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erreicht wird, etwa durch Inkorporation vernunftrechtlicher Prinzipien in das Verfassungsrecht.
Die Verbindung über den absoluten Richtigkeitsanspruch von rechtlichen Abwägungsurteilen ist insofern schwach, als nur die Gleichartigkeit des normativen Anspruchs
von Abwägungsurteilen mit dem moralischer Urteile behauptet wird. Es kann sein, dass
die in die Abwägung einzustellenden rechtlichen Prinzipien keine moralischen Prinzipien
sind. Deren Gewichtung und die Festlegung eines Vorrangs erfordern allerdings materielle
Begründungen.
Die Frage bleibt, ob jenseits der Strukturen des Prinzipienmodells stärkere Verbindungen von Recht und Moral zu finden sind. Eine andere offene Frage ist, ob sich ein
schwacher, inklusiver Rechtspositivismus als allgemeine Theorie des Rechts begründen
lässt, der annimmt, moralische Kriterien könnten nur rechtliche Relevanz erlangen, wenn
dies durch positivrechtliche Normen bestimmt wird.
II. Folgerungen aus der Absolutheit des rechtlichen Richtigkeitsanspruchs
Eine Verbindung von Recht und Moral jenseits der Strukturen des Prinzipienmodells
ergibt sich aus dem absoluten Charakter des Richtigkeitsanspruchs des Rechts. Da das
Recht Verbote enthält, nicht nur Sanktionen als Preis für die Nichtbefolgung des
Rechts, muss absolute Verbindlichkeit beansprucht werden. Andernfalls wäre die Sanktionierung nicht vollständig gerechtfertigt, sondern nur relativ auf das positive Recht,
und d.h. gegenüber denjenigen, die das positive Recht nicht als verbindlich akzeptieren,
gar nicht. Rechtliche Urteile müssen also einen absoluten Verbindlichkeitsanspruch erheben. Dies ist nach der Definition moralischer Richtigkeit als absoluter, nicht systemrelativer Richtigkeit ein moralischer Anspruch. Zur Begründung dieser These sind zwei
Ansätze zu unterscheiden:
(1) Aus Sicht der Rechtsanwendungsorgane ist es notwendig, die moralische Rechtfertigung (Legitimität) ihres Handelns zu beanspruchen und entsprechende Begründungslasten zu akzeptieren.
(2) Das Recht selbst ist institutionell mit einem moralischen Richtigkeitsanspruch verbunden.
1. Rechtsgeltung als Anwendungspflicht
Der erste Ansatz setzt an der Pflicht der Rechtsanwendungsorgane an, das geltende
Recht anzuwenden. Rechtsgeltung impliziert demnach, dass jedenfalls die Rechtsanwendungsorgane eine rechtlich geltende Norm bei ihrer Entscheidung anwenden sollen.
Diese Annahme erscheint trivial. Sie ist allerdings nicht unumstritten. Es ist typisches
Merkmal positivistischer Konzeptionen des Rechts, die Rechtsgeltung von einer Pflicht
zur Befolgung des Rechts zu trennen.319 Solche Rechtskonzeptionen sind jedoch für
319 So etwa Hart 1994.
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Rechtsanwendungsorgane nicht adäquat, da sie nicht die Frage beantworten, wie diese
Organe entscheiden sollen.
Wenn angenommen wird, dass Rechtsanwendungsorgane geltende Rechtsnormen
anwenden sollen, ergibt sich aus der weiteren Annahme, dass Rechtsanwendungsorgane
Menschen sind, die neben spezifischen Amtspflichten zugleich allgemeinen moralischen Pflichten unterliegen, dass die Kriterien der Rechtsgeltung sicherstellen müssen,
dass nicht solchen Normen Rechtsgeltung zuerkannt wird, die von einem Rechtsanwendungsorgan aus moralischen Gründen nicht angewandt werden dürften. Recht
muss also zumindest moralisch legitim sein. Es muss zwar nicht aus moralischen Kriterien abgeleitet sein, sondern kann positives, gesetztes Recht sein. Es kann auch zu
Konflikten mit der Moral kommen. Solche Konflikte dürfen aber nicht derart gravierend
sein, dass ein Rechtsanwendungsorgan der betreffenden positivrechtlichen Norm den
Gehorsam aus moralischen Gründen verweigern müsste.
Gegen den Ansatz, Rechtsgeltung aus Sicht der Rechtsanwendungsorgane als moralisch verantwortlicher Subjekte zu konstruieren, könnte eingewandt werden, dass
Rechtsgeltung nicht als das bestimmt werden könne, was Richter moralisch tun sollten.320 Der hier vorgeschlagene Ansatz identifiziert jedoch nicht Recht mit dem, was
Richter moralisch gesehen tun sollten. Er berücksichtigt durchaus den institutionellen
Charakter des Rechts und die Notwendigkeit, allgemeine Rechtsregeln festzusetzen.
