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2. Teil: Rechtsgeltung und Rechtsanwendung
§ 5 Rechtsbegriff und Rechtsgeltung
Der Rechtsbegriff ist ein klassischer Gegenstand rechtsphilosophischen Streits, insbesondere zwischen Rechtspositivismus und Natur- oder Vernunftrechtslehren. Typischerweise wählen Rechtspositivisten eine deskriptiven Rechtsbegriff und verweisen
auf die Tatsache, dass es ungerechte Rechtssysteme gibt, als Argument für die Notwendigkeit, zwischen Recht und Moral begrifflich zu unterscheiden. Anti-Positivisten wählen einen normativen Rechtsbegriff und verweisen darauf, dass der Anspruch des Rechts
auf Anwendung und Befolgung in Fällen extrem ungerechten Rechts nicht haltbar ist
und deshalb der Rechtsbegriff Kriterien moralischer Richtigkeit einschließen muss. Ein
Konflikt beider Auffassungen setzt allerdings die Annahme voraus, dass nur ein einziger Rechtsbegriff möglich ist, eine Annahme, die durchaus zweifelhaft ist.
Eine allgemeine Definition des Rechts durch notwendige und hinreichende Bedingungen erscheint nicht möglich. Wie Recht definiert werden soll, hängt von der Art der
Theorie ab, für die der Rechtsbegriff konzipiert wird. So ist für Theorien, die Recht als
Grundlage für die Begründung juristischer Urteile verstehen, ein anderer Rechtsbegriff
adäquat als für Theorien, die das Recht als in einer Gesellschaft existierende Ordnung
beschreiben wollen.123 In juristischen Begründungen geht es darum, wie gemäß rechtlicher Normen entschieden werden soll. Dies lässt sich nicht ohne weiteres mit der Feststellung beantworten, welche Normen in einer Gesellschaft tatsächlich als Recht angewandt werden. Unter der Annahme, dass juristische Entscheidungen gemäß dem Recht
erfolgen sollen, erfordert die Beantwortung der Frage, wie rechtlich entschieden werden
soll, einen normativen Rechtsbegriff, durch den die Normen bestimmt werden, nach
denen juristische Entscheidungen getroffen werden sollen.
Das Prinzipienmodell des Rechts zielt darauf, Recht als Ergebnis juristischer Argumentation zu analysieren. Unter dieser Perspektive ist ein normativer Rechtsbegriff erforderlich, d.h. eine Definition des Rechts, der zufolge die rechtliche Geltung einer
Norm ein Gebot der Anwendung und Befolgung dieser Norm durch die zuständigen
Rechtsorgane impliziert. Zu untersuchen ist, welche Merkmale und Strukturen Recht
sowie die Anwendung des Rechts entsprechend dem Prinzipienmodell aufweisen und
welche theoretischen Aussagen sich über die Kriterien der Rechtsgeltung machen lassen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet eine Beschreibung von Merkmalen
des Rechts, die den Gegenstand theoretischer Analyse bestimmen.
123 Vgl. auch Alexy 1994 zur Unterscheidung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive.
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I. Die Konzeption des Rechts als normatives System
Recht ist dadurch gekennzeichnet, dass es systemischen Charakter hat.124 Es besteht
nicht aus isolierten Normen, sondern aus einer Menge von Normen, die wiederum in
bestimmten Relationen zueinander stehen. Ein Rechtssystem ist zudem normativ, d.h. es
verlangt, dass die zu ihm gehörenden, rechtlich geltenden Normen von ihren Adressaten
angewandt und befolgt werden sollen. Recht als normatives System ist also nicht nur
eine strukturierte Menge von Normen, sondern versucht zu bestimmen, wie entschieden
oder gehandelt werden soll. Dieser Anspruch auf normative Geltung ist wichtig, um
Bedingungen rechtlicher Geltung und Strukturen der Begründung rechtlicher Geltung
herauszuarbeiten.
Das Recht als normatives System lässt sich durch verschiedene Merkmale charakterisieren. Sie können zur Bildung eines Rechtsbegriffs dienen. Einige können als notwendige Merkmale des Rechts angesehen werden, jedenfalls nach dem Verständnis des
Rechts, wie es sich in modernen Rechtssystemen entwickelt hat. Insgesamt können sie
als hinreichend angesehen werden, um ein Normensystem als Rechtssystem zu qualifizieren. Jedenfalls handelt es sich um Merkmale, die im Prinzipienmodell des Rechts
adäquat wiedergegeben werden müssen.
