172
(2) Die Argumentationsbasis kann durch autoritative Entscheidungen determiniert sein.
Notwendig ist allerdings die definitive Verbindlichkeit dieser Entscheidungen. Bei einer
nur prinzipiellen Verbindlichkeit wären sie als eine Form der Präjudizienbindung im
Rahmen interner Kohärenzforderungen einzuordnen. Definitive Verbindlichkeit erfordert wiederum eine Rechtfertigung aufgrund autonomer Argumentation.
(3) Manche Kriterien theoretischer Rationalität lassen sich in Form von Kohärenzkriterien auf normative Urteile anwenden.187 Eine Form von theoretischer Kohärenz ergibt
sich des weiteren aus der Darstellung der Abwägungsurteile in einem mathematischen
Modell.188 Es ist jedenfalls ein Argument für die Rationalität von Abwägungsurteilen,
wenn sie sich in einem mathematischen Modell darstellen lassen und damit Kriterien
formaler Kohärenz erfüllen, allerdings ein indirektes, mit dem lediglich der Einwand
der Inkohärenz ausgeschlossen werden kann.
Die Unterscheidung von Forderungen interner und externer Kohärenz ist allerdings
nicht trennscharf. Manche Forderungen externer Kohärenz lassen sich auch mit solchen
interner Kohärenz erfassen. Wird etwa ein Argument ohne eine empirische Basis verwendet, ist dies nicht nur ein Verstoß gegen das Gebot der Supervenienz, sondern führt
auch zur Berücksichtigung irrelevanter Argumente in der Abwägung und damit zu
einem Verstoß gegen ein Gebot interner Kohärenz. Auch die Relevanz theoretischer
Rationalität neben den Forderungen interner Abwägungskohärenz ist jedenfalls nicht
offensichtlich.
III. Abwägungsregeln
Die Forderungen interner Kohärenz lassen sich in Form von Abwägungsregeln darstellen. Diese verwenden, wie bereits zur Struktur der Abwägung dargelegt, die Kriterien
des abstrakten relativen Gewichts und des Erfüllungs- oder Beeinträchtigungsgrades der
abzuwägenden Prinzipien. Zentrales Thema der juristischen Abwägung ist zu ermitteln,
inwieweit das geltende Recht Abwägungsvorgaben insbesondere hinsichtlich der abstrakten Gewichte der kollidierenden Prinzipien enthält und welche Vorrangrelationen
sich daraus ergeben. Das Ausgangsproblem ist also die Ermittlung objektiv geltender
Abwägungsregeln. Autonome Abwägung kommt erst sekundär zur Anwendung. Juristische Abwägung zielt damit auf objektiv rationale, nicht autonome Begründung von
Abwägungsurteilen.
Die Grundregeln für Abwägungsurteile sind bereits dargelegt worden. Gefordert ist
die Bestimmung einer Vorrangrelation unter kollidierenden Prinzipien oder, allgemein,
normativen Argumenten. Vorrang enthält dasjenige Prinzip, das im konkreten Fall das
größere Gewicht aufweist. Dieses Urteil hängt wiederum von zwei Faktoren ab, dem
relativen Gewicht der kollidierenden Prinzipien und dem Beeinträchtigungs- oder Erfüllungsgrad der betreffenden Prinzipien, der bei der Abwägung auf dem Spiel steht. Es
lassen sich eine Reihe von Regeln angeben, die bei dieser Abwägung zu beachten
187 Zu Kohärenz ohne Bezug zur Abwägung Bracker 2000; Hage 2005, 33ff.
188 Vgl. den Versuch der Mathematisierung der Abwägung bei Alexy 2003a.
173
sind.189 Sie basieren auf den für die Abwägung allgemein geltenden Kriterien, lassen
sich jedoch - eine gewisse Ungenauigkeit in Kauf nehmend - vereinfacht formulieren.
1. Abwägungskriterien
Für den Vorrang eines Prinzips P1 gegenüber einem kollidierenden Prinzip P2 in einem
konkreten Fall gelten folgende Kriterien:
(AR1) Der Zugewinn in der Erfüllung von P1 muss das Maß der Beeinträchtigung von P2
rechtfertigen.
Diese Formulierung ist allerdings unvollständig, da es für die Beantwortung der Frage,
ob eine Beeinträchtigung eines Prinzips gerechtfertigt ist, auch auf das relative Gewicht
der beteiligten Prinzipien ankommt. Dies lässt sich wie folgt ausdrücken:
(AR2) Die Wichtigkeit der Erfüllung des Prinzips P1 im konkreten Fall muss das Maß der
Beeinträchtigung des kollidierenden Prinzips P2 rechtfertigen.
Mit der Bezugnahme auf den konkreten Fall wird das Maß der Erfüllung oder Beeinträchtigung eines Prinzips, das durch eine Abwägungsentscheidung bewirkt wird, als
Element des Vorrangkriteriums eingeführt. Die Wichtigkeit der Erfüllung im konkreten
Fall ergibt sich dann aus dem relativen Gewicht der kollidierenden Prinzipien und dem
zur Entscheidung stehenden Maß ihrer Erfüllung bzw. Beeinträchtigung. Auch diese
Beziehung bringt die Struktur einer Abwägung allerdings nur unvollständig zum Ausdruck. Abwägungen sind dadurch charakterisiert, dass auf beiden Seiten Gewichte und
Erfüllungsgrade von Prinzipien zu berücksichtigen sind. Dies kann durch folgende
Regel zum Ausdruck gebracht werden:
(AR3) Das Gewicht von P1 im konkreten Fall muss größer sein als das von P2.
