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lisch begründeter Prinzipien in rechtlichen Abwägungen. Dies wiederum wäre aber dem
Unrechtsargument ausgesetzt.
Im Fall einer Kollision eines positivrechtlichen Prinzips mit einem nicht positivrechtlich anerkannten Prinzip könnte eine definitive Norm festgesetzt werden, die das
positivrechtliche Prinzip teilweise beschränkt. Ist dieses Ergebnis eine Rechtsnorm,
oder nur der Teil dieser Norm, der dem positivrechtlich anerkannten Prinzip Vorrang
gibt? Nun lässt sich, wenn die jeweiligen Vorränge komplementär sind, ein Bikonditional bilden: R genau dann, wenn T. Ein Teil dieser Norm ist durch ein positivrechtliches
Prinzip begründet, ein anderer nicht positivrechtlich. Soll es dementsprechend hybride
Normen mit sowohl rechtlichen wie nicht-rechtlichem Charakter geben?
Der inklusive Positivismus wirft somit mehr Probleme auf als er löst und bietet
weder allgemein noch für das Prinzipienmodell eine adäquate Theorie der Rechtsgeltung.
IV. Konflikte zwischen Recht, Moral und Gerechtigkeit
Wenn eine positivrechtliche Regelung eindeutig ungerecht ist, ist die Frage, ob sich
Bürger oder Gerichte und andere Organe des Rechtssystems an das positive Recht halten sollen oder ob sie Geboten der Moral oder Gerechtigkeit folgen sollen. Typischerweise stellt sich dieses Problem allerdings erst nach dem Zusammenbruch eines Unrechtssystems. Dann ist die Frage, wie mit dem vergangenen Unrecht umzugehen ist.
Sind ungerechte Regelungen oder Maßnahmen als rechtlich gültig anzusehen oder
nicht? Die Frage kann sich allerdings auch innerhalb einer faktisch geltenden Rechtsordnung stellen.
Da es sich um eine normative Frage handelt, ist ein normativer Rechtsbegriff
zugrunde zu legen. Die Qualifizierung einer Norm als geltendes Recht impliziert einem
normativen Rechtsbegriff zufolge eine Pflicht der Rechtsanwendungsorgane zur Anwendung und Befolgung der geltenden Rechtsnormen. Daraus folgt, dass die moralische
Zulässigkeit der Anwendung des geltenden Rechts gewährleistet sein muss. Daher sind
Kriterien der Gerechtigkeit oder allgemeiner materieller Richtigkeit für die rechtliche
Geltung einer Norm relevant. Sind sie nicht positiviert, müssen sie als überpositives
Recht anerkannt werden.
Für die Definition dieser überpositiven Kriterien rechtlicher Geltung gibt es verschiedene Vorschläge. Radbruch hat in seiner "Radbruchschen Formel" die Kriterien
der Verleugnung der Gerechtigkeit und der Unerträglichkeit des Widerspruchs zur
Gerechtigkeit angeführt. Alexy hat dies auf die Kurzformel, dass extremes Unrecht kein
Recht sei, gebracht und ferner Schwere und Evidenz des Unrechts unterschieden.
Diese Kriterien sind vage und wertungsabhängig. Jedoch lassen sich eindeutige und
zweifelhafte Fälle unterscheiden.
- Die Judenverfolgung des NS-Systems ist ein Fall extremen und evidenten Unrechts.
Sie zielte darauf, einer Gruppe von Menschen ihre Lebensgrundlage und letztlich ihr
Leben zu nehmen. Regeln, die zu diesem System gehören, wie die Ausbürgerung und
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Verlust des Vermögens im Fall der Auswanderung, ist die rechtliche Geltung abzusprechen.341
- Der Fall der "Mauerschützen",342 also die Tötung von unbewaffneten Republikflüchtlingen an den Grenzanlagen der ehemaligen DDR, ist ein nicht so eindeutiger Fall. Er
erreicht nicht den Grad des NS-Unrechts. Aufgrund weiterer Umstände, zu denen die
weitgehende Beschränkung von Ausreisefreiheit, Meinungsfreiheit und politischen
Rechten zählen, lässt sich gleichwohl begründen, dass extremes Unrecht vorliegt. Es
ist keine haltbare Rechtfertigung für die Tötung unbewaffneter Republikflüchtlinge
ersichtlich, und es scheint, dass auch niemand die Auffassung vertritt, Richter und
Staatsanwälte in der DDR hätten diese Praxis, soweit sie Gegenstand gerichtlicher
Verfahren gewesen wäre, als dem geltenden Recht entsprechend anwenden sollen.
- Eine Norm, die es Ehemännern gestattet, ihre Ehefrau zu schlagen, soweit dabei kein
Blut fließt,343 ist evidentes Unrecht. In seiner Schwere ist es zwar geringer als das NS-
Unrecht oder das Grenzregime der DDR. Es ist aber eine offensichtliche Verletzung
des Gebots der Gleichberechtigung. Zumindest müsste Ehefrauen das gleiche Recht
zugestanden werden wie ihren Ehemännern. Zudem widerspricht diese Norm der
Friedens- und Schutzfunktion des Rechts. Recht muss darauf zielen, Gewaltanwendung soweit wie möglich zu verhindern. Die Erlaubnis zur Anwendung von Gewalt
ohne eine spezifischer Rechtfertigung widerspricht der Idee des Rechts.
