschliche Interessen schützen, und definitive Menschenrechte, die sich als Ergebnis der Abwägung von Menschenrechtsprinzipien mit anderen Belangen ergeben.
1. Autonomierechte
Autonome Normbegründung fordert die Anerkennung von zwei Autonomierechten: der
Kompetenz, interessen-basierte Argumente vorzubringen und der Kompetenz, eigene
normative Urteile zu bilden. Diesen Kompetenzen korrespondieren Pflichten der anderen Argumentationsteilnehmer, die vorgebrachten Argumente und Urteile in ihren eigenen Urteilen zu berücksichtigen und insoweit zu akzeptieren, wie keine gewichtigeren
Gegengründe gegen sie geltend gemacht werden können. Es lassen sich ferner weitere
Rechte begründen, die notwendig sind, um von den Kompetenzen autonomer Begründung Gebrauch zu machen: die Gewährleistung der Möglichkeit, Interessen und individuelle Konzeptionen eines guten Lebens zu formen, das Recht, diese zum Ausdruck zu
bringen und das Recht, zu den Forderungen und Ansichten anderer Stellung zu nehmen.
Diese Konzeption der Autonomierechte als Kompetenzen unterscheidet sich von
Konzeptionen, die Autonomie als Wert einführen. Sie begründet Automonierechte als
Voraussetzung einer erfolgreichen Normbegründung. Natürlicherweise werden Subjekte
mit der Fähigkeit zu autonomer Entscheidungen ihre Autonomie auch positiv bewerten.
Die Begründung der Autonomierechte ist davon jedoch unabhängig. Dies ist wichtig,
weil ein Einwand gegen die Universalität von Menschenrechten ist, dass sie auf Werten
basierten, die kulturrelativ seien. Auf diese wertbasierte Begründung kommt es jedoch
nicht an. Autonomierechte definieren Voraussetzungen der Möglichkeit, verbindliche
Normen zu begründen, die universell gültig sind.
2. Menschenrechtsprinzipien
Menschenrechtsprinzipien fordern die Respektierung bestimmter Rechte durch öffentliche Entscheidungsträger. Allerdings wird nicht jedes beliebige Interesse als Gegenstand
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eines Menschenrechts behandelt. Aufgrund seiner Autonomierechte kann zwar jeder die
angemessene Berücksichtigung seiner Interessen bei der Festlegung verbindlicher
Normen verlangen. Für die Annahme eines eigenen Menschenrechtsprinzips muss jedoch etwas hinzukommen, was als Fundamentalität dieses Interesses bezeichnet werden
kann.351 Klärungsbedürftigkeit ist allerdings, was darunter zu verstehen ist. Mehrere
Ansätze zur Interpretation, was fundamentale Interessen sind, kommen in Betracht.
(1) Interessen, die jeder vernünftigerweise als Teil eines guten Leben ansehen muss.
Dies ist jedoch problematisch, weil etwa Religion nicht von allen für wichtig gehalten
werden muss, gleichwohl aber für diejenigen fundamental ist, die tiefe religiöse Überzeugungen haben.
(2) Interessen obersten Abstraktionsgrades, die nicht von weiteren Interessen abgeleitet
sind.
Dies ist jedoch problematisch, weil die Abstraktheit eines Interesses nicht dessen
Schutzwürdigkeit bestimmt. So ist das Recht auf medizinische Versorgung relativ konkret. Es kann einem Recht auf Gesundheit oder noch abstrakter auf ein gutes Leben untergeordnet werden. Gleichwohl erscheint die Annahme eines Menschenrechts auf medizinische Versorgung durchaus plausibel.
(3) Interessen, deren Respektierung Voraussetzung der Legitimität einer Rechtsordnung
ist.
Dies ist plausibel, schränkt Menschenrechte allerdings auf Rechte gegen Staaten oder
andere Hoheitsträger ein. Zudem ist die Abgrenzung gegenüber Autonomierechten
problematisch, aufgrund derer die angemessene Berücksichtigung eines jeden Interesses
verlangt werden und zur Voraussetzung der Legitimität einer Rechtsordnung werden
kann. Hier wird die mangelnde Berücksichtigung eines legitimen Interesses nicht ohne
weiteres die Legitimität einer Rechtsordnung in Frage stellen. Als Menschenrechtsprinzipien können demnach solche angesehen werden, deren Verletzung möglicherweise
zum Verlust der Legitimität der Rechtsordnung führen kann.