Das Gewicht eines Prinzips im konkreten Fall ergibt sich dabei aus seinem relativen
Gewicht und dem zur Entscheidung stehenden Maß seiner Erfüllung.
2. Kohärenzforderungen
Aufgrund der dargestellten Varianten der Konstruktion von Abwägungen ergeben sich
eine Reihe von Kohärenzforderungen. Allgemein gilt, dass das Abwägungsergebnis unabhängig sein muss von der Formulierung der Prinzipien und des Abwägungsproblems.
Andere, speziellere Kohärenzforderungen bestimmen Vorrangrelationen aufgrund von
Vergleichen von Erfüllungs- bzw. Beeinträchtigungsgraden und relativen Gewichten. Als
allgemeine Regeln der juristischen Abwägung können formuliert werden:
189 Zur Ausarbeitung solcher Regeln für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Clérico 2001.
174
(1) Gleichbehandlungs- oder Analogieprinzip:
Ist für eine bestimmte Kombination von Erfüllungsgraden und relativen Gewichten
ein Vorrang zugunsten eines Prinzips angenommen worden, dann muss in einem
anderen Fall bei gleichen Erfüllungsgraden und relativen Gewichten dieses Prinzip
ebenfalls Vorrang erhalten.
(2) Argumentum a fortiori:
Ist für eine bestimmte Kombination von Erfüllungsgraden und relativen Gewichten
ein Vorrang zugunsten eines Prinzips angenommen worden, dann führt eine Änderung in einer dieser Dimensionen zugunsten dieses Prinzips dazu, dass es auch unter
den geänderten Umständen Vorrang vor dem kollidierenden Prinzip erhalten muss.
(3) Differenzierungsgebot:
Ist für eine bestimmte Kombination von Erfüllungsgraden und relativen Gewichten
ein Gleichgewicht zwischen kollidierenden Prinzipien angenommen worden, dann
führt eine Änderung in einer dieser Dimensionen zugunsten eines der kollidierenden
Prinzipien zum Vorrang dieses Prinzips.
Zu beachten ist, dass die Annahme eines Gleichgewichts als Grundlage des Differenzierungsgebots ein positives Urteil erfordert, nicht lediglich die Feststellung, dass ein Vorrang
für eines der beiden Prinzipien nicht begründbar ist.
3. Kohärenz und Formalisierung
Ein Höchstmaß an Kohärenz wäre erreicht, wenn sich Abwägungsurteile in Form eines
mathematischen Kalküls darstellen ließen. Eine solche Darstellung bedeutet nicht, dass
Abwägungsurteile sich tatsächlich berechnen ließen. Dies erforderte die objektive Bestimmbarkeit der Abwägungsfaktoren, die schon wegen der autonomen Elemente in der
Abwägung nicht möglich ist. Es wäre hingegen denkbar, Abwägungen so zu rekonstruieren, dass sie sich aus bestimmten Faktoren nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten
ergeben. Eine solche Darstellung würde die Kohärenz der Abwägungen garantieren.
3.1. Alexys "Gewichtsformel"
Alexy hat mit seiner "Gewichtsformel"190 einen Vorschlag zur Präzisierung von Abwägungen vorgelegt, der ein arithmetisches Gesetz für Abwägungen formuliert. Es soll
190 Die Gewichtsformel stellt Alexy neben das "Kollisionsgesetz" und das "Abwägungsgesetz". Gemeinsam sollen sie die Grundlage seiner Abwägungstheorie bilden. Das Kollisionsgesetz besagt,
dass die Bedingungen C, unter denen ein Prinzip einem anderen vorgeht, den Tatbestand einer Regel bilden, die als Ergebnis einer Abwägung festgesetzt wird. Das Abwägungsgesetz besagt in Bezug auf die Kollision zweier Prinzipien, dass, je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträch-
175
eine Alternative zur deduktiven Folgerung darstellen.191 Ähnlich wie die Deduktion die
Ableitung eines Ergebnisses aus gegebenen Prämissen erlaubt, soll die Gewichtsformel
die Ableitung des Abwägungsergebnisses aus den für die Abwägung relevanten Faktoren ermöglichen. Die Gewichtsformel für die Abwägung zweier Prinzipien lautet:
Ii ? Gi ? Si
Gi,j = ????
Ij ? Gj ? Sj
Dabei stehen
Ii für die Eingriffsintensität des Prinzips Pi in einem konkreten Fall C,
Gi für das abstrakte Gewicht des Prinzips Pi,
Si für die Sicherheit der empirischen Annahmen für die Bestimmung des Grades der
Intensität des Eingriffs.
Pi für das, dessen Verletzung wegen Nichterfüllung oder Beeinträchtigung geprüft
wird, also eine Variable für Prinzipien.
IPi für die Intensität des Eingriffs in Pi.
