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Die Begründungsrelation zwischen normativen Argumenten und Abwägungsurteilen hat somit normativen Charakter. Sie besteht darin, dass ein bestimmtes Ergebnis
aufgrund des in der Abwägung vorrangigen Arguments geboten ist. Es handelt sich um
Gründe der Form, etwas tun zu sollen, nämlich die Geltung einer Norm anzuerkennen.
Ein Gebot einer Handlung stellt einen Grund für deren Vollzug dar. In Abwägungen
geht es um Gebote, eine bestimmte Norm als Abwägungsergebnis und damit als definitiv gültig anzuerkennen. Dementsprechend ergibt sich folgende Definition:
(DGA) Gründe für Abwägungsurteile sind Gebote der Anerkennung einer bestimmten Norm
als definitiv gültig.
Diese Art normativer Gründe erscheint in besonderer Weise adäquat für eine prozedurale Konzeption der Normbegründung, wie sie das Abwägungsmodell darstellt. Denn
prozedurale Normbegründung besteht aus einer Sequenz von Handlungen innerhalb einer Argumentation, und Gebote stellen Gründe für Handlungen dar. Logische Folgerungen sind hingegen jedenfalls nicht unmittelbar Gründe für Handlungen. Sie können
keine Orientierung für das Abwägungsurteil geben.
Ohne ein entsprechendes Geltungsgebot ließe sich somit das Vorrangurteil nicht als
aufgrund einer Abwägung begründet darstellen. Das Abwägungsurteil würde vielmehr
als beliebige, nicht normativ gebundene Festsetzung erscheinen, oder es müssten von
den kollidierenden Prinzipien unabhängige Gründe für dieses Urteil angeführt werden,
so dass die Abwägung selbst keine Begründungsfunktion hätte.
II. Die nicht-propositionale Struktur normativer Argumente
Eine weitere These ist, dass Gründe für Abwägungen keine propositionale Struktur aufweisen können.62 Sie können also nicht in der Form: "Es ist der Fall, dass X geboten ist."
formuliert werden und nicht beanspruchen, eine normative Tatsache auszudrücken. Ein
Argument dafür wurde bereits erwähnt: vor der Festsetzung eines Abwägungsergebnisses
steht nicht fest, welche Norm definitiv gilt. Daher lässt sich innerhalb einer Abwägung
keine Aussage über das Abwägungsergebnis treffen. Ein zweiter Grund ist, dass ein
Konflikt von normativen Aussagen einen logischen Widerspruch darstellen würde.
1. Das Postulat der Widerspruchsfreiheit normativer Aussagen
Sollen Abwägungen Verfahren rationaler Normbegründung darstellen, dürfen sie nicht zu
logischen Widersprüchen führen. Dies wäre jedoch der Fall, wenn die abzuwägenden Argumente die Form normativer Aussagen hätten. Das Problem der Kollision von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht wäre in Form normativer Aussagen wie folgt darzustellen:
62 Dies übersieht Zoglauer 1998, 146ff., in seiner Kritik der Konzeption reiterierter Geltungsgebote.
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(1) A hat das Recht, seine Meinung zu äußern.
Diese normative Aussage impliziert z.B., falls A der Meinung ist, dass B ein Idiot ist,
die Aussage
(2) A hat das Recht zu sagen, dass B ein Idiot ist.
Auf der anderen Seite impliziert eine Aussage:
(3) B hat das Recht, nicht in seiner persönlichen Ehre verletzt zu werden,
die weitere Aussage:
(4) B hat das Recht, nicht als Idiot bezeichnet zu werden.
Daraus folgt:
(5) A hat nicht das Recht zu sagen, dass B ein Idiot ist.
Es liegt ein Widerspruch zwischen den Aussagen (2) und (5) vor. In einem rationalen
Normensystem ist ein solcher Widerspruch nicht akzeptabel, dies jedenfalls deshalb, weil
ein widersprüchliches Normensystem seine handlungsleitende Funktion nicht erfüllt. Die
handlungsleitende Funktion von Normen verlangt, dass definitiv feststeht, welche Gebote,
Verbote oder Erlaubnisse gelten. Normative Aussagen geben an, welche Normen definitiv
gelten. Sie drücken normative Tatsachen aus. Ein Widerspruch zwischen ihnen muss wegen der Forderung der Widerspruchsfreiheit ebenso vermieden werden wie im Bereich
nicht-normativer Aussagen.
Das Problem der Konstruktion von Abwägungen lässt sich allerdings nicht durch eine
Normtheorie lösen, die Normen als Imperative oder Präskriptionen ansieht.63 Solche Theorien unterscheiden zwar Normsätze von Aussagesätzen.64 Für Imperative oder Präskriptionen gelten jedoch ähnliche Kompatibilitätsforderungen wie für normative Aussagen.
Kollisionen zwischen ihnen können in einem rationalen Normensystem nicht zugelassen
werden, da sie nicht lediglich argumentative Funktion, sondern unmittelbar handlungsleitende Funktion haben. Es muss für sie also wiederum Widerspruchsfreiheit gefordert werden. Sie sind damit nicht abwägungsfähig.
