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tungsgebote begründen, da diese Eigenschaft positiv bewertete Elemente (das Vorliegen
einer Meinungsäußerung) wie negativ bewertete Elemente (der beleidigende Charakter)
enthält. Sie ist daher normativ ambivalent ist und kann nicht ohne weiteres als positiv
bewertet werden.
Ein wichtiges Merkmal von Normkollisionen ist, dass sie nur zwischen Gebotsnormen bestehen können. Eine Erlaubnisnorm - genauer deren Geltung - könnte zwar den
Inhalt der normativen Konsequenz bilden, die von einem Prinzip gefordert ist. Das Prinzip
selbst muss jedoch die Modalität eines Gebots enthalten, da es andernfalls nicht als normatives Argument für ein bestimmtes Abwägungsergebnis angeführt werden könnte. Erlaubnisse fordern hingegen nicht ein bestimmtes Ergebnis, sondern erklären es lediglich für
normativ möglich.
II. Optimierung als Abwägungsziel
Abwägungen unterliegen, wie jede Entscheidung, dem Rationalitätsgebot, die besser begründete Alternative oder allgemeiner, sofern mehrere Alternativen zur Verfügung stehen,
eine bestmögliche Lösung zu wählen.95 Für Abwägungen gilt spezifischer das Gebot, den
Argumenten oder Prinzipien zu folgen, die unter den Umständen des zu entscheidenden
Falles das größere Gewicht haben. Das zentrale Problem der Abwägungsbegründung ist zu
bestimmen, was unter dem Gewicht von Argumenten zu verstehen ist und wie sich auf
dieser Grundlage bestmögliche, d.h. optimale Entscheidungen definieren lassen. Die Antwort darauf ergibt sich aus der Konzeption der Abwägung als Optimierung.96
Die Idee der Optimierung ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden.97 Sie erscheint jedoch als Forderung, die bestmögliche Entscheidung (oder eine der bestmöglichen
Entscheidungen) zu treffen, kaum angreifbar, sondern vielmehr als Leitidee rationaler
Entscheidung überhaupt. Die Kritik an der Optimierungsforderung ist daher unbegründet.
Präzisierungsbedürftig können allerdings Gegenstand und Struktur optimierender Entscheidungen sein.
95 Vgl. auch Broome 1991, 11.
96 Vgl. Hurley 1989, 70; Barry 1990, xxxviii; H. Steiner 1994, 164; Sieckmann 1995; Jansen 1998,
112f.
97 Ein anderer Ansatz fordert nicht Optimierung im Sinne der Maximierung der Realisierung von Zielen,
sondern von hinreichender Annäherung an das Maximum (satisficing); vgl. Slote 1989, 2ff. Slote möchte
mit einem satisficing-Modell eine adäquatere Rekonstruktion der common sense-Moral erreichen. Es ist
jedoch fraglich, ob dieser Ansatz in Gegensatz zum Optimierungsgebot im Prinzipienmodell steht. Dies
setzte voraus, dass ein begründeter Einwand gegen das Prinzipienmodell vorgebracht wird, der nicht im
Prinzipienmodell berücksichtigt werden kann. Es ist nicht gerechtfertigt, bei einer normativen Abwägung ein suboptimales Ergebnis zu wählen, wenn es dafür keinen rechtfertigenden Grund gibt. Gibt
es einen solchen Grund, wäre das Entscheidungsproblem wiederum unter Einschluss dieses Grundes
zu formulieren und damit ein Optimierungsproblem.
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1. Elemente der Optimierung
Die Optimierung muss in zwei Hinsichten erfolgen, den tatsächlichen und den rechtlichen98 oder, allgemeiner, normativen Möglichkeiten.