Die Intensität des Eingriffs IPi wird als eine konkrete Größe verstanden, im Unterschied
zum abstrakten Gewicht eines Prinzips. Konkret heißt offenbar, auf die Umstände eines
konkreten Fall bezogen. Um die Konkretheit explizit zu machen, fügt Alexy ein "C" als
Angabe der entscheidungsrelevanten Umstände des Falls hinzu. Die Intensität des Eingriffs wird damit notiert als IPiC. Dies bringe drei Aspekte zum Ausdruck, das Prinzip,
die Intensität des Eingriffs und den konkreten Fall.192 Wenn es nicht darauf ankomme,
die drei Aspekte hervorzuheben, könne man für die Eingriffsintensität schlicht schreiben: Ii. Die Eingriffsintensität wird auch als Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung bezeichnet.193
GPi bezeichne das abstrakte Gewicht von Pi, d.h. das Gewicht, das Pi relativ auf
andere Prinzipien unabhängig von den Umständen irgendwelcher Fälle zukommt. Um
die Abstraktheit explizit zu machen, könne ein "A" hinzugefügt werden: GPiA. Die
knappe Fassung des abstrakten Gewichts laute Gi.
Die Wichtigkeit der Erfüllung des kollidierenden Prinzips müsse nicht notwendig
als eine konkrete Größe aufgefasst werden, in ihr könnten Konkretes und Abstraktes
verbunden werden. Sie hänge davon ab, wie intensiv die Beeinträchtigung sei und wie
hoch das abstrakte Gewicht des betreffenden Prinzips sei.194
Die Produkte Ii ? Gi und Ij ? Gj drücken Alexy zufolge etwas aus, was nicht selten
neben oder statt Gi,j, Gi und Gj als Gewicht bezeichnet werde. Dieses Produkt könne
"das nichtrelative konkrete Gewicht" oder auch die "Wichtigkeit" von Pi genannt wertigung des einen Prinzips ist, desto größer die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen Prinzips sein
muss (Alexy 2003a, 772).
191 Alexy 2003b, 448. Die Entgegensetzung zur deduktiven Logik erscheint allerdings nicht passend,
weil Arithmetik nicht in Gegensatz zu ihr steht. Vgl. auch die Kritik bei Bro?ek 2007, 110.
192 Alexy 2003a, 779.
193 Ebd., 778.
176
den. Letzteres sei
eleganter, mache es aber erforderlich, strikt zwischen Intensität des
Eingriffs und Wichtigkeit zu unterscheiden. Damit ergebe sich die Beziehung
Wi = Ii ? Gi.195
Zunächst betrachtet Alexy nur die konkrete Wichtigkeit, da das von ihm formulierte
Abwägungsgesetz196 auf die Konstellation gleicher abstrakter Gewichte zugeschnitten
sei - eine Aussage, die zweifelhaft erscheint, denn das Abwägungsgesetz lässt sich auch
ohne diese Voraussetzung anwenden. Die konkrete Wichtigkeit hänge von den Auswirkungen ab, die die Unterlassung der in Pi eingreifenden Maßnahme für die Erfüllung des
gegenläufigen Prinzips Pj habe. Der Begriff der konkreten Wichtigkeit sei mit dem der
Intensität des Eingriffs identisch.197 Daher verwendet Alexy, abweichend von früheren
Arbeiten, für die Notation der konkreten Wichtigkeit ebenfalls das Zeichen für Eingriffsintensität. Die konkrete Wichtigkeit des kollidierenden Prinzips wird also dargestellt als IPjC oder kurz Ij.
Die Bewertung der Eingriffsintensitäten erfolgt mit den Werten leicht, mittel,
schwer, die durch l, m und s angegeben werden.198 Alexy meint, dass sich eine Skala der
Eingriffsintensitäten vom Standpunkt der Verfassung angeben lasse, die Kommensurabilität stifte.199 Dieses triadische Modell könne mit Hilfe von Zahlen illustriert
werden.200 Dies sei mittels arithmetischer oder geometrischer Folgen möglich. Eine besonders einfache arithmetische Folge sei die Folge 1, 2, 3... Auf dieser Grundlage könne
das Gewicht eines Prinzips unter den Umständen des zu entscheidenden Falls, sein
konkretes Gewicht, ausgedrückt werden als
Gi,j = Ii - Ij
Alexy bezeichnet dies als "Differenzformel".201 Das konkrete Gewicht könne ausführlicher notiert werden als GPi,jC. Es handele sich um ein relatives Gewicht.
Die arithmetische Darstellung sei gleichwohl inadäquat, weil sie nicht zum Ausdruck bringe, dass Prinzipien bei steigender Eingriffsintensität immer mehr an Kraft gewönnen. Dieser Zusammenhang entspreche dem Gesetz der abnehmenden Grenzrate der
Substitution.202 Deshalb nimmt Alexy eine geometrische Skalierung mit den Werten 20,
21, 22 (also 1, 2, 4) vor. Dies erlaube es, das konkrete Gewicht durch die obige Quotientformel zu definieren.