Die Grundidee lautet, dass Recht eine verbindliche normative Ordnung für das
Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft bildet. Dementsprechend enthält
Recht ein System von Normen mit Anspruch auf Verbindlichkeit für einen nicht individuell bestimmten Adressatenkreis. Seine Ordnungsfunktion erfordert verschiedene weitere Merkmale. Recht ist
- institutionalisiert, d.h. eine Ordnung mit Organen zur Festsetzung von Normen
und/oder Entscheidungen;
- objektiv, d.h. nicht nur die subjektive Auffassung eines einzelnen Individuums;
- autoritativ, d.h. die Geltung des Rechts ist jedenfalls teilweise das Ergebnis positiver Entscheidung und nicht seiner inhaltlichen Richtigkeit;
- verbunden mit dem Anspruch auf die Legitimität rechtlicher Autorität.
Andere Merkmale sind umstritten, etwa der Gerechtigkeitsbezug des Rechts, die Respektierung eines Mindestmaßes an Gerechtigkeit oder von Menschenrechten, oder die
Zwangsbewehrtheit des Rechts. Das Prinzipienmodell kann helfen zu klären, ob und in
welchem Sinne Recht als normative Ordnung diese Merkmale aufweist. Zunächst geht
es um die unstrittigen Merkmale des Rechts.
1. Der Ordnungscharakter des Rechts
Der Charakter des Rechts als Ordnung impliziert, dass es sich um ein System von Normen handelt, das Verhalten reglementiert. Genauer lassen sich in einer Rechtsordnung
verschiedene Systeme unterscheiden. Das Rechtssystem als Gesamtsystem weist eine
zeitliche Dimension auf. Es ist ein System nicht nur aus Normen, sondern auch aus
124 Dies wird insbesondere von Raz 1983 betont.
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Prozeduren, deren Existenz und Beziehungen untereinander sich über Zeiträume hinweg
erstrecken.
Recht bildet somit ein permanentes System. Im Gegensatz dazu kann das System
aus zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Rechtsnormen als momentanes Rechtssystem125 bezeichnet werden. Das Recht als permanentes System kann als Abfolge
momentaner Rechtssysteme konstruiert werden. Allerdings enthalten Rechtssysteme
prozedurale Elemente, die wegen ihrer zeitlichen Dauer in einem momentanen System
keinen Platz finden. Das momentane System ist eine Konstruktion, die insbesondere
dann praktisch relevant ist, wenn es um die Bestimmung der Rechtslage für einen zu
entscheidenden Fall geht. Für diesen Zweck ist jedoch nicht die Ausarbeitung eines
momentanen Systems gefordert, sondern nur die der sachlich einschlägigen Rechtsnormen. Insofern handelt es sich bei dem Begriff des Rechts als momentanes System
um eine Konstruktion, die in erster Linie analytische Funktion hat, aber für komplexe
Rechtssysteme nur punktuell oder in begrenzten Bereichen angewandt werden kann.
Dennoch ist es wichtig, beide Konzeptionen des Rechts, die als permanentes und die als
momentanes System, zur Verfügung zu haben.
Der systemische Charakter des Rechts schließt es nicht aus, auch einzelne in einem
Rechtssystem geltende Normen als Recht zu bezeichnen. Als Recht wird insofern ein zu
einem (momentanen) Rechtssystem gehörender normativer Inhalt bezeichnet.
Als normative Ordnung beansprucht Recht Verbindlichkeit gegenüber seinen
Adressaten. Der Verbindlichkeitsanspruch des Rechts impliziert, dass Rechtsnormen ein
Gebot an ihre Adressaten enthalten, diese Norm anzuwenden oder zu befolgen. Es gelten also Regeln der Struktur
(1) VALRS N ? VALRS O APP N
(2) VALRS N ? VALRS O FFM N.
