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§ 3 Die Struktur der Abwägung
Abwägungen sind Begründungsverfahren, in denen aufgrund kollidierender Argumente
eine Entscheidung getroffen wird. Bei normativen Abwägungen geht es um die Begründung der definitiven Geltung einer Norm aufgrund kollidierender normativer Argumente.
Elemente der Abwägung sind die abzuwägenden normativen Argumente, die Kollision
zwischen diesen, die Bestimmung einer Vorrangrelation zwischen ihnen hinsichtlich der
Umstände des vorliegenden Falls und das festgesetzte Abwägungsergebnis.
Im Beispiel der Kollision von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz geht es um
folgende Elemente der Abwägung:
- Das Prinzip Meinungsfreiheit (P1): Jeder soll das Recht haben, seine Meinung zu
äußern.
- Das Prinzip des Persönlichkeitsschutzes (P2): Jeder soll gegen Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Ehre geschützt werden.
- Die Kollision beider Prinzipien im Fall beleidigender Meinungsäußerungen:
P1 fordert die Erlaubtheit beleidigender Meinungsäußerungen.
P2 fordert ein Verbot von Beleidigungen.
P1 und P2 sind im Fall beleidigender Meinungsäußerungen nicht zugleich erfüllbar.
Werden beleidigende Äußerungen zugelassen, ist der Persönlichkeitsschutz beeinträchtigt, werden sie verboten, ist die Meinungsfreiheit beeinträchtigt. Es ist also zu
bestimmen, welchem Prinzip unter den Umständen des Kollisionsfalls Vorrang gebührt. Diese Vorrangfestsetzung kann z.B. zu folgender Vorrangregel führen:
- P1 erhält Vorrang vor P2 im Fall von Meinungsäußerungen, die aus sachlichem
Anlass in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage gemacht werden.
Generelles Kriterium für die Bestimmung des Vorrangs ist, dass dasjenige Prinzip Vorrang
erhalten soll, das unter den Umständen des zu entscheidenden Falles das größere Gewicht
hat. Allerdings ist das Gewicht kein natürliches, deskriptiv zu bestimmendes Merkmal,
sondern das Gewicht ergibt sich aus der Abwägung der kollidierenden Prinzipien.
Das Grundproblem der Abwägung ist, ob und wie dieses Verfahren als eine Methode
rationaler Begründung verstanden werden kann.91 Gibt es keine Kriterien, nach denen sich
das Abwägungsproblem entscheiden lässt, ist fraglich, ob Abwägungsurteile rational begründet sein können oder lediglich willkürliche, unbegründete Festsetzungen darstellen.
Gibt es aber Kriterien, aus denen ein Ergebnis ableitbar ist, erscheint eine Abwägung überflüssig. Die Rede von einer Abwägung verschiedener Argumente hätte keine Begründungsfunktion, sondern könnte lediglich einen Überlegungsprozess desjenigen beschreiben, der die Ableitung vornimmt.
91 Eine Kritik der Abwägung findet sich etwa bei Böckenförde 2003, 164, 190; Ladeur 2004; Leisner
1997. Dazu Borowski 2007, 120 m.w.N. Ein gravierender Mangel der Kritik ist, dass sie die Entwicklung der Konzeption der Abwägung der letzten Jahre nicht zur Kenntnis nimmt.
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Den Ansatz zur Lösung dieses Dilemmas bietet die Konzeption normativer Argumente. Diese muss allerdings ergänzt werden durch Abwägungskriterien, die erlauben,
korrekte von falschen Abwägungen zu unterscheiden. Im folgenden sollen die Relationen
zwischen den genannten Elementen der Abwägung und die Möglichkeiten der Begründung und Kritik von Abwägungsurteilen untersucht werden.
I. Das Grundschema der Abwägung
Die Grundstruktur der Abwägung normativer Argumente lässt sich mit einem Schema veranschaulichen. Die Argumentationsschritte, die in einer korrekten Abwägung vorzunehmen sind, werden durch Pfeile dargestellt.
Normative Argumente:
PRINZIP P1: PRINZIP P2:
|VALARG N1 |VALARG N2
...OVALDEF N1 ...OVALDEF N2
? ?
Op O?p
Abwägungsprozedur
\________ ________/
\/
Normative Aussagen:
|PRIOR (P1,P2)C,Op
?
|VALDEF (C ? Op)
?
|O VALDEF (C ? Op)
?
|O PRIOR (P1,P2)C,Op
Dabei bedeuten
O... : ein Gebot "Es ist geboten, dass ..." oder "... soll sein".
VALDEF ...: ein Prädikat "... gilt definitiv".
Ni : Individuenkonstante für eine Norm.
C ? Op: Inhalt einer bedingten Norm (Wenn C, dann Op)
Op : kategorische Norm
C : eine Proposition
? : Negation "nicht"
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PRIOR(P1,P2): P1 hat Vorrang vor P2.