Die vollständige Quotientformel enthält neben Eingriffsintensitäten als weitere Elemente die abstrakten Gewichte der kollidierenden Prinzipien sowie die Sicherheit der empirischen Annahmen. Abstrakte Gewichte sollen ebenso wie Eingriffsintensitäten auf triadische Skalen bezogen werden, die durch geometrische Folgen repräsentiert würden. Bei-
194 Ebd., 779.
195 Ebd., 789.
196 Alexy 1985, 146.
197 Alexy 2003a, 780.
198 Ebd., 781.
199 Ebd., 782.
200 Ebd., 783.
201 Ebd., 784.
202 Ebd., 785.
177
den komme gleiches Gewicht bei der Bestimmung des durch Gi,j repräsentierten konkreten
oder relativen Gewichts zu.203
Die Werte für die Sicherheit empirischer Prämissen werden ebenfalls auf geometrischen Skalen angegeben. Die Werte hierfür seien g (gewiss), p (plausibel) und e (evident
falsch). Die entsprechenden Zahlenwerte seien 20, 2-1, 2-2.
Alexy fügt dem noch zwei erweiterte Gewichtsformeln hinzu, die das Problem der
Kollision von nicht nur zwei, sondern von mehreren Prinzipien betreffen. Dies setzte
allerdings voraus, dass Prinzipien additiv kumulierbar wären,204 eine Voraussetzung, die
durchaus problematisch ist. Sie erfordert die additive Trennbarkeit der einzelnen Gewichte.205 Diese wird häufig nicht gegeben sein, weil Prinzipien in Beziehungen zueinander stehen, die sie nicht völlig unabhängig voneinander machen.206 Dies schließt eine
einfache Addition aus. Die Anwendung der erweiterten Gewichtsformeln steht somit
vor Problemen, die von Alexy angesprochen, aber nicht gelöst werden.207
3.2. "Gewichtsformel" und Optimierungsmodell der Abwägung
Gegen die Alexysche "Gewichtsformel" sind eine Reihe von Einwänden vorgebracht
worden,208 die sich vor allem gegen die mit ihr angestrebte Mathematisierung der Abwägung richten. Sie können allerdings nicht in Frage stellen, dass eine Präzisierung der
Abwägung auch unter Einsatz mathematischer Instrumente wünschenswert wäre und es
jedenfalls interessant ist, deren Möglichkeiten auszuloten. Dies erfordert allerdings zunächst Klarheit über das zugrundegelegte Modell der Abwägung. Zu klären ist insbesondere, in welchem Verhältnis die Alexysche Konzeption zu dem hier verwendeten
Optimierungsmodell der Abwägung steht ab.
In verschiedenen Punkten sind Abweichungen festzustellen:
- Für den Begriff des konkreten relativen Gewichts, der durch die Gewichtsformel
bestimmt wird, sei es mittels Subtraktion auf der Basis arithmetischer Skalierung, sei es
durch einen Quotienten auf der Basis geometrischer Skalierung, gibt es keine Entsprechung im Optimierungsmodell.
- Andererseits fehlt in der Alexyschen Konzeption der Begriff des relativen Gewichts im
Sinne der normativen Substitutionsrate für kollidierende Prinzipien, die dem Betrag der
Steigung der betreffenden Indifferenzkurve entspricht.
- In der Alexyschen Konzeption werden Beeinträchtigungs- oder Erfüllungsgrad mit
Eingriffsintensität gleichgesetzt, letztere wiederum wird mit der konkreten Wichtigkeit
203 Ebd., 789.
204 Ebd., 792.
205 Vgl. Jansen 1998, 120, zu den Gebotenheitsgraden von Prinzipien.
206 Sieckmann 1995.
207 Carlos Bernal Pulido hat Erweiterungen der Gewichtsformel um weitere Faktoren vorgeschlagen,
vgl. Bernal Pulido 2004, 2006a, 2006b. Allerdings ist fraglich, ob es sinnvoll ist, diese mit den für
die Abwägung wesentlichen Faktoren von abstraktem Gewicht und Erfüllungs- und Beeinträchtigungsgrad auf eine Stufe zu stellen
208 Kritisch zur Gewichtsformel Atienza 2006, 173; Bro?ek 2007b; Hofmann 2007; Jestaedt 2007, 266;
Moreso 2007, 230ff.; Riehm 2006, 66ff.
178
eines Prinzips identifiziert.209 Im Optimierungsmodell werden hingegen Beeinträchtigungs- und Erfüllungsgrad grundsätzlich als deskriptive Begriffe verwendet und von
der Wichtigkeit der Erfüllung eines Prinzips oder seinem Gewicht im konkreten Fall
unterschieden.
- Das Gewicht eines Prinzips im konkreten Fall wird im Optimierungsmodell als
Funktion von Erfüllungsgrad und relativem abstrakten Gewicht des Prinzips definiert.
Aufgrund der jeweiligen Gewichte im konkreten Fall (und entsprechend den Erfüllungswerten verschiedener Abwägungsergebnisse hinsichtlich der jeweiligen Prinzipien) wird
das Vorrangverhältnis der kollidierenden Prinzipien bestimmt. In der Alexyschen Konzeption spielt der Begriff des Gewichts eines Prinzips im konkreten Fall hingegen keine
Rolle. Er wird nur der Abgrenzung halber erwähnt. Zudem charakterisiert Alexy es als
ein nicht-relatives konkretes Gewicht.