Anwendung (APP) heißt, die Konsequenzen der Norm für bestimmte Fälle festzulegen,
Befolgung die Erfüllung (FFM) des von der Norm Verlangten. Anwendungsgebote richten sich dementsprechend an die zuständigen Rechtsanwendungsorgane, Befolgungsgebote an die direkten Adressaten der betreffenden Norm.126 Diese Implikationen müssen
auch in einer rein deskriptiven Theorie des Rechts wiedergegeben werden. Sie folgen
aus der Normativität des Rechts. Daraus ergeben sich notwendige Inhalte von Rechtsordnungen sowie die Unmöglichkeit rechtlicher Regelungen, die in Widerspruch zu ihnen stehen. So kann eine Rechtsordnung nicht explizit eine ungerechte Regelung als
geltendes Recht setzen. Mit einer solchen Regelung würde ein Grund gegeben, die
betreffende Norm nicht zu befolgen. Da Recht aber seinem Normativitätsanspruch
gemäß Befolgung fordert, würde die Rechtsordnung widersprüchlich. Ein Normwider-
125 Vgl. Raz 1983, 187, zur Unterscheidung von momentanen und nicht-momentanen Systemen.
126 Entsprechend lassen sich primäres und sekundäres Rechtssystem unterscheiden. Vgl. Alchourrón/Bulygin 1971, 15.
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spruch führt dazu, dass keine gültige definitive Norm existiert. Daher können nicht
explizit ungerechte Normen gesetzt werden. Generell gilt, dass keine Normen als geltendes Recht gesetzt werden können, die explizit den Voraussetzungen der Begründung
verbindlicher Normen widersprechen.
Die Funktion des Rechts, eine verbindliche Ordnung für das Zusammenleben von
Menschen in einer Gesellschaft zu bilden, schließt rein konsensuelle Regelungen vom
Begriff des Rechts aus. Rein konsensuell meint, dass die Geltung einer Norm strikt von
der Zustimmung ihrer Adressaten abhängt. Hingegen ist es ein Merkmal des Rechts,
dass Rechtsnormen Geltung auch gegenüber Adressaten beanspruchen, die diese ablehnen. Daher ist der Adressatenkreis des Rechts nicht vorgegeben, sondern wird vom
Recht selbst festgelegt.
2. Recht als institutionalisierte Ordnung
Die Konzeption des Rechts als Ordnung sieht dieses als ein zeitlich gestrecktes System
aus Normen und Prozeduren. Dies erfordert irgendeine Form der Institutionalisierung
des Rechts.127 D.h. es muss Organe geben, die Prozeduren durchführen, und damit
Regelungen darüber, wer diese Organe sind und welche Kompetenzen sie haben. Ferner
bedarf es zumindest einiger Regelungen über die einzuhaltenden Verfahren. Diese Prozeduren können unterschiedlicher Art sein. Es kann um Rechtserzeugung, Rechtsanwendung oder Durchsetzung des Rechts gehen.
Entsprechend lassen sich in Rechtssystemen Geltungssystem, Anwendungssystem
und Durchsetzungssystem unterscheiden. Zum Geltungssystem gehören diejenigen Normen, die für die Rechtsgeltung von Normen relevant sind, etwa die Einrichtung und
Ermächtigung bestimmter Organe zu Rechtsetzungsakten sowie Regelungen des Verfahrens der Rechtsetzung. Hinzu kommen Prozeduren der Rechtssetzung oder Rechtserzeugung. Das Anwendungssystem bilden Normen, die Organe, Kompetenzen und Verfahren der Anwendung von Rechtsnormen auf bestimmte Fälle regeln, sowie die zu diesem Zweck durchzuführenden Prozeduren. Als Durchsetzungssystem schließlich sind
diejenigen Normen und Prozeduren anzusehen, die die Erzwingung des Rechts zum Gegenstand haben.
Die Voraussetzung der Institutionalisierung des Rechts legt die Frage nahe, welche
Teilsysteme oder Strukturen notwendig für das Vorliegen eines Rechtssystems sind.
Dies führt jedoch auf Abgrenzungsprobleme, insbesondere im Fall primitiver Rechtsordnungen oder wenig entwickelter rechtlicher Systeme wie mancher Teile des internationalen Rechts, die möglicherweise nicht über Rechtssetzungsorgane und -verfahren,
über eine institutionalisierte Rechtsanwendung oder formelle Verfahren der Rechtsdurchsetzung verfügen, oder bei denen das Vorliegen solcher Institutionen nicht leicht
127 Damit wird nicht eine "institutionelle Rechtslehre" vertreten, sondern lediglich Institutionalisierung
als ein notwendiges Merkmal des Rechts angenommen. Zu institutionellen Rechtslehren Maurice
Haurious und Carl Schmitts Rowe 2003.
