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jedoch nur eine Teilmenge der abzuwägenden Prinzipien dar. Sie können aufgrund ihres
hohen Gewichts das Ergebnis entscheidend beeinflussen und eindeutig erscheinen lassen.
Sie sind jedoch nur im Rahmen der Abwägung relevant und unterliegen damit ebenfalls
der Beurteilung nach dem Kriterium vernünftiger Akzeptanz.
Rechtsdogmatische, rechtshistorische und rechtsvergleichende Argumente können als
einfache semantische Argumente verwendet werden, sie können aber auch als Kriterien
zweiter Stufe von Bedeutung sein, die die objektive Gültigkeit eines Interpretationsvorschlags begründen sollen. Rechtsdogmatik kann als Ergebnis einer vernünftigen Argumentationspraxis angesehen werden und damit die objektive Richtigkeit einer Auslegung stützen. Ebenso können die Anerkennung einer Auffassung in der Rechtstradition oder die
Anerkennung ähnlicher Problemlösungen in anderen Rechtsordnungen eine Vermutung
für ihre Vernünftigkeit begründen.
Ein weiteres Element einer Interpretationslehre ergibt sich aus der Existenz höherrangigen Rechts. Die Vereinbarkeit mit höherrangigen Normen ist eine einschränkende
Bedingung jeder zulässigen Interpretation. Dies ist insbesondere anerkannt in Forderungen verfassungskonformer Auslegung, sowie allgemein, der Konformität der Auslegung
mit höherrangigem Recht.
IV. Die prozedurale Struktur der Interpretation
Die Überlegungen zur juristischen Interpretation führen auf eine Unterscheidung von
vier Stufen im Rahmen der Interpretation. Die Interpretation muss allerdings nicht
notwendig diese Stufen nacheinander durchlaufen. Deren Unterscheidung stellt eine
rationale Rekonstruktion des Interpretationsprozesses dar. Die Stufen sind durch die
folgenden Fragen oder Aspekte charakterisiert:
(1) Das Vorliegen eines Interpretationsproblems: Es muss an semantischen Regeln fehlen (Vagheit) oder ein Konflikt zwischen semantischen Regeln bestehen (Mehrdeutigkeit).
(2) Grenzen der Interpretation: Vereinbarkeit von Interpretationsvorschlägen mit höherrangigem Recht (z.B. verfassungskonforme Auslegung in der Variante der Ausgrenzung bestimmter Interpretationsvorschläge).
(3) Auslegungsargumente: Es sind drei Arten von Argumenten zu unterscheiden:
- die Feststellung der Anwendbarkeit von Auslegungsregeln mittels Subsumtion
und Deduktion;
- die Abwägung kollidierender Forderungen, die sich aus Auslegungsargumenten
ergeben;
- Argumente hinsichtlich der Kohärenz der Abwägungsprämissen und der Abwägungsergebnisse, insbesondere aufgrund des Vergleichs verschiedener hypothetischer Fälle sowie verschiedener Abwägungsentscheidungen.
(4) Objektivitätskriterien: Kriterium für die objektive Richtigkeit einer mittels Abwägung begründeten Interpretation ist das der vernünftigen Akzeptanz. Im Konflikt
zwischen verschiedenen Interpretationsvorschlägen ist nach der Stärke vernünftiger
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Akzeptanz der jeweiligen Interpretationsvorschläge zu entscheiden. Hilfskriterien
sind Rechtsdogmatik, Dogmengeschichte und Rechtsvergleichung, insoweit die
dort durchgeführten juristischen Diskurse die Vernünftigkeit der anerkannten Interpretationen belegen.
Die Begründung der objektiven Richtigkeit einer Interpretation ist stets prinzipiell gefordert. Allerdings genügt für Interpretationen - gemäß dem geltungstheoretischen Begriff der Interpretation - auch die Zuordnung von Bedeutungen mit subjektivem Richtigkeitsanspruch. Die rationale Begründung einer Interpretation muss aufgrund von Auslegungsargumenten und deren korrekter Abwägung im Sinne von (3) erfolgen. Allerdings
muss auch in diesem Fall versucht werden, eine objektiv richtige Entscheidung zu
treffen.
V. Fazit
(1) Die Unterscheidung von Rechtsgeltung und Rechtsanwendung folgt aus einer kriteriellen Konzeption des Rechts. Aber auch aus der Anwenderperspektive ist eine Unterscheidung von Fragen der Rechtsgeltung und solchen der Rechtsanwendung, insbesondere
der Interpretation von Rechtsnormen, sinnvoll. Zwar geht es stets um Normbegründung
und normative Argumentation. Diese Normbegründung kann aber strukturiert werden.
(2) Es sind formaler, semantischer und geltungstheoretischer Begriff der Interpretation zu
unterscheiden. Für das Prinzipienmodell maßgeblich ist der geltungstheoretische Begriff
der Interpretation. Während Aussagen der rechtlichen Geltung einer Norm objektiv rechtfertigbar sein müssen, genügt für Interpretationen ein Anspruch auf möglichst objektive
Begründung verbunden mit einem subjektiven Richtigkeitsanspruch.
(3) Semantische Unbestimmtheit ist von juristischer Unbestimmtheit zu unterscheiden.
Eine Norm kann juristisch unbestimmt sein, obwohl sie semantisch, d.h. ihrem Wortlaut
nach, eindeutig ist. Da stets irgendein juristisches Auslegungsargument zur Verfügung
stehen wird, ist Unbestimmtheit rechtlicher Normen das Ergebnis eines Konflikts verschiedener Auslegungsargumente.
(4) Juristische Interpretation zielt nicht auf die Bestimmung sprachlicher Bedeutung,
sondern auf rationale Begründung von Normen und normativen Entscheidungen. Semantische Interpretation kann nur als ein Argument unter anderen angesehen werden.
(5) Eine vollständige Vorrangordnung verschiedener Auslegungskriterien ist nicht möglich. Die relevanten Auslegungskriterien sind gegeneinander abzuwägen. Diese Notwendigkeit von Abwägungen rechtfertigt andererseits nicht den Schluss, dass überhaupt keine
begründeten Aussagen über die Priorität von Auslegungskriterien möglich sind.
(6) Eine Systematik von Auslegungskriterien lässt sich anhand von drei Begründungsstrukturen entwickeln, der Kohärenzforderung, der Subjektiv-/Objektiv-Dichotomie sowie
der Unterscheidung deduktiver und teleologischer Argumentationsstrukturen.
(7) Es sind vier Stufen der juristischen Interpretation zu unterscheiden: die Feststellung
eines Interpretationsproblems; die Feststellung von Grenzen der Interpretation aufgrund
höherrangigen Rechts; die Anwendung von Auslegungsargumenten, mit den Schritten
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.