- Das abstrakte Gewicht eines Prinzips definiert Alexy als vollkommen unabhängig von
irgendeinem Fall.210 Im Optimierungsmodell ist es hingegen lediglich unabhängig von
dem zu entscheidenden Fall zu bestimmen, bleibt aber ein relatives in dem Sinne, dass
es in Bezug auf eine Kollision von Prinzipien zu bestimmen ist.
- Alexy berücksichtigt explizit die Sicherheit empirischer Annahmen als Abwägungsfaktor.211 Im Optimierungsmodell wäre dieser Faktor in der Bestimmung von Erfüllungs- oder Beeinträchtigungsgraden zu berücksichtigen.212
Grundsätzliche Unterschiede bestehen demnach hinsichtlich des Begriff des konkreten relativen Gewichts, hinsichtlich der Begriffe von Erfüllungs- und Beeinträchtigungsgraden, Eingriffsintensitäten und abstrakten Gewichten von Prinzipien sowie des
aufgrund dieser Faktoren definierten relativen Gewichts kollidierender Prinzipien im
konkreten Fall. Ein weiterer Unterschied ist die Einführung einer geometrischen Skalierung für Eingriffsintensitäten, abstrakte Gewichte und Sicherheiten empirischer Annahmen. Alexy vertritt demnach eine andere Konzeption der Abwägung als die des Optimierungsmodells. Die Frage ist, ob sie haltbar ist.
3.3. Der Begriff des konkreten Gewichts
Alexy verwendet einen Begriff des konkreten relativen Gewichts von Prinzipien, der im
Optimierungsmodell nicht vorkommt. Andererseits verwendet er nicht den im Optimierungsmodell grundlegenden Begriff des relativen Gewichts von Prinzipien im Sinne der
normativen Substitutionsrate der Erfüllung kollidierender Prinzipien.
Alexy definiert das konkrete relative Gewicht zweier Prinzipien als Funktion der
Eingriffsintensitäten, abstrakten Gewichte und Sicherheit der empirischen Annahmen hinsichtlich der kollidierenden Prinzipien, sei es mittels einer Differenzformel, sei es mit der
Quotientformel. Abgesehen vom Faktor der Sicherheit der empirischen Annahmen, scheint
209 Alexy 2003a, 778, 780.
210 Ebd., 778.
211 Ebd., 789.
212 Die Sicherheit der empirischen Annahmen kann in den Faktor des Erfüllungsgrades integriert werden, indem dieser als Grad der erwarteten Erfüllung verstanden wird.
179
eine Parallele zu bestehen in der Bildung des Produkts aus Eingriffsintensitäten I und
abstrakten Gewichten G von Prinzipien. Während jedoch dieses Produkt im Optimierungsmodell das relative Gewicht eines Prinzips im konkreten Fall definieren müsste und die
Relation der jeweiligen Gewichte im konkreten Fall die Vorrangrelation zwischen den kollidierenden Prinzipien bestimmte, gibt es Alexy zufolge das nicht-relative konkrete Gewicht der Prinzipien an. Im Gegensatz dazu definiert er das konkrete relative Gewicht der
Prinzipien aufgrund der Differenz oder des Quotienten dieser Produkte, wobei er auf die
abweichende Verwendung des Begriffs des Gewichts oder der Wichtigkeit von Prinzipien
hinweist. Er führt also einen anderen Begriffs des konkreten relativen Gewichts ein. Im
Optimierungsmodell wäre dieser Begriff durch eine Relation zwischen relativen Gewichten im konkreten Fall zu definieren, also durch eine doppelte Relativität.
Da der Alexysche Begriff des konkreten relativen Gewichts nicht nur eine klassifikatorische Vorrangrelation definiert, sondern Graduierungen zulässt, kann das relative Gewicht des einen Prinzips gegenüber dem anderen verschieden groß sein. Ein hohes relatives Gewicht des einen Prinzips würde im Alexyschen Sinne besagen, dass es das andere im
konkreten Fall weit überwiegt. Es liegt nahe, diese Konzeption als die eines "relativen
Übergewichts" eines Prinzips gegenüber einem anderen in einem konkreten Fall zu charakterisieren.
Die Konzeption eines relativen Übergewichts eines Prinzips spielt im Optimierungsmodell keine Rolle, weil und soweit es bei der Abwägung nur darum geht, den Vorrang
unter kollidierenden Prinzipien in einem bestimmten Fall zu bestimmen. Wie stark das
vorgehende Prinzip überwiegt, ist im Ergebnis unerheblich. Es gibt allerdings Zusammenhänge, in denen diese Konzeption fruchtbar sein könnte. Sie könnte zur Rekonstruktion der
Idee eines "Abwägungsmaßes"213 dienen, d.h. der Forderung nicht nur eines höheren
Gewichts, sondern eines erheblich höheren Gewichts, um den Vorrang eines Prinzips
gegenüber einem anderen zu begründen. Ein wichtiger Anwendungsfall könnte die Differenzierung verschiedener Intensitäten gerichtlicher Kontrolle sein. Auch für das Kriterium
der Stärke rationaler Akzeptanz214 kann relevant sein, wie stark die Priorität ist, die verschiedene in ihren Abwägungsurteilen divergierende Beteiligte ihrer jeweiligen Position
zuschreiben.