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festzustellen ist. Für die Entwicklung des Prinzipienmodells des Rechts kommt es auf
diese Fragen nicht an.
Es lässt sich allerdings aus dem Verbindlichkeitsanspruch des Rechts als normatives System ableiten, dass es prinzipiell geboten ist, die Anwendung und Befolgung
des Rechts zu gewährleisten. Weil und soweit dies nicht freiwillig geschieht, lässt sich
begründen, dass Rechtssysteme ein Gebot der effektiven Durchsetzung des Rechts und
der Schaffung entsprechender Institutionen mit Befugnis zu auch zwangsweiser Durchsetzung des Rechts enthalten müssen.128
3. Objektivität des Rechts
Objektivität des Rechts bedeutet, dass die rechtliche Geltung einer Norm mehr als nur
ein subjektives normatives Urteil erfordert. Recht enthält normative Regelungen. Individuen können Auffassungen haben, welche Regelungen als Recht gelten oder gelten sollten. Jemand kann etwa der Ansicht sein, niemand dürfe durch seine Meinungsäußerungen die religiösen Gefühle anderer verletzen. Aber eine solche subjektive Auffassung
eines Individuums genügt nicht, die von ihm als Recht angesehene Norm tatsächlich zu
geltendem Recht zu machen. Recht ist nicht eine Privatangelegenheit, auch nicht der
privaten Meinung von Richtern oder anderen Rechtsanwendungsorganen.
Die Unterscheidung von Aussagen über geltendes Recht zu subjektiven normativen
Überzeugungen führt zu der Frage, was erforderlich ist, um Rechtsgeltung in einem objektiven Sinn zu begründen. Es kommen in Betracht
(1) empirisch feststellbare Umstände, wie Gesetzgebungsakte und richterliche Urteile,
(2) objektive Gültigkeit von Normen,
(3) Verbindlichkeit im Sinne objektiv gerechtfertigter Behauptung der Verbindlichkeit
von Normen,
(4) der Richtigkeitsanspruch normativer Urteile.
Rein empirische Fakten genügen allerdings nicht, Rechtsgeltung in einem normativen
Sinn zu begründen. Objektive Gültigkeit im Sinne rationaler Notwendigkeit, d.h. dass
jeder vernünftig Urteilende eine Norm als gültig anerkennen muss, ist in einer Konzeption autonomer Normbegründung nur für wenige, aus Rationalitätsgrundsätzen ableitbare Normen möglich. Selbst die Anerkennung der Autorität des Rechts und der in ihm
etablierten Verfahren der Rechtserzeugung bleibt eine Abwägungsfrage.
Die Begründung der Verbindlichkeit von Normen aufgrund des Kriteriums vernünftiger Konvergenz stellt hingegen eine Variante dar, die möglich erscheint. Voraussetzung ist, dass weitgehend geteilte Rechtsüberzeugungen bestehen, die intersubjektiver Reflektion standhalten. Da vernünftige Konvergenz über die Geltung einer Norm es
ausschließt, dass Alternativnormen verbindliche Geltung beanspruchen können, können
konvergenzgestützte Normen im Bereich des Rechts zwar moralisch kritisiert werden.
Es kann aber keine Alternativnorm als rechtlich gültig begründet werden, und es muss
128 Vgl. die Argumentation in BVerfGE 116, 24 - Rücknahme der Einbürgerung, mit dem Prinzip der
Verteidigung des Rechts.
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akzeptiert werden, dass die Befürworter dieser Norm diese als verbindlich behaupten.129
Vernünftige Konvergenz über Normen eines Rechtssystems begründet in diesem Sinne
deren objektive rechtliche Geltung.
Es wird jedoch Fälle geben, in denen keine vernünftige Konvergenz der Rechtsauffassungen gegeben ist. Dann bleibt lediglich der normative Richtigkeitsanspruch
autonomer Urteile als Differenz zu rein subjektiven Auffassungen. Dieser setzt voraus,
dass das normative Urteil durch rechtlich gültige Prinzipien gefordert ist. Ferner muss
das normative Urteil, insofern es auf allgemeine Verbindlichkeit zielt, das Ergebnis intersubjektiver Reflektion sein. Daraus folgt, dass eine Form von Objektivität gegeben
ist, wenn intersubjektiv reflektierte Urteile aufgrund der Abwägung anerkannter rechtlicher Prinzipien einer Norm definitive Geltung zuschreiben.