Die Optimierung relativ auf die tatsächlichen Möglichkeiten wird durch das Kriterium
der Pareto-Optimalität bestimmt. Pareto-optimal ist ein Zustand, wenn es nicht möglich ist,
diesen in einer relevanten Hinsicht (z.B. hinsichtlich der Position eines der Beteiligten) zu
verbessern, ohne ihn in einer anderen Hinsicht (der Position eines anderen Beteiligten) zu
verschlechtern. Auf Prinzipienkollisionen angewandt, lässt dieses Kriterium nur Ergebnisse zu, die nicht hinsichtlich der Erfüllung eines Prinzips verbessert werden können, ohne
die Erfüllung eines anderen Prinzips zu beeinträchtigen.99 Es gewährleistet faktische Optimalität. Die Forderung der Pareto-Optimalität entspricht im Verfassungsrecht dem Kriterium der Erforderlichkeit eines Eingriffs. Die Erforderlichkeit schließt die Geeignetheit des
Eingriffs für die Verwirklichung des Eingriffsziels ein.100
Die Optimierung relativ auf die rechtlichen Möglichkeiten fordert die Realisierung
eines Ergebnisses, das als besser als oder mindestens gleich gut wie andere Abwägungsergebnisse zu bewerten ist. Es geht um normative Optimalität. Die Bewertung von Abwägungsergebnissen ist aufgrund einer Gewichtung der jeweils erreichbaren Erfüllungsgrade
der kollidierenden Prinzipien vorzunehmen. Dies wiederum setzt eine Bestimmung des
relativen Gewichts der kollidierenden Prinzipien zueinander voraus. Das relative Gewicht
ergibt sich aus der Substitutionsrate, die gefordert ist, um einen Verlust an Realisierung des
einen Prinzips durch einen Zugewinn hinsichtlich des kollidierenden Prinzips zu rechtfertigen.
Die Kriterien der optimierenden Abwägung können in ihrem Zusammenhang graphisch dargestellt werden:101
98 Alexy 1985, 75. Alexy verwendet allerdings nicht die hier dargestellte Konzeption der Optimierung.
Tatsächlich gibt er gar kein Kriterium für Optimalität an. Er verwendet zwar Pareto-Optimalitätskriterium und Indifferenzkurven, jedoch ohne einen Zusammenhang zwischen beiden herzustellen.
99 Pareto-Optimalität wird gewöhnlich in Bezug auf die Position verschiedener Beteiligter formuliert: Ein
Zustand ist pareto-optimal, wenn es nicht möglich ist, einen der Beteiligten besser zu stellen, ohne
mindestens einen anderen Beteiligten schlechter zu stellen. Vgl. Barry 1990, 49f. An die Stelle der Position
der Beteiligten tritt hier die Erfüllung von Prinzipien.
100 Vgl. Schlink 1976, 171ff.; Alexy 1985, 100.
101 Vgl. Hurley 1989, 70; H. Steiner 1994, 164; Jansen 1998, 112f.
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Erfüllung
von P1
Z1
Z5
Z2 Z3 Z4
I2
I1
PO
Erfüllung von P2
Die nach außen gekrümmte, konkave Kurve (PO) stellt die tatsächlichen Möglichkeiten für
die Realisierung von P1 und P2 dar. Sie drückt aus, dass, je weiter P2 erfüllt wird, desto
weniger P1 erfüllt werden kann, und umgekehrt. Im Beispiel: Je mehr Meinungsfreiheit für
beleidigende Äußerungen zugelassen wird, je weniger an Persönlichkeitsschutz wird
realisiert. Umgekehrt, je mehr Persönlichkeitsschutz gegenüber beleidigenden Äußerungen
gewährt wird, desto geringer ist das Maß der Meinungsfreiheit.
Die Darstellung der Kurve ist, abgesehen von ihrem fallenden Verlauf, weitgehend
beliebig. Das Schema dient nur der Illustration und bildet keine realen Verhältnisse ab. So
könnten die tatsächlichen Möglichkeiten statt durch eine Kurve auch durch eine Gerade
dargestellt werden. Statt einer durchgezogenen, kontinuierlichen Linie wäre auch eine Darstellung durch einzelne, diskrete Punkte möglich. Letzteres ist allerdings nicht nur eine
Frage der Darstellung, sondern hängt davon ab, welche Zustände tatsächlich realisierbar
sind.
2. Faktische Optimalität
Das Kriterium der Pareto-Optimalität schließt in der Graphik die Lösungen Z2 und Z3 aus.
Z2 wäre nicht geeignet, Z3 nicht erforderlich. Z2 könnte etwa für eine Regelung stehen, die
eine Zwangsabgabe der publizistisch Tätigen zur Finanzierung von Schadenersatzansprü-
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chen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch Meinungsäußerungen vorsehen
würde. Eine solche Regelung würde die Meinungsfreiheit beschränken, ohne Beleidigungen zu verhindern. Z3 könnte etwa eine Regelung repräsentieren, die Äußerungen über im
öffentlichen Leben stehende Personen verbietet. Damit würden zwar jedenfalls ein Teilbereich beleidigender Äußerungen verboten, aber auch solche, die keinen beleidigenden
Charakter haben und deren Verbot daher den Persönlichkeitsschutz nicht fördert. Es gibt
daher eine Alternative (in der Graphik Z5), die die Meinungsfreiheit weniger einschränkt,
aber für die Realisierung des Persönlichkeitsschutzes gleich wirksam ist. Z5 gibt, ebenso
wie die Punkte Z1 und Z4, eine Pareto-optimale Lösung an.