3.4. Eingriffsintensitäten und abstrakte Gewichte
Ein zweites Problem ist die Definition von Eingriffsintensität I, abstraktem Gewicht G und
Wichtigkeit der Erfüllung, oder konkreter Wichtigkeit, W von Prinzipien. Konkrete Wichtigkeit ist offenbar eine allein von den jeweiligen Eingriffsintensitäten abhängende Größe,
während Wichtigkeit der Erfüllung insofern allgemeiner ist, als für sie neben den Eingriffsintensitäten auch die abstrakten Gewichte von Prinzipien relevant sein können. In diesem
Punkt scheint die Alexysche Konzeption dem Optimierungsmodell zu entsprechen, da die
Wichtigkeit eines Prinzips Wi in Abhängigkeit von Eingriffsintensität und abstraktem
213 Riehm 2006, 30, 81, 103.
214 Dazu Sieckmann 2003.
180
Gewicht bestimmt wird.215 Eingriffsintensität könnte somit als Grad der Erfüllung oder
Beeinträchtigung, abstraktes Gewicht als abstraktes relatives Gewicht verstanden werden.
In der Alexyschen Konzeption ist die Eingriffsintensität aber keineswegs mit dem
Erfüllungs- oder Beeinträchtigungsgrad im Sinne des Optimierungsmodells gleichzusetzen. Letztere sind grundsätzlich empirisch-analytisch zu bestimmen, aufgrund eines Vergleichs verschiedener Situationen. Beispiele sind die Beeinträchtigung des Eigentums
durch mehr oder weniger hohe Steuern oder die Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit
durch mehr oder weniger weitreichende Verbote im Straßenverkehr. Allerdings hängt die
Bestimmung von Erfüllungs- und Beeinträchtigungsgraden von der Definition des Schutzguts ab, die wiederum evaluative oder normative Stellungnahmen erfordern kann. So setzen Urteile über die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts eine Bestimmung voraus,
was als Persönlichkeitsrecht geschützt wird und für wie wichtig die einzelnen Elemente
gehalten werden. Die Bestimmung von Erfüllungs- und Beeinträchtigungsgraden kann daher normative Urteile erfordern. Dies ist jedoch nicht begrifflich notwendig. Die Eingriffsintensität enthält hingegen begrifflich notwendig eine evaluative Komponente, da sie mit
der konkreten Wichtigkeit eines Prinzips gleichgesetzt wird,216 jedenfalls in dem Fall gleicher abstrakter Gewichte der kollidierenden Prinzipien. Die Eingriffsintensität gibt die
konkrete Wichtigkeit der Erfüllung eines Prinzips an. Sie ist nicht deskriptiv zu verstehen,
sondern nur evaluativ zu bestimmen.
Die Gleichsetzung von Eingriffsintensität und konkreter Wichtigkeit der Erfüllung
eines Prinzips zeigt, dass die Alexysche Eingriffsintensität die Stelle dessen einnimmt, das
in Optimierungsmodell als relatives Gewicht im konkreten Fall bezeichnet wird. Die
Differenz oder das Verhältnis der Eingriffsintensitäten wiederum bestimmt Alexy zufolge
das konkrete relative Gewicht der abzuwägenden Prinzipien. Das konkrete relative Gewicht kann in diesem Sinne somit nicht einen Faktor zur Bestimmung der Vorrangrelation
darstellen, sondern es wird gleichzeitig mit dieser bestimmt. Dementsprechend setzt die
Verwendung der Eingriffsintensität als Kriterium voraus, dass bereits eine Vorrangrelation
zwischen Prinzipien bestimmt worden ist.
Dies führt zu der Frage, wie die Eingriffsintensität im Alexyschen Modell zu bestimmen ist. Wird sie mit der konkreten Wichtigkeit eines Prinzips gleichgesetzt, könnte
sie als Funktion von Beeinträchtigungsgrad und abstraktem Gewicht interpretiert werden. Dies führte jedoch zu einer doppelten Berücksichtigung des Faktors des abstrakten
Gewichts. Sind die abstrakten Gewichte gleich, spielt dies keine Rolle, da sie gegeneinander gekürzt werden können und in der Gewichtsformel nicht ausgewiesen werden
müssen. Sind sie jedoch nicht gleich, müssen sie in die Gewichtsformel aufgenommen
werden. Wenn aber die Eingriffsintensität bereits evaluativen Gehalt hat, dann führt die
Ergänzung der Formel um abstrakte Gewichte zu einer doppelten Berücksichtigung
abstrakter Gewichte.
Eine weitere Frage ist, ob das abstrakte Gewicht eines Prinzips ein relatives oder
ein absolutes Gewicht ist, und in welchem Sinne dies zu verstehen ist. Im Optimie-
215 Alexy 2003a, 788.
216 Ebd., 779f.
181
rungsmodell wird das Gewicht von Prinzipien als relativ in dem Sinne definiert, dass es
nur in Bezug auf das Verhältnis kollidierender Prinzipien (oder jedenfalls mit Bezug auf
Prinzipienkollisionen) zu bestimmen ist. In diesem Bezug liegt ein wesentlicher Vorteil
des Optimierungsmodells, da es eine rationale Rekonstruktion des Begriffs des Gewichts von Prinzipien aufgrund der in Abwägungen erkennbaren Gewichtungen erlaubt.