Vertritt etwa jemand die Auffassung, die Abwägung von Persönlichkeitsrecht und
Pressefreiheit führe zu einem definitiven Verbot, Fotos von Prominenten ohne deren
Zustimmung zu veröffentlichen, weil kein gewichtiges legitimes Interesse an solchen
Fotoveröffentlichungen bestehe, muss dieses Urteil als durch das vorrangige Grundrecht des Persönlichkeitsschutzes und somit verfassungsrechtlich geboten vertreten
werden, auch wenn es sich lediglich um eine vereinzelte, individuelle Rechtsauffassung handelt.
Es ist allerdings fraglich, ob solche Urteile als Aussagen über geltendes Recht verstanden werden können. Denn als individuelle Rechtsauffassung können sie keine Verbindlichkeit beanspruchen. Die Aussage der rechtlichen Geltung einer Norm müsste aber
diesen Anspruch erheben. Es sind zu unterscheiden:
(1) Rechtliche Urteile, dass eine Norm als geltendes Recht anerkannt werden soll.
(2) Rechtliche Aussagen, dass eine Norm geltendes Recht ist.
Bei beiden geht es um Geltung im normativen Sinn, nicht um Beschreibung des tatsächlich geltenden Rechts. Eine rechtliche Aussage der Geltung einer Norm stellt sich als
Erfüllung der in einem entsprechenden rechtlichen Urteil enthaltenen Forderung dar, die
rechtliche Geltung dieser Norm anzuerkennen. Dennoch ist der Übergang nicht ohne
weiteres möglich, sondern erst dann, wenn der mit der Rechtsgeltung verbundene Anspruch auf Verbindlichkeit gerechtfertigt werden kann.
Andererseits müssen Rechtsanwendungsorgane, wenn keine allgemein anerkannte
Rechtsauffassung besteht, aufgrund einer lediglich individuellen Rechtsauffassung entscheiden. Sie behaupten dann die Rechtsgeltung einer Norm, die nach ihrer Überzeugung geboten, aber nicht bereits unabhängig von ihrem Urteil festzustellen ist. Jedoch
haben sie einerseits die Verpflichtung, andererseits die Kompetenz zu einer solchen
Feststellung im Hinblick auf den von ihnen zu entscheidenden Fall. Rechtsanwendung
kann daher rechtliche Aussagen erfordern, die die sich lediglich auf individuelle normative Rechtsauffassungen stützen.
129 S.o., § 4, IV.
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Als methodische Anforderung folgt aus dem objektiven Charakter des Rechts, dass
rechtliche Urteile sich um objektive Begründung bemühen müssen, zumindest auf ein
rechtlich anerkanntes Prinzip gestützt sein müssen oder auf nicht-positivrechtliche
Gründe, deren Verbindlichkeit objektiv gerechtfertigt werden kann. Die Forderung,
rechtliche Urteile soweit wie möglich objektiv zu begründen und den Rekurs auf bloße
individuelle Überzeugungen zu vermeiden, erfordert die Auseinandersetzung mit der
herrschenden Rechtspraxis, den Lehren der Rechtswissenschaft sowie auch den in der
Gesellschaft vorhandenen Rechtsauffassungen.
Allerdings können die Begründungsanforderungen positivrechtlich geregelt werden. So kann Gerichten die Kompetenz zugewiesen werden, ohne Rücksicht auf andere
im Rechtssystem vertretene Rechtsauffassungen zu entscheiden. Dafür mag es sogar
Gründe geben, da unterstellt werden kann, dass Richter für die Aufgabe der Rechtsprechung am besten qualifiziert sind und eine Orientierung an in der Gesellschaft herrschenden Rechtsvorstellungen eher schädlich wäre. Es ist jedenfalls nicht notwendig der
Fall, dass Gerichte verpflichtet sind, die Rechtsauffassungen anderer Institutionen oder
Personen zu berücksichtigen, geschweige denn, ihnen zu folgen. Auch bei subjektiven
Rechtsüberzeugungen bleibt allerdings als letztes Element von Objektivität der Anspruch, die geltenden Rechtsprinzipien anzuwenden und nach den im konkreten Fall
stärkeren rechtlichen Argumenten zu entscheiden.
