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§ 8 Gerichtliche Kontrollkompetenzen
I. Die Grenzen der Rechtsanwendung
Rechtsanwendung beansprucht, geltendes Recht anzuwenden. Daraus folgt allerdings
nicht, dass Rechtsanwendung das Recht unverändert lässt und nicht auch neues Recht
kreiert. Dies kann zum einen faktisch der Fall sein, indem gerichtliche Urteile neue Normen schaffen, sei es in Bereichen der Offenheit des Rechts, sei es unter Abweichung von
bestehenden rechtlichen Regelungen. Zum anderen können Gerichte die Kompetenz zu
solchen Rechtskreationen oder Rechtsfortbildungen haben.240 Herkömmlich beansprucht
Rechtsanwendung jedoch, Erkenntnis des Rechts zu sein.241 Im Prinzipienmodell stellt sich
eine besondere Problematik. Lässt sich nicht eine Rechtsauffassung objektiv und mit
Anspruch auf Verbindlichkeit aufgrund des Kriteriums vernünftiger Konvergenz begründen, können Gerichte gleichwohl aufgrund intersubjektiv reflektierter autonomer Urteile
entscheiden. Damit erzeugen sie eine verbindliche Rechtsnorm - zumindest für den entschiedenen Fall. Sie beanspruchen gleichwohl, gemäß dem geltenden Recht zu entscheiden.
Das Prinzipienmodell eröffnet damit eine neue Perspektive für die Rechtfertigung
gerichtlicher Entscheidungen. So ist die Legitimität verfassungsgerichtlicher Kontrolle
nicht notwendig auf den Bereich objektiver Rechtserkenntnis begrenzt. Andererseits ist
fraglich, warum in Bereichen, in denen verschiedene Rechtsauffassungen vertretbar sind,
Verfassungsgerichte die Kompetenz haben sollten, ihre Auffassung gegenüber dem Gesetzgeber oder anderen Organen durchzusetzen. Die Abgrenzung von Abwägungs- und
Entscheidungskompetenzen bei der Anwendung des Rechts ist daher offen. Sie muss im
Rahmen des Prinzipienmodells normativ beantwortet werden. Im Rahmen einer analytischen Untersuchung kann es allerdings nur darum gehen, die Möglichkeiten und Strukturen dieser Abgrenzung aufzuzeigen.
Das Problem, zu dem der Anspruch, auch mit Abwägungsurteilen das geltende Recht
anzuwenden, führt, ist, dass Gerichte als Kontrollinstanz die letztlich maßgebliche Entscheidung zu treffen haben und gerichtliche Entscheidungen aufgrund der Bindung von
Gesetzgeber und Exekutive an die Verfassung sowie der Exekutive auch an das einfache
Recht für diese Organe verbindlich sind. Gerichte müssen ihre Entscheidung als nach der
Verfassung oder dem einfachen Recht gefordert vertreten, auch wenn ihre Begründung
zweifelhaft ist. Da politische Entscheidungen im Verfassungsstaat zudem in hohem Maß
rechtlichen Bindungen unterliegen, führt die dargelegte Struktur von Abwägungen zu dem
240 Zu den Grenzen richterlicher Kompetenzen allgemein Neuner 2005.
241 Vgl. Somek 2006, 7, sowie die Suche nach einer kognitiven Begründung von Abwägungsurteilen,
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Problem der Verdrängung von Gesetzgeber und Exekutive durch die Gerichte.242 Dies gilt
in besonderem Maße für die Verfassungsgerichtsbarkeit.243
Da dies wiederum unter Gesichtspunkten von Demokratie und Gewaltenteilung nicht
hinnehmbar erscheint, verzichten Gerichte in einigen Bereichen auf eine vollständige Kontrolle von legislativen, judikativen und exekutiven Akten. Beispiele sind:
- die Anerkennung von Spielräumen244 des Gesetzgebers: Soll lediglich gesagt werden,
dass ein Gesetz im Rahmen der geltenden Verfassung erlassen worden ist, wären
Spielräume lediglich das Ergebnis des Fehlens rechtlicher Bindungen. Es scheint jedoch, dass die Anerkennung von "Spielräumen" auch eine argumentative Funktion in
der Abgrenzung von Entscheidungskompetenzen hat.
- die Beschränkung auf Aufhebung offensichtlich oder eindeutig fehlerhafter Entscheidungen oder nicht vertretbarer Entscheidungen, z.B. im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung: Gibt es offensichtlich oder eindeutig falsche Entscheidungen, dann auch
nicht offensichtlich oder eindeutig falsche Entscheidungen, die von Gerichten - entgegen dem geltenden Recht? - nicht aufgehoben werden sollen.
- die Prüfung lediglich eines sachlichen Grundes, nicht eines hinreichenden Grundes für
eine Ungleichbehandlung: Sind sachliche Gründe keine hinreichenden Gründe, dann
gibt es Ungleichbehandlungen, die von Gerichten akzeptiert werden, ohne dass es eine
ausreichende rechtliche Rechtfertigung für sie gibt.
- die Beschränkung der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidung auf die Verletzung
spezifischen Verfassungsrechts. Da nach einfachem Recht nicht gerechtfertigte Eingriffe in Grundrechte keine gesetzliche Grundlage haben, müssten sie wegen des
Vorbehalts des Gesetzes als Grundrechtsverletzung angesehen werden, was jedoch
nicht angenommen wird.