Wird das abstrakte Gewicht hingegen als ein absolutes Gewicht verstanden, dann ist
dessen Begründung wie auch dessen begründungstheoretische Funktion unklar. Absolute Gewichte sind nicht auf Prinzipienkollisionen bezogen, sondern werden Prinzipien
unabhängig von Kollisionsfällen zugeschrieben. Solche Zuschreibungen sind zwar als
generalisierende Aussagen über relative Gewichte möglich, haben wegen des generalisierenden Charakters aber nur prima facie-Charakter und begründen damit lediglich
Vermutungen über das richtige Abwägungsergebnis. Dies ist eine andere Art der Begründung als die einer Abwägung.
Alexy verwendet allerdings den Begriff des relativen Gewichts offenbar in einem
anderen Sinne, nämlich als eine zweistellige, auf zwei Prinzipien bezogene Relation.
Absolute Gewichte sind demnach einstellige Prädikate, die auf nur ein Prinzip bezogen
sind. Diese Verwendungsweise zeigt sich auch an der Bezeichnung der Wichtigkeit
eines Prinzips im konkreten Fall (dargestellt als das Produkt aus I und G) als nicht
relatives Gewicht. Da das abstrakte Gewicht von Prinzipien relativ auf kollidierende
Prinzipien definiert wird, muss auch das Produkt von abstraktem Gewicht und Eingriffsintensität in diesem Sinne relativen Charakter haben. Es wird jedoch von Alexy als
nicht relatives konkretes Gewicht bezeichnet. Dies zeigt, dass er einen anderen Begriff
der Relativität des Gewichts von Prinzipien verwendet. Dies ist offenbar, allerdings
ohne explizite Definition, der Bezug des relativen Gewichts auf nicht nur eines, sondern
beide der kollidierenden Prinzipien.
In diesem Punkt stellt sich ein weiteres Problem. Das abstrakte Gewicht ist Alexy
zufolge ein relatives Gewicht, jedoch eines, das unabhängig von irgendwelchen Fällen
bestimmt wird.217 Damit handelt es sich um ein absolutes Gewicht im Sinne des Optimierungsmodells. Es ist gerade das Merkmal des relativen Gewichts im Sinne des
Optimierungsmodells, dass das Gewicht nur in Bezug auf einen Kollisionsfall bestimmt
werden kann. Im Optimierungsmodell wird das abstrakte Gewicht als unabhängig von
der Entscheidung des konkreten Abwägungsproblems charakterisiert, bleibt aber von
Umständen abhängig, die für die Bestimmung des abstrakten Gewichts relevant sind,
wie der Stärke zugrunde liegender Interessen, der Stützung durch weitere Prinzipien,
der Gewichtung in anderen Fällen. Wird jeder Fallbezug ausgeschlossen, kann es sich
nicht um ein relatives Gewicht in diesem Sinn handeln.
3.5. Die geometrische Skalierung
Ein wichtiger und origineller Punkt in der Konzeption Alexys ist die Repräsentation von
Eingriffsintensitäten, abstrakten Gewichten und Sicherheiten empirischer Annahmen durch
217 Ebd., 778.
182
geometrische Reihen. Als Basis für die Zahlenwerte für die Intensität der Beeinträchtigung
und die Wichtigkeit von Prinzipien dient eine Trias 20, 21 und 22. Dies führt dazu, dass das
konkrete Gewicht eines Prinzips mit abnehmendem Erfüllungsgrad überproportional ansteigt.
Ob diese Annahme eines überproportionalen Anstiegs adäquat ist, ist allerdings fraglich. Alexy verwendet sie als Begründung dafür, dass Grundrechte bei Abwägungen nicht
völlig verdrängt werden können. Jansen sieht in ihr einen Ansatz zur Interpretation der
Wesensgehaltsgarantie im Rahmen eines Abwägungsmodells.218 Diese Ansätze sind
jedoch auf Grundrechte bezogen und können nicht ein allgemeines Merkmal rationaler
Abwägung begründen.
Ein weiteres Problem für die Überproportionalitätsthese ist eine Mehrdeutigkeit im
Begriff des Erfüllungsgrades. Dieser kann punktuell - als Maß der Erfüllung eines Prinzips
- oder veränderungsbezogen - als Maß der Erfüllung oder Beeinträchtigung eines Prinzips
durch eine bestimmte Maßnahme - verstanden werden.219 Die Alexysche Konzeption muss
die punktuelle Interpretation zugrunde legen. Denn bei einer veränderungsbezogenen Bestimmung des Erfüllungsgrades würden alle Maßnahmen, gleich welche Auswirkung sie
haben, die zu einem bestimmten punktuellen Erfüllungsgrad des Prinzips führen, entsprechend diesem Erfüllungsgrad bewertet. Ist z.B. das Prinzip der Berufsfreiheit bereits durch
zahlreiche Einschränkungen zugunsten des Gesundheitsschutzes geprägt, also in geringem
Maße erfüllt, würde jede weitere Beschränkung, so gering sie auch sei, als erhebliche
Beeinträchtigung des Prinzips der Berufsfreiheit gewertet. Für sie gälten die gleichen
Anforderungen wie für eine Maßnahme, die von einem zunächst relativ hohen Grad der
Realisierung der Berufsfreiheit zu einer weitgehenden Einschränkung führt. Dies kann
aber nicht richtig sein.