Die Interpretation von Menschenrechtsprinzipien als Rechte, deren Respektierung
Bedingung der Legitimität einer Rechtsordnung ist, erscheint plausibel. Sie kann auf die
weite wie auf die enge Konzeption von Menschenrechten bezogen werden.
Legt man - im Sinne eines "demokratischen Totalitarismus" - die weite Konzeption
von Menschenrechten zugrunde, die jedes fundamentale menschliche Interesse umfasst,
wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Glück etc., dann lassen sich solche Prinzipien als universell gültig begründen. Sie verlangen allerdings lediglich Berücksichtigung
in Abwägungen durch rechtserzeugende Instanzen. Dies lässt offen, in welchem Umfang sie definitiv anerkannt werden.
Die enge Konzeption von Menschenrechten des "konstitutionellen Liberalismus"
beschränkt Menschenrechte auf solche, die nicht den Entscheidungen einer öffentlichen
Gewalt unterworfen sein sollen. So ist das Interesse an persönlicher Freiheit, tun und
lassen zu können, was man will, unabhängig von rechtlicher Reglementierung. Es ist
nicht lediglich ein Interesse, das angemessene Berücksichtigung in einer Abwägung
351 So Alexy 2004.
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verlangt, sondern eines, nicht fremden Entscheidungen hinsichtlich seiner Lebensführung unterworfen zu sein. Es ist nicht eine Forderung, die Abwägung verlangt, sondern
eine, keinen Abwägungen fremder Entscheidungsträger unterworfen zu sein. Die korrespondierenden Prinzipien können als exklusionäre Prinzipien bezeichnet werden,352 da
sie die Abwägung der betreffenden Interessen ausschließen. Allerdings kann ein solcher
prinzipieller Abwägungsausschluss wiederum Abwägungen unterworfen sein und durch
gegenläufige Gründe verdrängt werden, die öffentliche Entscheidungskompetenzen
fordern.
Für die Konzeption von Menschenrechten als exklusionäre Prinzipien ist nicht klar,
ob sie universell gültig und kulturinvariant ist. Die Frage der Abgrenzung öffentlicher
Entscheidungskompetenzen ist keine Sache individueller Entscheidung. Es ist eine gemeinsame, verbindliche Regelung erforderlich, die exklusionäre Menschenrechte und
öffentliche Entscheidungskompetenzen voneinander abgrenzt. Dies erfordert eine rechtliche Regelung und kann nicht durch individuelle autonome Entscheidung bestimmt
werden. Solche Regelungen können für verschiedene Rechtsordnungen differieren.
Dieser Einwand schließt allerdings die universelle Geltung exklusionärer Menschenrechtsprinzipien nicht aus. Öffentliche Gewalt benötigt eine Rechtfertigung. Diese
Rechtfertigung muss auf objektive Kriterien rekurrieren, zumindest das Kriterium vernünftiger Konvergenz. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, Menschenrechte in
Form exklusionärer Prinzipien zu begründen. Zum einen könnte objektiv begründet
werden, dass ein solches Prinzip vernünftigerweise anerkannt werden muss. Dies ist
jedenfalls in Extremfällen möglich. So kann ein Recht, nicht zu dem Zweck getötet zu
werden, seine Organe anderen zu implantieren, nicht ernsthaft bestritten werden. Zum
anderen, selbst wenn objektive Kriterien die Anerkennung einer öffentlichen Entscheidungskompetenz nahe legen, kann eine solche Kompetenz als unvereinbar mit individueller Autonomie angesehen werden, weil Autonomieinteressen die Gründe für die Anerkennung einer öffentlichen Entscheidungskompetenz überwiegen. Die Berechtigung
solcher Ansprüche muss zwar letztlich von Gerichten entschieden werden, nicht von
Individuen selbst. Das Recht, exklusionäre Menschenrechtsprinzipien geltend zu machen, kann jedoch nicht bestritten werden und muss universell anerkannt werden.
