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3. Teil: Legitimität des Rechts
§ 9 Recht und praktische Vernunft
I. Vernunft und Autonomie
Der Zusammenhang zwischen Recht und praktischer Vernunft ist der Kern der Lehren
des Vernunftrechts. Er ist aber auch zentral für den Anspruch der Rechtsdogmatik, mit
wissenschaftlichem Anspruch Anleitung für die Rechtspraxis zu geben, wie für die
Legitimation der Gerichte zur Rechtsfortbildung und für die Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaats. Vernunftrechtliche Ansätze behaupten die Existenz bestimmter, der menschlichen Erkenntnis zugänglicher Rechtsprinzipien, die als Leitideen und
Maßstab der Kritik, wenn nicht gar als Kriterium rechtlicher Geltung angesehen werden. Eine Rechtsdogmatik mit praktischem Anspruch setzt die Möglichkeit, praktische
Fragen rational begründet zu entscheiden, ebenso voraus wie die, die jeweilige Rechtsordnung jedenfalls in Teilbereichen als kohärentes System darstellen zu können. Richterliche Rechtsfortbildung beansprucht, nicht explizit entschiedene Fragen mit Anspruch auf rechtliche Richtigkeit entscheiden zu können, was wiederum eine rationale
Begründung erfordert. Der demokratische Verfassungsstaat basiert auf Prinzipien von
Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der gerichtlichen Durchsetzbarkeit dieser Prinzipien. Er inkorporiert somit die Grundsätze des Vernunftrechts in
das positive Recht.280
Der kognitive Anspruch des Vernunftrechts steht allerdings in Konflikt mit der
Idee individueller Autonomie als Selbstgesetzgebung. Selbstgesetzgebung setzt voraus,
dass die Geltung einer Norm von der Zustimmung der Normadressaten abhängt. Wäre
eine Erkenntnis der Geltung von Normen möglich, bliebe kein Raum für autonome Entscheidungen darüber, welche Normen gelten sollen. Als Reaktion auf dieses Problem
wird Autonomie häufig reduziert auf die Möglichkeit, einem durch praktische Vernunft
bestimmten und für autonome Subjekte erkennbaren Gesetz positiv oder negativ Stellung zu nehmen.281 Andere bestreiten die Möglichkeit einer autonomen Begründung
von Moral und Recht.282 Im Rahmen einer kognitiven Konzeption der Moral erscheint
ein Verständnis von Autonomie als Selbstgesetzgebung in der Tat nicht möglich.
Der hier vertretene Ansatz sieht in der Struktur der Abwägung normativer Argumente die "Logik der Autonomie". Sie erlaubt es, den Charakter freier Entscheidung mit
der normativen Gebundenheit moralischer und rechtlicher Entscheidungen zu kombinieren und - mit Einschränkungen - verbindliche Moral- und Rechtsnormen zu begründen.
280 Vgl. Dreier 1986, 29; 1991, 107.
281 So Pavlakos 2007, 7, 143. Vgl. Baumann 2001, 154 m.w.N.
282 Wolff 1998; Bittner 1983.
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Ausgangspunkt ist der Verzicht auf eine kognitive Begründung normativer Argumente.283 Sie stellen nicht Behauptungen mit kognitivem Anspruch dar, sondern normative
Forderungen, die autonome Subjekte legitimerweise und ohne substantielle Begründung
geltend machen dürfen.
Die Konsequenz daraus ist, den zentralen Zusammenhang zwischen Moral, Recht
und praktischer Vernunft neu zu definieren. Praktische Vernunft kann keine normativen
Inhalte begründen, sondern dies ist allein aufgrund der Autonomie vernünftiger Subjekte möglich. Autonome Entscheidungen unterliegen allerdings formalen Rationalitätsanforderungen. Die Idee praktischer Vernunft ist daher nicht zu verabschieden, sondern
vernünftige Subjekte können charakterisiert werden als solche, die in der Lage sind,
autonome Urteile gemäß den Anforderungen rationaler Argumentation zu begründen.
Sie müssen sich einerseits ihrer Autonomie bewusst sein, andererseits die Fähigkeit zu
rationaler Argumentation besitzen. Vernunft ergibt sich demnach aus der Kombination
von Autonomie und Rationalität.284
Da allerdings die normativen Inhalte nicht durch Vernunft, sondern durch autonome Entscheidungen bestimmt werden, sollte als Leitidee normativer Argumentation die
der Autonomie angesehen werden, nicht die der praktischen Vernunft. Es geht um die
Bildung korrekter autonomer Urteile, nicht um Vernunfterkenntnis. Dies wirft zwei
Fragen auf:
(1) Ist der Übergang von der Idee praktischer Vernunft zu der individueller Autonomie
als Leitidee der Rechts- und Moralphilosophie gerechtfertigt?
(2) Welche Bedeutung hat praktische Vernunft im Rahmen einer solchen, auf Autonomie gegründeten Konzeption von Recht und Moral?
II. Das Scheitern kognitiver Ansätze der Normbegründung
Die Rechtfertigung für die Ablösung der Idee praktischer Vernunft liegt in der Erfolglosigkeit der Versuche, eine kognitive Begründung von Normen vorzulegen. Solche Versuche haben eine lange Tradition. Ansätze dazu sind die Berufung auf ein göttliches
Recht, die klassischen Naturrechtslehren, die Normen in der Natur des Menschen oder
der Gesellschaft finden wollen, Vernunftrechtslehren wie die Kants, die die Grundlage
der Normbegründung in a priorischen Voraussetzungen praktischer Erkenntnis sehen,
und schließlich diskurstheoretische Ansätze, die versuchen, Normen mit a priori-Voraussetzungen menschlicher Kommunikation zu begründen.285 Auch bei diskurstheo-
283 Wahrheitsansprüche im Recht werden auch von anderen Autoren kritisiert, z.B. Patterson 1996.
Allerdings zielt die hier vertretene Konzeption darauf, Rationalitätsforderungen im Rahmen einer
Konzeption autonomer Normbegründung anzuwenden. Autonome Argumentation kann zu Ergebnissen führen, die mit Anspruch auf Wahrheit festgestellt werden können. Lediglich als Ausgangspunkt einer normativen Argumentation müssen Wahrheitsansprüche vermieden werden.
284 Dies ist allerdings nicht als Dichotomie zu verstehen. Da Rationalitätsforderungen prinzipiellen
Charakter haben können und somit Abwägungen erfordern können, kann ihre Anwendung autonome Entscheidungen erfordern. Autonomie und Rationalität sind somit verschiedene, aber miteinander verbundene Aspekte praktischer Vernunft.
285 Apel 1973; Habermas 1983, 86ff.; Nino 1991; Alexy 1991.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.