3. Relative Gewichtungen
Relative Gewichte kollidierender Prinzipien werden durch Indifferenzkurven dargestellt, in der Graphik die nach innen gekrümmten, konvexen Kurven (I1, I2). Indifferenzkurven sind Kurven, die als gleich gut bewertete Zustände miteinander verbinden, also
Zustände, zwischen denen der Urteilende indifferent ist. Zustände sind mögliche Abwägungsergebnisse. Sie sind durch Kombinationen der in ihnen realisierten Erfüllungs- oder
Beeinträchtigungsgrade der kollidierenden Prinzipien zu charakterisieren. In einer Indifferenzkurve wird also aufgetragen, welche Grade der Erfüllung (oder Beeinträchtigung) der
kollidierenden Prinzipien als gleich gut bewertet werden. Die Indifferenzkurven geben damit an, welches Maß der Erfüllung des einen Prinzips erforderlich ist, um ein bestimmtes
Maß an Beeinträchtigung des anderen Prinzips zu rechtfertigen. Dabei werden nicht nur
tatsächlich mögliche Kombinationen von Erfüllungsgraden betrachtet, sondern vorstellbare
Kombinationen. Z.B. kann ein hoher Grad der Erfüllung des Prinzips der Meinungsfreiheit
bei einem geringen Grad der Realisierung des Ehrschutzes, ein niedriger Erfüllungsgrad
der Meinungsfreiheit bei einem hohen Erfüllungsgrad des Ehrschutzes oder ein mittlerer
Erfüllungsgrad für beide Prinzipien für gleich gut gehalten werden.
Tatsächlich muss jeder vernünftig Urteilende derartige Austauschverhältnisse zwischen den kollidierenden Gütern festlegen. Es hängt von seinem autonomen Urteil ab, welche Zustände er als gleich gut bewertet. Notwendig ist allerdings, dass die Indifferenzkurven einen fallenden Verlauf haben. Wäre dies nicht der Fall, würde eine Einbuße an
einem Gut ohne eine Kompensation und damit ohne eine Rechtfertigung hingenommen.
Dies wäre jedoch damit unvereinbar, dass die Realisierung der fraglichen Güter prinzipiell
geboten ist und daher nicht beliebig ist.
Da verschiedene Abwägungsergebnisse unterschiedlich bewertet werden, lassen sich
verschiedene Indifferenzkurven bilden. Es wird mehrere übereinanderliegende (parallel
verlaufende) Indifferenzkurven geben, je nach dem, welcher Grad an Erfüllung der betreffenden Prinzipien betrachtet wird. Es kann nach den zugrunde gelegten tatsächlichen
Gegebenheiten möglich sein, dass die kollidierenden Prinzipien in einem relativ hohen
Maß erfüllt werden. Es kann aber auch angenommen werden, dass sie jeweils nur in geringem Grad erfüllbar sind. Für unterschiedliche Rahmenbedingungen ergeben sich so unterschiedliche Indifferenzkurven. Diese stellen jeweils die normativen Möglichkeiten relativ
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auf die vorausgesetzten tatsächlichen Umstände dar. Je höher eine Indifferenzkurve liegt,
desto besser werden die durch sie repräsentierten Zustände bewertet.
Der Verlauf einer Indifferenzkurve (genauer die Steigung an der jeweiligen Stelle der
Kurve) gibt das relative Gewicht der kollidierenden Prinzipien zueinander an. Das relative
Gewicht der Prinzipien gibt an, welcher Grad an Erfüllung des einen Prinzips erforderlich
ist, um einen bestimmten Grad an Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des kollidierenden
Prinzips zu rechtfertigen.
Allerdings ist zu beachten, dass die Darstellung der Indifferenzkurven, wie die der
Pareto-optimalen Zustände, willkürlich gewählt ist, abgesehen von ihrer negativen Steigung, d.h. ihrem Verlauf von links oben nach rechts unten, und ihrem parallelen Verlauf, d.h. verschiedene Indifferenzkurven berühren oder schneiden sich nicht. Die graphische Darstellung hat also keinerlei Aussagegehalt über das tatsächliche relative
Gewicht kollidierender Prinzipien. Dieses bedarf vielmehr einer unabhängigen Begründung. Zudem wird der Einfachheit halber unterstellt, dass beliebige Abwägungsergebnisse möglich sind, insbesondere die Erfüllung von Prinzipien beliebig graduierbar ist.