- die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen der Verwaltung: Gerichte beanspruchen, in der Lage zu sein, unbestimmte Rechtsbegriffe zu interpretieren und anzuwenden, verzichten in manchen Fällen aber darauf, dies zu tun, obwohl dies möglich
wäre.
Diese Argumentationsfiguren lassen sich in der Weise interpretieren, dass Gerichte auf
eine vollständige rechtliche Überprüfung der Entscheidungen anderer Organe verzichten.
Die Frage ist, wie dies mit der Rechts- und Verfassungsbindung der Gerichte wie auch der
der anderen Organe vereinbar ist.
Ein Vorschlag zur Lösung dieses Konflikts zwischen Demokratieprinzip und Gewaltenteilung einerseits, dem Gebot verfassungsgerichtlicher Kontrolle andererseits ist die Abwägung materieller und formeller Prinzipien.245 Materielle Prinzipien gebieten z.B. die Realisierung von Grundrechten, formelle Prinzipien die Respektierung von Entscheidungen
des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Soweit allerdings die verfassungsrechtlich
242 Dies wird insbesondere von Böckenförde 1991 und Forsthoff 1976 zur Grundlage der Kritik an der
Wertordnungslehre des BVerfG gemacht.
243 Zum Problem der Legitimität verfassungsgerichtlicher Kontrolle in der Demokratie Riecken 2003.
244 Zu einer Liste verschiedener Arten von "Spielräumen" in der Rechtsprechung des BVerfG Alexy
2002, 15f.
245 Alexy 2002, 29; Raabe 1998, 412ff.; Afonso da Silva 2003, 152ff.; Riecken 2003, 460ff.
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gebotene Lösung erkennbar ist, muss die Verfassung angewandt werden.246 Ist hingegen
eine solche Erkenntnis nicht möglich, sind also verschiedene Auffassungen vertretbar, soll
eine Abwägung materieller und formeller Prinzipien bestimmen, wie weit die verfassungsgerichtliche Kontrolle gehen soll oder darf.
Dieser Ansatz lässt jedoch im Unklaren, auf welche Grundlage sich die gerichtliche
Kontrolle stützen soll, wenn nicht erkennbar ist, was verfassungsrechtlich geboten ist. Ein
Verfassungsgericht kann schwerlich sagen: "Wir wissen zwar auch nicht, was verfassungsrechtlich geboten ist, halten dieses Gesetz aber für verfassungswidrig." Eine gerichtliche
Entscheidung muss materiell begründet werden. Wenn eine Rechtserkenntnis nicht möglich ist, ist fraglich, welche andere Legitimationsgrundlage für sie in Betracht kommt.
Die Konzeption autonomer Normbegründung bietet einen alternativen Ansatz zur
Begründung rechtlicher Entscheidungen, der im Ausgangspunkt ohne kognitive Ansprüche
auf Rechtserkenntnis auskommt. Der Richtigkeitsanspruch normativer Urteile ist ein normativer, nämlich der Anspruch, dass das Urteil durch die stärkeren Gründe geboten ist. Die
Richtigkeitsansprüche verschiedener Organe, seien es Gerichte oder Gesetzgeber, können
allerdings kollidieren. Bei der Frage, welchem Organ die Letztentscheidungskompetenz
zukommen soll, kommen formelle Prinzipien ins Spiel. Dies ist das Modell konkurrierender Rechtskonzeptionen, das im Folgenden - nach einigen begrifflichen Abgrenzungen
- zu entwickeln ist.
II. Kontrollkompetenz, Kontrollmaßstab und Kontrollintensität
Zu unterscheiden sind Fragen der Kontrollkompetenz, des Kontrollmaßstabs und der Kontroll- oder Prüfungsintensität.
Die Frage des Kontrollmaßstabs betrifft die Bestimmung der von Gerichten zu überprüfenden rechtlichen Anforderungen. Die gerichtliche Kontrolle kann sinnvollerweise
nicht weiter gehen als die rechtlichen Bindungen. Fraglich ist jedoch, ob es rechtliche
Anforderungen gibt, die nicht gerichtlich überprüft werden, und welche dies ggf. sind. Es
geht also um die Identität oder Divergenz von Handlungs- und Kontrollmaßstab.247 Diese
Frage ist von der der Zuordnung von Abwägungskompetenzen im Sinne der Kompetenz
zu letztverbindlicher Entscheidung zu unterscheiden. Zwar führt eine Beschränkung des
Kontrollmaßstabs indirekt auch zu einer Beschränkung gerichtlicher Kontrollkompetenzen. Anders als nach dem direkten kompetentiellen Ansatz wird mit dieser Konstruktion
jedoch angenommen, dass die Rechtsbindung nur unvollständig kontrolliert wird. Nach
dem kompetentiellen Ansatz wird demgegenüber jede rechtliche Bindung der Entscheidung kontrolliert, aber eben nur kontrolliert und nicht die Entscheidung durch eine des
Gerichts ersetzt.
Entscheidend für die Kontrollkompetenz der Gerichte ist, wer letztlich über bestimmte entscheidungserhebliche Fragen zu urteilen hat, wem also insoweit die "Letztentschei-
246 So auch Alexy 2002, 29. Die Frage der Erkennbarkeit des Rechts steht im Vordergrund bei Iglesias
Vila 2001; Somek 2006; Pavlakos 2007.
247 Dazu Raabe 1998, 147ff. Zur Intensität richterlicher Kontrolle auch Rivers 2006.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.