2. Konstruktionen abwägungsfähiger Argumente mit propositionaler Struktur
Im Gegensatz zur Konzeption normativer Argumente mit nicht-propositionaler Struktur
stehen Ansätze zur Konstruktion von Normkonflikten und Abwägungen, die die propositionale Struktur der abzuwägenden Argumente nicht in Frage stellen. Solche Konzeptionen setzen an Geltungsweise, Inhalt oder den anzuwendenden logischen Regeln an,
oder versuchen, die Abwägungsfähigkeit von Prinzipien mittels prozeduraler, die Abwägung leitender Normen zweiter Stufe zu konstruieren. Diese Ansätze können jedoch
den Charakter von Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile nicht erklären. Dies
wurde bereits für die Konzeption von Prinzipien als Optimierungsgebote65 dargelegt.
Aber auch andere propositionale Ansätze leiden daran, dass sie, um die Kollisions- und
63 Vgl. z.B. Weinberger 1989, 55; Hare 1952.
64 Zur Unterscheidung deskriptiver und präskriptiver Interpretationen von Normsätzen v. Wright 1963;
Stuhlmann-Laeisz 1983; Kamp 2001.
65 S.o., § 1, I.
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Abwägungsfähigkeit von Normen konstruieren zu können, deren Geltungsanspruch
oder normativen Gehalt so weit abschwächen, dass sie nicht mehr als Grund für ein
Abwägungsurteil taugen.
2.1. Prima facie-Normen und pro tanto-Normen
Eine Reihe von Autoren charakterisiert Prinzipien als prima facie-Normen, im Gegensatz zu Normen mit strikter Geltung.66 Es gibt allerdings verschiedene Interpretationen
des prima facie-Charakters von Normen.67 So kann an die Art der Begründung oder aber
an die tatsächliche Geltung im Sinne der definitiven Anwendbarkeit einer Norm in
ihrem semantischen Anwendungsbereich angeknüpft werden.
In ersterem Sinne kann unter prima facie-Geltung verstanden werden, dass bei der
Begründung einer Norm nur eine Teilklasse der relevanten Umstände berücksichtigt
worden ist. Dies kann einer rein prozeduralen Interpretation zufolge der Fall sein, weil
eine Begründungsprozedur wieder aufgenommen werden kann und nicht endgültig ist.
Es sind demnach endgültige und nicht endgültige Abwägungsurteile zu unterscheiden.
Diese Unterscheidung bleibt jedoch auf der Ebene der Abwägungsergebnisse und
erklärt nicht den Charakter von Gründen für Abwägungen.
Eine nicht rein prozedurale Variante stellt darauf ab, dass in der Begründung einer
prima facie-Norm nicht alle relevanten Aspekte berücksichtigt worden seien, sondern
nur die typischen oder regelmäßigen Umstände des Falls. Eine prima facie-Norm ist
demnach nur in Normalfällen begründet, ihre Geltung kann aber bei Vorliegen besonderer Umstände ausgeschlossen sein. Auch diese Unterscheidung betrifft jedoch nur das
Abwägungsergebnis und den Charakter der Begründung, nicht die Struktur der Gründe
für Abwägungen.
Prima facie-Geltung kann ferner im Hinblick auf die tatsächliche Geltung einer
Norm, d.h. ihre Anwendbarkeit in konkreten Fällen, definiert werden. In diesem Sinne
gilt eine Norm "Wenn C, dann R" prima facie, wenn ihre Rechtsfolge (ihre Konsequenz) R in der Regel gilt, sofern ihre Anwendungsbedingungen C gegeben sind.68
Jedoch erscheint diese Definition unbefriedigend. Denn aus einer bloßen prima facie-
Geltung einer Norm folgt nicht, dass sie in einem bestimmten Fall, auf den sie anwendbar ist, tatsächlich erfüllt werden soll. Dies ist voraussetzungsgemäß zwar in einer hin-
66 Der Begriff wurde eingeführt von W.D. Ross 1930. In der Prinzipiendiskussion wird der unterschiedliche prima facie-Charakter von Regeln und Prinzipien insbesondere von Alexy 1979 vertreten.
67 Zur Unterscheidung verschiedener Arten von prima facie-Normen auch Searle 1980, 81ff.; Enderlein 1992, 45ff.; Peczenik 1989, 63f.
68 Nortmann 1989, 173. Im Unterschied zu der Interpretation der prima facie-Geltung als Beschränkung der Begründung auf typische Umstände geht es hier um die Beziehung zwischen Norm und
Fall, nicht die zu ihrer Begründung. Im Ergebnis dürften beide Konzeptionen jedoch zusammenfallen, da eine Norm, die aufgrund der typischen, normalen Umstände des Falls begründet ist, normalerweise, in der Regel, anzuwenden sein wird. Die Umkehrung dieser Beziehung kann allerdings
problematisch sein, da die regelmäßige Anwendbarkeit einer Norm nichts über die Art ihrer Begründung sagt.