Reale Abwägungsergebnisse sind hingegen häufig derart, dass nur bestimmte Abwägungsergebnisse möglich sind, die als einzelne, diskrete Punkte in das Schema einzutragen wären.
Aus dem relativen Gewicht eines Prinzips und dem Maß seiner Realisierung in
Folge einer bestimmten Entscheidung ergibt sich das Gewicht dieses Prinzips im konkreten Fall. Dieses kann auch als sein konkretes relatives Gewicht oder die Wichtigkeit
seiner Erfüllung im konkreten Fall bezeichnet werden.
4. Normative Optimalität
Mit Hilfe der Kurve Pareto-optimaler Zustände und der Indifferenzkurven lässt sich erläutern, was eine optimale Lösung eines Abwägungsproblems ist.102 Optimale Lösungen
sind genau diejenigen Punkte, in denen sich die Kurve Pareto-optimaler Zustände mit
der am höchsten liegenden und tatsächlich erreichbaren Indifferenzkurve (I1) berührt.
Beide Kurven haben in diesem Punkt oder Bereich die gleiche Steigung. Der Punkt, in
dem sich in der Graphik die beiden Kurven berühren, ist der Punkt Z4. Die Punkte höher
liegender Indifferenzkurven sind tatsächlich nicht realisierbar. Zu den durch tiefer
liegende Indifferenzkurven angegebenen Ergebnisse gibt es (mindestens) eine bessere
und zugleich realisierbare Alternative auf einer höher liegenden Indifferenzkurve. So
sind Z1 und Z5 zwar Pareto-optimal, werden aber als schlechter bewertet als Z4. Damit
ist Z4 optimal.
Optimale Ergebnisse sind demnach dadurch gekennzeichnet, dass das Verhältnis
von tatsächlich realisierbarem Zugewinn für ein Prinzip zu dem Verlust an Erfüllung
des kollidierenden Prinzips gleich dem Verhältnis ist, das nach der durch die maßgebliche Indifferenzkurve ausgedrückten Gewichtung der kollidierenden Prinzipien gefordert
102 Zu beachten ist, dass das hier dargestellte Modell der Optimierung sich von Alexys Konzeption der
Abwägung unterscheidet und mit seiner "Gewichtsformel" nicht vereinbar ist. Dazu s.u., § 7, III. 3.
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ist. Letztere gibt das relative Gewicht der kollidierenden Prinzipien P1 und P2 an. Es soll
als WR(P1,P2) notiert werden. Das relative Gewicht eines Prinzips P1 im Verhältnis zu
einem kollidierenden Prinzip P2 ergibt sich aus dem Maß des Zugewinns in der Erfüllung von P2, das notwendig ist, um ein bestimmtes Maß an Beeinträchtigung von P1 zu
rechtfertigen. Dieses Verhältnis wird dargestellt durch den Verlauf der Indifferenzkurve. Je stärker die Kurve fällt, desto geringer das relative Gewicht von P1 zu P2, je
flacher sie verläuft, desto höher das relative Gewicht von P1 zu P2. Wird dies durch Zahlenwerte ausgedrückt, ergibt sich das relative Gewicht von P1 zu P2 aus der Negation
des reziproken Werts der Steigung STI,FF der betreffenden Indifferenzkurve I in einem
bestimmten, den Grad der Erfüllung (fulfilment) der Prinzipien markierenden Punkt FF,
ist also -1/STI,FF. Das relative Gewicht von P2 zu P1 ist der reziproke Wert, also -STI,FF.
Optimalität von Abwägungsergebnissen lässt sich in verschiedener Weise definieren:
(DOP1) Optimal ist ein Abwägungsergebnis, wenn das mit ihm realisierte Verhältnis der
Grade der Erfüllung der kollidierenden Prinzipien gleich dem gemäß dem relativen
Gewicht der Prinzipien geforderten Verhältnis der Erfüllungsgrade ist.
Eine andere Definition knüpft an das konkrete Gewicht der kollidierenden Prinzipien
an:
(DOP2) Optimal ist ein Abwägungsergebnis, wenn die kollidierenden Prinzipien in Bezug auf
dieses Ergebnis das gleiche konkrete relative Gewicht haben.
