§ 7 Abwägung in der juristischen Argumentation
I. Autonome und juristische Abwägung
Juristische Abwägungen weisen gegenüber der Grundform der autonomen Abwägung Besonderheiten auf. Sie ergeben sich aus dem autoritativen und dem systematischen Charakter des Rechts.
Die Funktion des Rechts, verbindliche Regelungen zu treffen, erfordert die Anerkennung der Autorität des Rechts im Sinne der Ermächtigung bestimmter Rechtsorgane, Regelungen als verbindlich zu setzen, auch wenn sich ihre inhaltliche Richtigkeit nicht begründen lässt. Im Recht existiert daher notwendigerweise ein Konflikt zwischen individueller Autonomie und der Autorität des Rechts. Da die Autorität des Rechts individuelle
Autonomie beschränkt, sowohl die von Bürgern wie von Rechtsanwendungsorganen, können juristische Abwägungen nicht ohne weiteres als autonome Abwägungen konstruiert
werden. Das positive Recht kann Gewichtungen und Vorrangregelungen enthalten, die bei
der Kollision von Prinzipien anzuwenden sind. Juristische Abwägung muss solchen
Vorgaben folgen, kann also nicht vollständig autonom sein. Andererseits kann individuelle
Autonomie nicht vollständig durch die Autorität des Rechts verdrängt werden. So bedarf
die Autorität des Rechts einer Begründung, die letztlich durch autonome Subjekte anerkannt werden muss. Außerdem sind positive Rechtsordnungen niemals vollständig, sondern lassen Raum für autonome Entscheidungen. In der juristischen Argumentation verbinden sich daher die Anwendung autoritativer Regelungen und die autonome Abwägung.
Eine zweite Besonderheit ergibt sich aus dem systemischen Charakter des Rechts. Es
ist nicht nur ein einzelner Fall zu entscheiden, sondern eine Entscheidung innerhalb eines
Systems zu treffen. Rechtsanwendungsorgane müssen daher die Kohärenz ihrer Entscheidungen im Hinblick auf reale oder hypothetische Fälle beachten. Eine solche Forderung
der Kohärenz gilt zwar als Rationalitätsideal auch für individuelle normative Überzeugungen. Sie sind um so rationaler, je stärker sie in ein kohärentes Überzeugungssystem eingebunden sind und je umfassender dieses System ist. Jedoch stellt dies keine notwendige
Bedingung für die Rationalität individueller Überzeugungen dar. Es ist nicht notwendig
irrational, einen einzelnen Fall zu entscheiden, ohne zugleich ein vollständiges System normativer Überzeugungen zu entwickeln. In einem Rechtssystem lässt sich hingegen das Gebot der Kohärenz nicht zurückstellen. Juristische Entscheidungen treffen stets auf bereits
vorhandene rechtliche Festsetzungen, mit denen sie zusammenpassen müssen.
Juristisch lässt sich das Gebot kohärenten Entscheidens als Forderung der Gleichbehandlung erfassen. Zudem sollten verschiedene Rechtsanwendungsorgane ihre Entscheidungen koordinieren, um Rechtssicherheit herzustellen. Jedenfalls spielt die Kohärenz von
Abwägungsentscheidungen hinsichtlich von Vergleichsfällen wie auch hinsichtlich verschiedener Entscheidungsorgane in der juristischen Argumentation eine zentrale Rolle.184
Aus dem autoritativen und systematischen Charakter des Rechts ergeben sich somit ver-
184 Vgl. insb. MacCormick 1978, Peczenik 1989; Hage 2005.
170
schiedene Kohärenzforderungen an juristische Abwägungen: die Übereinstimmung mit
autoritativen Vorgaben für die Abwägung sowie mit anderen Abwägungsurteilen. Die
Struktur autonomer Abwägung wird durch solche Kohärenzforderungen modifiziert.
II. Abwägung und Kohärenz
Es sind verschiedene Kohärenzforderungen an Abwägungen zu unterscheiden. Manche
gelten bereits für autonome Abwägungen, andere sind spezifisch für juristische Abwägungen. Autonome Abwägungen müssen kohärente Gewichtungen der kollidierenden
Belange vornehmen. Auch die Vereinbarkeit verschiedener Abwägungsurteile ist bereits
bei autonomen Abwägungen relevant. Das Rechtssystem erweitert diese Anforderung
insofern, als auch Kohärenz mit Abwägungen anderer Organe des Rechtssystems gefordert wird. Spezifisch rechtlich sind Kohärenzforderungen in Bezug auf autoritative Gewichtungsvorgaben und Vorrangregeln, die für andere Fälle aufgestellt worden sind.185
Kohärenzforderungen können weiter danach unterschieden werden, ob sie die
Abwägung selbst betreffen oder aber Prämissen, die nicht abwägungsspezifisch sind.
Dies führt zur Unterscheidung interner und externer Kohärenz.
1. Interne Kohärenz
Forderungen interner Kohärenz betreffen die Festsetzungen im Rahmen von Abwägungen. Solche Forderungen von Abwägungskohärenz können sich auf ein einzelnes Abwägungsurteil (individuelle Abwägungskohärenz) oder auf die Vereinbarkeit mit anderen Abwägungsurteilen (systemische Abwägungskohärenz) beziehen.
Im Rahmen der Bildung einzelner Abwägungsurteile gelten Kohärenzforderungen
für die Konstruktion normativer Argumente, die Bestimmung des Gewichts von normativen Argumenten, die Vorrangbildung sowie für Abwägungsurteile insgesamt.
- Normative Argumente müssen nicht nur auf isolierten Interessen basieren, sondern einem kohärenten Lebensplan oder einer Konzeption eines guten Lebens.
- Die relative Gewichtung normativer Argumente muss den Vorgaben für den Verlauf
von Indifferenzkurven entsprechen. Das Abwägungsurteil muss diesen Gewichtungen
und den Annahmen über Erfüllungs- und Beeinträchtigungsgrade entsprechen.
- Die Vorrangbildung zwischen kollidierenden Argumenten muss alle relevanten Abwägungsfaktoren berücksichtigen. So wäre es fehlerhaft, einen Vorrang von P1 wegen seines überragenden Gewichts anzunehmen, ohne die Erfüllungs- und Beeinträchtigungsgrade der kollidierenden Prinzipien zu berücksichtigen.
- Das Abwägungsurteil muss alle relevanten Argumente berücksichtigen. Geschieht dies
nicht, bleiben ungelöste Konflikte und damit Inkohärenzen.
185 Liegt eine autoritative Vorrangregel für den zu entscheidenden Fall vor, erübrigt sich eine Abwägung in diesem Fall - allerdings nicht eine Abwägung in Bezug auf die Rechtfertigung der Kompetenz zur autoritativen Festsetzung dieser Vorrangregel.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.