4. Autoritativer Charakter des Rechts
Autoritative Begründung der Rechtsgeltung einer Norm erfolgt nicht aufgrund ihrer inhaltlichen Richtigkeit, sondern aufgrund eines Normsetzungsakts.130 Der autoritative
Charakter des Rechts bedeutet, dass zumindest einige Rechtsnormen autoritativ begründet sind. Wäre dies nicht der Fall, bestünde kein Unterschied zwischen dem Rechtssystem und einem System reiner Moral. Andererseits erfordert der autoritative Charakter
des Rechts nicht notwendig, dass sämtliche Rechtsnormen autoritativ begründet sind.
Die autoritative Begründung einer Norm ist von ihrem objektiven Charakter zu
unterscheiden. Es kann eine objektive, aber nicht autoritative Geltungsbegründung geben. Besteht vernünftige Konvergenz über die rechtliche Geltung einer Norm, gilt sie
objektiv. Da die Geltungsbegründung auf die Überzeugung ihrer Richtigkeit gestützt ist,
gilt die betreffende Norm aufgrund ihrer inhaltlichen Richtigkeit. Einwände gegen ihre
Geltung können nur aus inhaltlichen Gründen zurückgewiesen, nicht, wie im Fall autoritativer Geltung, mit dem Verweis auf die Tatsache ihrer autoritativen Anerkennung.
Umgekehrt erlaubt eine autoritative Normbegründung Rechtsetzung aufgrund subjektiver normativer Überzeugungen. Der objektive Charakter des Rechts wird in diesem
Fall durch die Existenz der Kompetenz zur Rechtsetzung begründet. Allerdings unterliegen auch subjektive autoritative Rechtsetzungen der Bedingung, dass sie Legitimität
beanspruchen müssen.
130 Vgl. auch Raz 1986, 35, der Autorität als "inhaltsunabhängigen" Grund bezeichnet.
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5. Legitimitätsanspruch
Legitimität des Rechts setzt voraus, dass seine Anwendung und u.U. zwangsweise
Durchsetzung gerechtfertigt ist,131 also von allen vernünftig Urteilenden zwar nicht
unbedingt für richtig, aber jedenfalls für rechtfertigbar gehalten werden muss. Der
Anspruch des Rechts auf Legitimität besagt dementsprechend, dass der mit der Rechtsgeltung verbundene Verbindlichkeitsanspruch gerechtfertigt ist. Rechtfertigung verlangt, dass es Gründe gibt, die es zumindest erlauben, den Anspruch auf Verbindlichkeit
zu erheben. Diese Gründe müssen die Struktur von normativen Argumenten haben, also
der Struktur nach Geltungsgebote enthalten. Sie sind gegen kollidierende Argumente
abzuwägen. Es ist nicht notwendig, dass für diese Abwägung nur ein einziges Ergebnis
als richtig anzusehen ist. Es genügt, dass der Verbindlichkeitsanspruch verteidigt
werden kann, also vertretbar ist. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Theorie der
Rechtsgeltung. Kriterien der Rechtsgeltung müssen derart sein, dass der mit ihnen
verbundene Verbindlichkeitsanspruch zumindest verteidigt werden kann. Sie müssen
folgende Legitimitätsbedingung erfüllen:
(L) Wenn in einem Rechtssystem RS ein Geltungskriterium CV gilt, dann gilt definitiv,
dass es erlaubt ist, dieses Kriterium in dem Rechtssystem RS anzuwenden.
VALRS (CV) ? VALDEF P APPRS CV.
Es ist nicht notwendig, dass dieser Anspruch auf Verbindlichkeit objektiv gerechtfertigt
ist. Es kann sein, dass Rechtssysteme Verbindlichkeit für Normen beanspruchen, die
tatsächlich nicht befolgt werden sollten. Dennoch ist es ein notwendiges Merkmal von
Rechtssystemen zu beanspruchen, dass die in ihm enthaltenen Normen nicht willkürlich
sind. Wenn vom Standpunkt eines Systems selbst anzunehmen ist, dass kein hinreichender Grund für die Anerkennung der Geltung seiner Normen existiert, kann nicht
ernsthaft ein Verbindlichkeitsanspruch für diese Normen erhoben werden. Ohne Anspruch auf Verbindlichkeit kann ein solches System aber nicht als eine Rechtsordnung
angesehen werden, die darauf zielt, das Zusammenleben einer Gesellschaft zu regeln.