Neben der Definition von Optimalität kann auch angegeben werden, was unter einem
Gebot der Optimierung zu verstehen ist. Dies kann zum einen absolut, zum anderen
relativ auf bestimmte zur Entscheidung stehende Alternativen verstanden werden. Ein
Gebot der Optimierung im absoluten Sinn fordert die Realisierung eines optimalen Abwägungsergebnisses. Dies kann als optimierende Abwägung bezeichnet werden. Ein
Gebot der Optimierung im relativen Sinn fordert die Wahl der besseren (oder besten)
der zur Entscheidung stehenden Alternativen. Dies ist diejenige, für die das Prinzip mit
dem größeren relativen Gewicht im konkreten Fall spricht. Diese Forderung gilt für
komparative Abwägungen.103
Die Darstellung von Abwägungsproblemen mittels Pareto-Optimalitäts- und Indifferenzkurven und die daraus folgende Definition optimaler Abwägungsergebnisse dient
dazu, die für Abwägungen notwendigen gedanklichen Operationen zu verdeutlichen und
gewisse strukturelle Zusammenhänge und Einschränkungen darzustellen. Abwägungsprobleme lassen sich allerdings nicht immer in dieser Weise darstellen. Eine zahlenmäßige Bestimmung eines relativen Gewichts der Prinzipien, wie sie nach dem graphischen Modell möglich wäre, hat bei realen Abwägungsproblemen häufig keinen Sinn.
Dennoch wird deutlich, welche Faktoren für die Begründung eines Abwägungsurteils
103 Zur Entscheidung optimierender und komparativer Abwägung s.u., IV. 3.
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relevant sind. Für die Bestimmung, ob ein Resultat optimal ist, kommt es auf zwei Parameter an, das relative Gewicht der kollidierenden Prinzipien und den Grad der Erfüllung
der kollidierenden Prinzipien bei den zu bewertenden Entscheidungsalternativen. Diese
bestimmen die relevanten Abwägungskriterien.
III. Abwägungskriterien
Der Vorrang zwischen kollidierenden Prinzipien wird danach bestimmt, welches Prinzip das größere Gewicht im konkreten Fall hat. Unter Gewicht ist das relative Gewicht
der Prinzipien zu verstehen, das sich, wie oben dargestellt, daraus ergibt, wie viel an
Realisierung des einen Prinzips zugunsten eines bestimmten Maßes der Realisierung
des anderen Prinzips aufgegeben werden soll oder, anders formuliert, wie viel Zugewinn in der Erfüllung des einen Prinzips notwendig ist, um ein bestimmtes Maß der Beeinträchtigung des anderen Prinzips zu rechtfertigen.
1. Erfüllungs- und Beeinträchtigungsgrade
Der Erfüllungsgrad gibt an, in welchem Grad ein Abwägungsergebnis zur Erfüllung dieses
Prinzips beiträgt. Abwägungsergebnis ist die Geltung einer bestimmten Norm oder eine
bestimmte Entscheidung. Der Beeinträchtigungsgrad ist umgekehrt der Grad, in dem das
Abwägungsergebnis zur Nichterfüllung des Prinzips führt. Wichtig ist, dass es sich um
eine zweistellige Relation handelt: der Erfüllungs- oder Beeinträchtigungsgrad ist ein Wert
für die Realisierung eines Prinzips durch eine bestimmte Maßnahme. Dies kann als
(1) FF(Pi,N)
notiert werden. Alternativ könnte der Erfüllungsgrad punktuell verstanden werden, als
Maß der Erfüllung eines Prinzips FF(Pi). Bei der Abwägung geht es jedoch um die Beurteilung bestimmter Maßnahmen, die die Realisierung eines Prinzips fördern oder beeinträchtigen. Dies lässt sich nicht durch die Angabe des Grades der Erfüllung eines Prinzips
angeben, sondern nur als Differenz in der Erfüllung eines Prinzips als Folge einer Entscheidung oder Maßnahme.
Die Bestimmung des (relativen) Erfüllungsgrads kann in zwei Weisen erfolgen: durch
Vergleich des durch eine Maßnahme realisierten Maßes der Erfüllung zu einer vollständigen Erfüllung eines Prinzips oder durch Vergleich der Erfüllungsgrade, die verschiedene
Maßnahmen erreichen.
Ersteres ist bei Prinzipien mit quantifizierbaren und begrenzten Inhalten möglich.
Sieht man z.B. Steuern auf Vermögen oder Einkommen als Eingriff in das Eigentum an,
lässt sich der Grad der Beeinträchtigung und damit - umgekehrt - der der Erfüllung des
Prinzips des Eigentumsschutzes für die betreffenden Eigentumsrechte entsprechend dem
Prozentsatz der Besteuerung angeben. Schwierig ist es allerdings, eine solche Bewertung
für das Prinzip des Eigentumsschutzes insgesamt vorzunehmen. Weitere Probleme stellen
sich, wenn der Inhalt des Prinzips nicht quantifizierbar ist, wie etwa bei Freiheitsrechten
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.