Op ist demnach das Gebot eines Sachverhalts p, OVALDEFN ein Gebot der definitiven
Geltung einer Norm N.
| : Operator für Verwendung eines Satzes als Aussage (Sprechakt der Behauptung)
... : Operator für Verwendung eines Satzes als normatives Argument.
Im Zentrum der Abwägung steht die Kollision normativer Argumente. Sie stellt einen Fall
eines Normkonflikts dar, d.h. der gleichzeitigen Geltung normativer Forderungen, die nicht
zugleich erfüllt werden können (im Schema die Forderungen Op und O?p). Der Konflikt
entsteht in einer bestimmten Situation,92 in der beide Forderungen anwendbar sind, aber zu
unvereinbaren Ergebnissen führen.
Die Kollision normativer Argumente unterscheidet sich von einem Konflikt definitiver Normen sowie einem Widerspruch zwischen normativen Aussagen darin, dass kollidierende normative Argumente trotz der Kollision zugleich gelten; ihre Geltung ist Voraussetzung der Kollision. Unvereinbare definitive Normen können demgegenüber nicht
zugleich gelten, widersprüchliche normative Aussagen nicht zugleich zutreffen.
Über die Kollisionsfähigkeit hinaus ist wichtig, dass normative Argumente in der
Situation des Konflikts mit anderen Argumenten Gründe für ein bestimmtes Abwägungsergebnis darstellen.93 Dies ist wichtig, um Abwägungen als Begründungsverfahren rekonstruieren zu können. Die kollidierenden Argumente müssen in der Situation des Konflikts
die Fähigkeit behalten, bestimmte Abwägungsergebnisse begründen zu können. Ohne
diese Eigenschaft wären sie für die Begründung des Ergebnisses irrelevant, die Begründung müsste folglich auf andere Argumente zurückgreifen und die Methode der Abwägung wäre bloße Dekoration für eine aus anderen Gründe zu rechtfertigende Entscheidung.
Normative Argumente haben hingegen die Eigenschaft, in der Situation des Konflikts als
Argumente für eine bestimmte Lösung fungieren zu können. Aus der Struktur von normativen Argumenten als reiterierten Geltungsgeboten ergibt sich, dass die Kollision zwischen den Normen, deren Geltung geboten ist, sowie den prinzipiellen Geltungsgeboten
erster und höherer Stufe besteht. Jedes dieser Geltungsgebote fordert die Wahl eines bestimmten Abwägungsergebnisses und stellt somit einen Grund für dieses Ergebnis dar.
Eine Kollision normativer Argumente besteht in der Regel nicht hinsichtlich der in
ihnen enthaltenen Forderungen insgesamt, sondern in Bezug auf bestimmte Folgerungen
aus ihnen. Es ist zwar möglich, dass ein Prinzip in vollem Umfang mit einem anderen
kollidiert, z.B. das Prinzip des Schutzes vor sittenwidrigen Vertragsklauseln mit dem der
Vertragsfreiheit, oder die Forderung, grundrechtliche Prinzipien gegenüber Privaten anzuwenden, mit deren Handlungsfreiheit. In solchen Fälle ließen sich aber übergeordnete Prinzipien finden, etwa das der guten Sitten, das nur in einem partiellen Konflikt mit dem der
Vertragsfreiheit stünde, oder das des universellen Grundrechtsschutzes, das nur in einem
Teilbereich, hinsichtlich der Anwendung gegenüber Privatpersonen, mit dem Prinzip der
92 Vgl. auch Atienza 2006, 171.
93 Für die Rekonstruktion von Abwägungsbegründungen genügt es daher nicht, die logische Möglichkeit von Normkollisionen zu zeigen, was z.B. für prima facie-Normen oder aufgrund der Verwendung
einer nicht-monotonen Logik möglich wäre.
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Handlungsfreiheit kollidiert. Sogar eine beidseitig vollständige Kollision wäre denkbar,
d.h. derselbe Norminhalt wird sowohl als prinzipiell geboten als auch als prinzipiell verboten bewertet. Dies wäre möglich, wenn gegensätzliche Interessen hinsichtlich dieses
Norminhalts bestünden. Wiederum könnten aber übergeordnete Prinzipien angeführt werden, so dass sich die Kollision nur als eine partielle darstellt. Umgekehrt lassen sich allerdings auch die in Konflikt stehenden Forderungen so konkret formulieren, dass sich ein
vollständiger Konflikt ergibt.94 Die Begründung dieser Forderungen würde jedoch wiederum aus generellen Forderungen folgen, die nur in partiellem Konflikt stehen. Der Standardfall von Abwägungen ist daher, dass normative Argumente in Bezug auf einzelne
normative Konsequenzen kollidieren.
Die kollidierenden normativen Argumente müssen somit eine Folgerungsbeziehung
hinsichtlich einer konkreten Konsequenz (Op oder O?p) einschließen. Solche normativen
Argumente sollen als relationale normative Argumente bezeichnet werden und von Prinzipien als elementaren normativen Argumenten unterschieden werden. Sie sollen notiert
werden in der Form
(1) ...O VALDEF(P1)Op,
oder, als explizite Geltungsaussage, dass P1 ein normatives Argument für Op ist,
(2) VALARG(P1)Op.