6. Eine Definition des Rechtssystems
Die genannten Bedingungen sind als notwendige Merkmale des Rechts anzusehen.
Zusammen können sie als hinreichend für das Vorliegen eines Rechtssystem angesehen
werden. Es sind keine Fälle von Normensystemen ersichtlich, die diese Merkmale erfüllen, aber nicht als Recht einzuordnen sind, oder zumindest so eingeordnet werden können. Es erscheint demnach folgende Definition adäquat:
131 Vgl. auch Dworkin 1986, 190.
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(DRS) Ein Rechtssystem ist ein institutionalisiertes System von Normen mit dem Anspruch,
das Zusammenleben in einer Gesellschaft verbindlich zu regeln, in dem die Rechtsgeltung von Normen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien und autoritativer
Entscheidungen begründet wird und das Anspruch auf die Legitimität seines Verbindlichkeitsanspruchs erhebt.
Rechtssystemen werden allerdings weitere Merkmale zugeschrieben, die nicht als begriffliche Merkmale behandelt werden sollten. Dazu gehören die Zwangsbewehrtheit
des Rechts132 sowie der Anspruch auf höchste Autorität,133 d.h. Verbindlichkeit des
Rechts auch gegenüber anderen Normenordnungen.
Die Zwangsbewehrtheit des Rechts wird in der Regel damit begründet, dass
zwanglose Rechtssysteme angesichts der menschlichen Eigenschaften nicht funktionieren würden. In der Tat dürften alle bekannten Rechtssysteme zwangsbewehrt sein. Dies
lässt sich jedoch als eine empirische Aussage über Rechtssysteme auffassen und muss
nicht als ein begriffliches Merkmal behandelt werden.
Hinsichtlich des Anspruchs auf höchste Autorität erscheint es nicht zwingend, den
Rechtscharakter von diesem Merkmal abhängig zu machen.134 Es kann Rechtssysteme
geben, die bereit sind, im Konflikt gegenüber anderen Systemen zurückzutreten. Dies
kann etwa im Fall nationaler Rechtssysteme gegenüber dem internationalen Recht gelten. Man wird den Anspruch auf höchste Autorität des Rechts daher nur insofern aufrechterhalten können, dass Rechtssysteme nur gegenüber anderen Rechtssystemen, nicht
gegenüber anderen normativen Systemen, ihren Verbindlichkeitsanspruch zurücknehmen können.
II. Rechtsgeltung
Vom Rechtsbegriff zu unterscheiden ist der Begriff der Rechtsgeltung, und zwar zum
einen im Sinne der Existenz eines Rechtssystems, zum anderen im Sinne der Rechtsgeltung einzelner Normen.
Die Existenz eines Rechtssystems kann deskriptiv oder normativ verstanden werden. Deskriptiv besteht sie in der sozialen Wirksamkeit des Rechts, also in der tatsächlichen Anerkennung, Anwendung, Befolgung und Durchsetzung des Rechts. Diese
Form der empirischen Existenz ist eine Frage des Grades. Das Rechtssystem als ein
System von Normen hat keine direkte Entsprechung in der empirischen Realität. Seine
empirische Existenz ist eine Eigenschaft, die dem Rechtssystem in mehr oder weniger
hohem Grad und in unterschiedlicher Form zukommen kann. Eine Frage des Rechtsbegriffs ist, ob empirische Existenz bereits in den notwendigen Merkmalen des Rechtssystems impliziert ist. Die Merkmale der Institutionalisierung, Objektivität und Autoritativität sowie allgemein der prozedurale Charakter des Rechts können so verstanden
werden, dass sie Handlungen und soziale Tatsachen voraussetzen. Die Definition des
132 Vgl. Raz 1983, 3.
133 Vgl. Raz 1999, 150; 1979, 116ff.
134 So auch Marmor 2001, 39, der dies lediglich als Merkmal modernen staatlichen Rechts ansieht.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.