Zudem passt die Anwendung geometrischer Reihen auf abstrakte Gewichte in dem
von Alexy definierten Sinn nicht, weil die Begründung für das überproportionale Anwachsen des Gewichts der Grad der Beeinträchtigung ist. Das abstrakte Gewicht soll aber ohne
jeden Bezug auf die Umstände irgendwelcher Fälle sein. Damit gibt es keinen Grund, ein
überproportionales Wachsen anzunehmen.
Ferner ist fraglich, welche Bedeutung die Größe der Zahlenwerte für die Abwägung hat. Wenn es nur um die Bildung einer Vorrangrelation geht, erscheint die Verwendung von Exponenten nicht notwendig. Zudem werden sowohl die Werte für Eingriffsintensitäten als auch für abstrakte Gewichte wie für Sicherheiten empirischer
Annahmen exponentiell dargestellt. Jeder Zuwachs in einer Dimension um eine Einheit
wird daher durch jede Minderung in einer anderen Dimension um eine Einheit kompensiert. Damit genügte für die Darstellung der Abwägung aber eine Einordnung der Entscheidungssituationen in Klassen von Wichtigkeits-, Beeinträchtigungs- und Sicherheitsgraden.220
218 Jansen 1997, 27ff.
219 S.o., § 3, III. 1.
220 Dies gilt allerdings nicht für die Behandlung von Kollisionen von mehr als zwei Prinzipien entsprechend der erweiterten Gewichtsformel.
183
Allerdings nimmt Alexy an, aus dem Verhältnis der Zahlenwerte lasse sich entnehmen, dass bei einer Verfeinerung der Skala z.B. zu neun Stufen von 20 bis 28 das
konkrete Gewicht eines Prinzips sehr stark steige, wenn ein leichter Eingriff in ein
Prinzip mit einem hohen Grad der Wichtigkeit der Erfüllung des kollidierenden Prinzips
zusammentreffe. Dies gehe bis ins Unendliche hinein. Dem solle die Rede vom "grenzenlosen Unrecht" entsprechen. Diese Rede hätte jedoch nur dann einen Sinn, wenn
man die Werte für das konkrete Gewicht auf einer Skala reeller Zahlen abbilden könnte,
die die Größe von Unrecht angeben. Für eine derartige Interpretation gibt es jedoch
keine Grundlage.
Es ist somit festzustellen, dass die Alexysche "Gewichtsformel" keine plausible
Alternative zum Optimierungsmodell der Abwägung bietet. Dennoch ist dieser Versuch
einer mathematischen Präzisierung der Abwägung interessant und kann durchaus als
wegweisend für die weitere Analyse von Abwägungen gelten.
IV. Die Entscheidbarkeit juristischer Abwägungen
Ob nicht nur eine Komparation verschiedener Entscheidungsalternativen, sondern eine rationale Begründung eines bestimmten Abwägungsurteils gelingt, hängt davon ab, ob Erfüllungsgrade und Gewichte objektiv bestimmt werden können, auch für die sich aus ihnen
ergebenden normativen Konsequenzen, d.h. ob sich Gewichte, Erfüllungsgrade und konkrete relative Gewichte oder Erfüllungswerte unabhängig von einem Abwägungsurteil und
nicht erst als Rationalisierung intuitiv getroffener Abwägungsurteile ermitteln lassen.
Für die Frage der Entscheidbarkeit ist wichtig, welcher Maßstab zugrunde gelegt
wird. In Betracht kommen
- objektive Gültigkeit, d.h. jeder vernünftig Urteilende muss zu einem bestimmten
Urteil kommen,
- vernünftige Konvergenz, d.h. aufgrund autonomer Argumentation und intersubjektiver Reflektion bildet sich eine stabile und unumkehrbar erscheinende Tendenz zu
einem bestimmten Ergebnis heraus,
- ein normativer Richtigkeitsanspruch aufgrund autonomer Argumentation und intersubjektiver Reflektion.
In letzterem Sinne sind alle Abwägungsfragen entscheidbar, auch wenn einzelne Beurteiler
in manchen Fragen zu keinem Ergebnis kommen werden. Andererseits ist die Forderung
objektiver Gültigkeit zu stark. Sie lässt sich im Bereich normativer Argumentation in substantiellen Fragen in der Regel nicht erreichen, auch nicht im Bereich des Rechts. Wenn
nach der Entscheidbarkeit juristischer Abwägungen gefragt wird, dann ist damit sinnvollerweise gemeint, ob über solche Fragen vernünftige Konvergenz erreicht werden kann.
Dies setzt nachvollziehbare Entscheidungskriterien voraus, die zwar nicht bestimmte Ergebnisse zwingend festlegen, aber doch zu stabilen Akzeptanzen führen können. Daneben
bestehen allerdings objektiv gültige formale Anforderungen an korrekte Abwägungsurteile
sowie der Anspruch des Abwägenden auf normative Notwendigkeit seiner durch Prinzipien begründeten Entscheidung.
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References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.