Ein abgeleitetes normatives Argument unmittelbar für die Anerkennung der normativen
Konsequenz hat hingegen die Struktur
(3) ...O VALDEFOp,
eine entsprechende Geltungsaussage
(4) VALARGOp.
Abgeleitete normative Argumente werden ebenfalls durch eine Reiteration von Geltungsgeboten gestützt. Soweit ein normatives Argument lediglich als abgeleitetes begründet
werden kann, fehlt ihm jedoch die intrinsische Gültigkeit als Argument. D.h. die Reiteration lässt sich nicht in Bezug auf den Norminhalt des abgeleiteten Arguments selbst
begründen. So lässt sich aus dem Prinzip der Meinungsfreiheit als abgeleitetes normatives
Argument begründen, dass beleidigende Meinungsäußerungen erlaubt sein sollten. Mit der
Eigenschaft, eine beleidigende Meinungsäußerung zu sein, lassen sich jedoch keine Gel-
94 Rubel 1982, 92, fordert - im Sinne eines Rationalitätsgebots - sogar die möglichst konkrete Formulierung der in Konflikt stehenen Teilprinzipien. Dagegen spricht jedoch, dass verschiedene Formulierungsmöglichkeiten eine Grundlage für Kohärenzargumente bieten. Zutreffend ist demnach, dass
eine Abwägung auch in Bezug auf konkret formulierte Teilprinzipien durchgeführt werden sollte.
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tungsgebote begründen, da diese Eigenschaft positiv bewertete Elemente (das Vorliegen
einer Meinungsäußerung) wie negativ bewertete Elemente (der beleidigende Charakter)
enthält. Sie ist daher normativ ambivalent ist und kann nicht ohne weiteres als positiv
bewertet werden.
Ein wichtiges Merkmal von Normkollisionen ist, dass sie nur zwischen Gebotsnormen bestehen können. Eine Erlaubnisnorm - genauer deren Geltung - könnte zwar den
Inhalt der normativen Konsequenz bilden, die von einem Prinzip gefordert ist. Das Prinzip
selbst muss jedoch die Modalität eines Gebots enthalten, da es andernfalls nicht als normatives Argument für ein bestimmtes Abwägungsergebnis angeführt werden könnte. Erlaubnisse fordern hingegen nicht ein bestimmtes Ergebnis, sondern erklären es lediglich für
normativ möglich.
II. Optimierung als Abwägungsziel
Abwägungen unterliegen, wie jede Entscheidung, dem Rationalitätsgebot, die besser begründete Alternative oder allgemeiner, sofern mehrere Alternativen zur Verfügung stehen,
eine bestmögliche Lösung zu wählen.95 Für Abwägungen gilt spezifischer das Gebot, den
Argumenten oder Prinzipien zu folgen, die unter den Umständen des zu entscheidenden
Falles das größere Gewicht haben. Das zentrale Problem der Abwägungsbegründung ist zu
bestimmen, was unter dem Gewicht von Argumenten zu verstehen ist und wie sich auf
dieser Grundlage bestmögliche, d.h. optimale Entscheidungen definieren lassen. Die Antwort darauf ergibt sich aus der Konzeption der Abwägung als Optimierung.96
Die Idee der Optimierung ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden.97 Sie erscheint jedoch als Forderung, die bestmögliche Entscheidung (oder eine der bestmöglichen
Entscheidungen) zu treffen, kaum angreifbar, sondern vielmehr als Leitidee rationaler
Entscheidung überhaupt. Die Kritik an der Optimierungsforderung ist daher unbegründet.
Präzisierungsbedürftig können allerdings Gegenstand und Struktur optimierender Entscheidungen sein.
95 Vgl. auch Broome 1991, 11.
96 Vgl. Hurley 1989, 70; Barry 1990, xxxviii; H. Steiner 1994, 164; Sieckmann 1995; Jansen 1998,
112f.
97 Ein anderer Ansatz fordert nicht Optimierung im Sinne der Maximierung der Realisierung von Zielen,
sondern von hinreichender Annäherung an das Maximum (satisficing); vgl. Slote 1989, 2ff. Slote möchte
mit einem satisficing-Modell eine adäquatere Rekonstruktion der common sense-Moral erreichen. Es ist
jedoch fraglich, ob dieser Ansatz in Gegensatz zum Optimierungsgebot im Prinzipienmodell steht. Dies
setzte voraus, dass ein begründeter Einwand gegen das Prinzipienmodell vorgebracht wird, der nicht im
Prinzipienmodell berücksichtigt werden kann. Es ist nicht gerechtfertigt, bei einer normativen Abwägung ein suboptimales Ergebnis zu wählen, wenn es dafür keinen rechtfertigenden Grund gibt. Gibt
es einen solchen Grund, wäre das Entscheidungsproblem wiederum unter Einschluss dieses Grundes
zu formulieren und damit ein Optimierungsproblem.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.