3. Definitive Menschenrechte
Eine vollständige Konzeption von Menschenrechte muss angeben, welche Menschenrechte definitiv gültig sind. Dies hängt von der Abwägung von Menschenrechtsprinzipien mit kollidierenden Prinzipien ab. Auf definitiver Ebene ist fraglich, ob universelle
Menschenrechte begründet werden können. Kulturelle Diversität kann aufgrund zweier
Faktoren entstehen. Zum einen hängt die Abwägungsprozedur von Umständen ab, die
kulturspezifisch sein können. Zum anderen können partikulare kulturelle Werte das
Abwägungsergebnis beeinflussen.
352 Dies verwendet die Idee exklusionärer Gründe von Raz 1999, 40.
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Prinzipienabwägungen erfordern normative Urteile, in denen autonome Akteure zu
unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Dies ist in Bezug auf konkrete normative Fragen sogar wahrscheinlich. Daher ist zu erwarten, dass definitive Menschenrechte
in verschiedenen Rechtskulturen differieren werden. Dies schließt es allerdings nicht
aus, dass es einen gemeinsamen Kern definitiv gültiger Menschenrechte gibt, der in
allen Rechtsordnungen gilt oder jedenfalls aufgrund des Kriterium vernünftiger Konvergenz objektiv gerechtfertigt werden kann. Daher muss die Existenz definitiver universeller Menschenrechte akzeptiert werden. Darüber hinaus muss das Recht eines jeden
Individuums anerkannt werden, menschenrechtlichen Schutz für fundamentale Interessen zu fordern. Die Reichweite der Anerkennung solcher Forderungen ist allerdings
ein Problem, das erst verfassungsrechtlich zu entscheiden ist.
Eine andere Ursache für kulturelle Differenzierungen im Bereich definitiver Menschenrechte sind kulturelle Werte, die in Abwägungen relevant sein können. Dies setzt
allerdings voraus, dass solche Werte mit der Konzeption einer autonomen Normbegründung vereinbar sind, also als autonom begründete Entscheidung eines Kollektivs
verstanden werden können. Dies ist nicht der Fall sein, wenn kulturelle Traditionen
ohne Berücksichtigung der Interessen aller Betroffenen entstanden sind und eine rationale Argumentation über sie unterdrückt wird. Dennoch besteht die Möglichkeit, das
kulturelle Werte die Abwägung menschenrechtlicher Prinzipien beeinflussen und dementsprechend die definitiv anerkannten Menschenrechte in verschiedenen Rechtskulturen differieren.
IV. Grundrechte
Grundrechte können als verfassungsrechtlich anerkannte Menschenrechte definiert werden. Sie basieren also auf der Idee universeller Menschenrechtsprinzipien. Verfassungen
können diese Prinzipien jedoch in unterschiedlicher Weise in positives Recht übersetzen.
Entsprechend dem einfachen Abwägungsmodell von Menschenrechten einerseits und
der Konzeption von Menschenrechten als exklusionäre, öffentlicher Entscheidungsgewalt
prinzipiell entzogener Rechte lassen sich verschiedene Konzeptionen von Grundrechten
unterscheiden. In einem einfachen Abwägungsmodell bedeutet die verfassungsrechtliche
Anerkennung lediglich, dass Grundrechtsabwägungen als Rechtsfragen behandelt werden,
nicht nur als politische Fragen. In modernen Verfassungsstaaten ist damit die Anerkennung einer gerichtlichen Kontrolle solcher Grundrechtsabwägungen verbunden. Sie führt
zu dem Problem konkurrierender Abwägungskompetenzen von Gerichten und anderen
Organen.
In einem Modell von Grundrechten als exklusionären Rechten ergibt sich hingegen
eine andere Struktur grundrechtlicher Abwägungen. Zunächst handelt es sich um ein spezifisch verfassungsrechtliches Problem, weil exklusionäre Menschenrechtsprinzipien nicht
unmittelbar autonom begründet werden können, sondern positivrechtlich, und das heißt:
verfassungsrechtlich, festgelegt werden müssen. Ferner führt der Anspruch solcher exklusionäre Grundrechte, Abwägungen öffentlicher Entscheidungsträger entzogen zu sein, zu
einer spezifischen Struktur grundrechtlicher Abwägung. In einer grundrechtlichen Abwä-
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.