2. Der institutionelle Richtigkeitsanspruch des Rechts
Ein anderer Ansatz nimmt an, dass das Recht selbst notwendigerweise einen Richtigkeitsanspruch erhebe, der dazu führe, Gerechtigkeit oder moralische Richtigkeit als Kriterien der Rechtsgeltung zu begründen.321 Ein Anspruch kann zwar, dem Wortsinn
nach, nur durch handlungsfähige Subjekte erhoben werden, nicht durch das Recht als
System. Gemeint ist damit, dass mit bestimmten Handlungen eine rechtliche Bedeutung
verbunden ist, die unabhängig davon besteht, ob ein Rechtsorgan subjektiv diese Bedeutung mit seinem Akt verbinden will. Ein Rechtsetzungs- oder Rechtsanwendungsakt
würde demnach von Rechts wegen eine Behauptung implizieren, dass dieser Akt
gerecht sei. Gerechtigkeit wäre nach diesem Ansatz nicht lediglich über die Pflichten
der Rechtsanwendungsorgane als moralischer Subjekte als ein notwendiger Inhalt des
Rechts begründet, sondern ein notwendiges Merkmal des Rechts als einer institutionalisierten Normenordnung. Der normative Rechtsbegriff stellt in der Tat eine solche Verbindung her. Da ein Rechtssystem nur existieren kann, wenn jedenfalls Teilnehmer des
Rechtssystems diesen normativen Rechtsbegriff zugrunde legen, gehört dieser Anspruch
auch zur institutionellen Realität des Rechts.
320 So der Einwand von Raz 1993, 1ff.. Vgl. auch Waluchow 1994, 33ff.
321 Alexy 2000b, 139ff.
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III. Moralische Richtigkeit als Kriterium der Rechtsgeltung
Wenn man davon ausgeht, dass das Recht ebenso wie Moral Verbindlichkeit beansprucht, dann ergeben sich Unterschiede des Rechts zur Moral auf der Ebene der Geltungskriterien. Das Recht verwendet andere Kriterien für die Bestimmung der rechtlich
geltenden Normen als die Moral. In erster Linie sind die Kriterien rechtlicher Geltung
die Inkraftsetzung einer Norm gemäß den im Rechtssystem festgelegten und anerkannten Bedingungen, z.B. Erlass eines Gesetzes durch das Parlament, Entstehung von
Gewohnheitsrecht, richterliche Präjudizien (sofern diesen in einer Rechtsordnung
rechtliche Verbindlichkeit zugeschrieben wird). Solche Kriterien der Rechtsgeltung sind
jedenfalls teilweise unabhängig von denen der Moral. Es gibt rechtliche Regelungen,
die überhaupt nichts mit Fragen der Moral oder Gerechtigkeit zu tun haben. Selbst in
Bereichen, die Fragen der Moral oder Gerechtigkeit berühren, kommt es für die Rechtsgeltung jedenfalls in der Regel nicht auf die moralische Richtigkeit der Rechtsnorm an.
Es bleibt die Frage, ob sich, wenn auch nicht für einzelne Normen, so doch für Rechtssysteme ein begrifflicher Zusammenhang zwischen rechtlicher und moralischer Geltung
herstellen lässt. Es gibt eine Reihe solcher Ansätze.322 Im Folgenden soll jedoch die
Alexysche Konzeption der Verbindung von Recht und Moral diskutiert werden, da sie
am Richtigkeitsanspruch des Rechts ansetzt und mit der These der Notwendigkeit eines
Richtigkeitsanspruchs eine begriffliche Verbindung von Recht und Moral begründen
möchte.
1. Alexys These vom notwendigen Anspruch des Rechts auf Richtigkeit
Alexy nimmt an, dass das Recht selbst notwendigerweise einen Richtigkeitsanspruch
erhebe, der dazu führe, Gerechtigkeit oder moralische Richtigkeit als Kriterien der
Rechtsgeltung anzuerkennen. Ein Rechtsetzungs- oder Rechtsanwendungsakt würde
demnach von Rechts wegen eine Behauptung implizieren, dass dieser Akt gerecht sei.
Die Begründung Alexys für die Annahme eines solchen Richtigkeitsanspruchs des
Rechts ist,323 dass es performativ widersprüchlich sei, wenn eine Rechtsordnung in der
Verfassung folgende Bestimmung enthielte:
"X ist ein souveräner, föderaler und ungerechter Staat."
Es handele sich um einen performativen Widerspruch, weil eine Verfassung, hier die
des Staates X, implizit beanspruchen müsse, gerecht zu sein. Ebenso enthielten richterliche Urteile einen Richtigkeitsanspruch. Es sei widersprüchlich, wenn ein Gericht eine
Entscheidung wie folgt begründete:
"Der Angeklagte wird zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, wenn auch
falsch, weil das geltende Gesetz fehlerhaft ausgelegt wurde."
Aber handelt es sich bei dem Richtigkeitsanspruch um einen Anspruch auf moralische
Richtigkeit oder lediglich um einen formalen, relationalen Richtigkeitsanspruch, der
322 Z.B. Atria 2001.
323 Alexy 2000b, 139ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.