In diesen Beispielen lassen sich überpositive Kriterien rechtlicher Geltung mittels des
Kriteriums vernünftiger Konvergenz begründen. Auch wenn es einzelne Gegenauffassungen geben mag, die eine extreme Gewichtung zugunsten der Rechtssicherheit und
als Folge davon eine strikte Geltung des positiven Rechts vertreten, lässt sich eine
Tendenz zu weitgehender Anerkennung überpositiver Kriterien rechtlicher Geltung feststellen. Zudem leiden Gegenauffassungen an begrifflichen Konfusionen.344 Im Ergebnis
lässt sich feststellen, dass überpositive Kriterien rechtlicher Geltung durch vernünftige
Konvergenz gestützt und in diesem Sinne objektiv gültig sind.
Allerdings gibt es Zweifelsfälle, in denen keine solche Konvergenz vernünftig
Urteilender besteht. In wieder anderen Fällen lässt sich dies ausschließen. Ist etwa über
die Genehmigung zum Schlachten eines Tieres ohne Betäubung im Streit, könnte ein
Richter, der das Töten von Tieren generell für moralisch verwerflich hält, auf die Idee
kommen, die rechtliche Möglichkeit der beantragten Genehmigung aus moralischen
Gründen zu verneinen. Dies wäre als rechtliches Urteil jedoch nicht gerechtfertigt, weil
über das Kriterium vernünftiger Konvergenz für eine Erlaubnis, Tiere zu Nahrungszwecken zu töten, spricht. Der Richter würde eine individuelle moralische Überzeugung zur
Grundlage seiner Entscheidung machen, die keine objektive Gültigkeit beanspruchen
kann. Dies wäre in einem rechtlichen Urteil unzulässig.
341 So BVerfGE 23, 98 - NS-Unrecht.
342 BVerfGE 95, 96 - "Mauerschützen".
343 Nach einem Zeitungsbericht Relikte eines feudalen Rechtssystems auf der Insel Sark.
344 So wird nicht dargelegt, ob ein deskriptiver und ein normativer Begriff des Rechts verwendet wird,
oder es wird, im Fall der "Mauerschützen", nicht zwischen Fragen der Rechtmäßigkeit und weiteren
Voraussetzungen der Strafbarkeit, insbesondere der Schuld, unterschieden. Dazu Sieckmann 2001.
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Letztlich handelt es sich bei dem Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, allgemeiner zwischen positivrechtlicher Geltung und überpositiven Geltungskriterien, um ein Abwägungsproblem, das jedenfalls nicht vollständig durch allgemeine Regeln aufgelöst werden kann. Neben Divergenzen in der Beurteilung einzelner
Fälle können zudem je nach Rechtssystem unterschiedliche Beurteilungen geboten sein.
In einem System eines demokratischen Verfassungsstaats, das in vielfältiger Weise
Gerechtigkeitsforderungen realisiert hat, wird es zum einen kaum notwendig sein, direkt
und ohne positivrechtliche Stützung auf Prinzipien der Gerechtigkeit zurückzugreifen.
Wenn doch, wird dies auf wenig Widerstand stoßen, da es der Perfektionierung des
Rechtsstaats dient. In Systemen mit gravierenden Ungerechtigkeiten könnte eine Korrektur des positiven Rechts zu Verwerfungen führen, die die Friedensfunktion des
Rechts beeinträchtigen können. Rechtssicherheit wird hier ein hohes Gewicht haben,
aber das der Forderung nach Gerechtigkeit kann höher sein. In Systemen mit gravierenden Meinungsverschiedenheiten über Fragen der Gerechtigkeit kann es sinnvoll sein,
die Justiz aus diesem Streit herauszuhalten. Es ist aber auch möglich, dass gerade die
Justiz in der Lage ist, zu einer Verbesserung des Systems beizutragen. Diese Fragen lassen sich nicht unabhängig von der konkreten politischen Situation beurteilen. Die Wahl
einer positivistischen oder nicht positivistischen Konzeption des Rechts wird damit zu
einer der politischen Strategie.
V. Fazit
(1) Im Prinzipienmodell bestehen verschiedene Verbindungen von Recht und Moral im
Sinne von aufgrund ihrer inhaltlichen Richtigkeit begründeter Normen:
- Die residuale Geltung moralischer Prinzipien im Recht.
- Die Unmöglichkeit, materielle Richtigkeit als Geltungskriterium auszuschließen.
- Die Offenheit rechtlicher Abwägungen gegenüber der Moral.
(2) Darüber hinaus ist es auf der Grundlage eines normativen Rechtsbegriffs notwendig,
einen Bezug zu materieller Richtigkeit in den Rechtsbegriff aufzunehmen - der Richtigkeitsbegriff des Rechts entspricht dem der Moral - und hinsichtlich der Kriterien der
Rechtsgeltung zu fordern, dass sie jedenfalls im Ergebnis, extensional, nicht in Widerspruch zu dem Verbindlichkeitsanspruch des Rechts stehen. Dies geschieht mit der Annahme, dass extremes Unrecht kein Recht ist.
(3) Es lässt sich hingegen nicht rechtfertigen, dass materielle Richtigkeit begrifflich notwendig - für alle denkbaren Rechtssysteme - ein Kriterium rechtlicher Geltung sein
muss.
(4) Auf der Basis eines normativen Rechtsbegriffs ist ein Rechtspositivismus weder in
seiner exklusiven noch seiner inklusiven Variante zu rechtfertigen.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.