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reichend großen Zahl der möglichen Anwendungsfälle der Fall, in Bezug auf einen
einzelnen Fall lässt sich jedoch kein Gebot der Erfüllung feststellen, bevor nicht das
Vorliegen besonderer Umstände geprüft ist. Da prima facie-Geltung in dieser Interpretation nicht das Gebot der Erfüllung in bestimmten möglichen Anwendungsfällen impliziert, liegt kein wirklicher Normkonflikt vor. Prima facie-Normen sind damit keine
Argumente für bestimmte Entscheidungen und haben somit nicht die Funktion von
Gründen für Abwägungsurteile.
Gegen die Interpretation von Prinzipien als in der Regel anzuwendende prima
facie-Normen spricht ferner, dass normative Argumente nicht prima facie-Geltung in
dem Sinn besitzen müssen, dass sie im Regelfall anzuwenden sind. Normen können ein
gültiges Argument darstellen, selbst wenn sie nur ausnahmsweise definitiv gelten oder
gar vollständig verdrängt werden. So lässt sich annehmen, dass in einer Rechtsordnung
das Prinzip der Rechtssicherheit grundsätzlich dem der Gerechtigkeit vorgeht und daher
die Geltung des positiv gesetzten Rechts in aller Regel nicht mit Argumenten der Gerechtigkeit bestritten werden kann.69 Dennoch sind Forderungen der Gerechtigkeit prinzipiell gültig, und es bedarf einer Rechtfertigung, wenn ungerechtes positives Recht
gleichwohl gelten soll. Dies würde sogar dann gelten, wenn in keinem Fall die Gerechtigkeitsargumente das Prinzip der Rechtssicherheit verdrängen könnten und die strikte
Geltung des positiven Rechts anzunehmen wäre.70 Die prima facie-Geltung kann somit
den Charakter normativer Argumente nicht erklären.
Wegen der inadäquaten epistemischen Konnotationen der Rede von prima facie-
Normen ist von verschiedenen Autoren vorgeschlagen worden, Gründe für Abwägungen als pro tanto-Normen zu analysieren.71 Aussagen über pro tanto-Normen geben
lediglich an, was gilt, insoweit lediglich die Norm selbst betrachtet wird. So könnte man
formulieren: "Insoweit man der Meinungsfreiheit folgt, gilt eine Erlaubnis für beleidigende Äußerungen." Pro tanto-Normen können mittels der Indexierung von deontischen
Operatoren konstruiert werden.72 Auch mit pro tanto-Normen und der Indexierung
deontischer Operatoren können jedoch Normkonflikte, die zu Abwägungen führen,
nicht adäquat rekonstruiert werden. Die Konflikte zwischen indexierten Geboten stellen
aus der Perspektive des Handelnden kein Problem dar, solange nicht gefordert wird,
dass er diese Gebote zugleich erfüllen soll. Ein Gebot, sämtliche indexierten Gebote zu
erfüllen, könnte aber kein indexiertes Sollen sein, da es auf jede Form eines indexierten
Sollens bezogen ist. Echte Normkonflikte erfordern somit nicht-indexierte Gebote.
69 So die "Radbruchsche Formel" in Radbruch 1946.
70 So die Position Radbruchs in Rechtsphilosophie 1932.
71 Hurley 1989, Jansen 1998.
72 Hurley 1989, 125ff.; vgl. zur Konstruktion von Normkonflikten mittels indexierter Normen bereits
Searle 1978, 81ff.
46
2.2. Unbestimmtheit von Prinzipien
Ein anderer Ansatz der Charakterisierung von Prinzipien verwendet das Kriterien der
Unbestimmtheit ihres Inhalts. Allerdings führt dies nicht notwendig zu einer strukturellen Unterscheidung. Eine Variante, die Prinzipien als Normen hohen Generalitätsgrades
ansieht, führt lediglich zu einer graduellen Unterscheidung. Andere Varianten machen
jedoch einen strukturellen Unterschied.
So sehen Atienza und Ruiz das entscheidende Merkmal von Prinzipien in der
Offenheit ihres Tatbestands. Während die tatbestandlichen Bedingungen von Regeln
endlich und geschlossen seien, seien die von Prinzipien offen und könnten nicht in einer
vollständigen Liste angegeben werden.73 Dies lässt allerdings unbestimmt, welche Konsequenz sich aus den tatbestandlichen Bedingungen eines solchen offenen Prinzips ergibt. Zum einen könnte die Rechtsfolge unter diesen Bedingungen ableitbar sein und der
spezifische Prinzipiencharakter darin bestehen, dass diese Rechtsfolge auch in weiteren
Fällen Anwendung finden kann. Dies würde allerdings nicht die Abwägungsfähigkeit
von Prinzipien begründen, sondern ihre Analogiefähigkeit. Eine andere Interpretation
der Offenheit von Prinzipien ist, dass sie nicht die Ableitung einer Rechtsfolge erlauben. Dem entspricht es, dass Atienza und Ruiz annehmen, ein Prinzip lege nicht fest,
unter welchen Bedingungen gehandelt werden müsse.74 Prinzipien enthalten demnach
keine hinreichenden Bedingungen für die Ableitung der Rechtsfolge oder, im Sinne kategorischer Normen, gar keine Anwendungsbedingungen außer denen, die sich aus der
Anwendbarkeit der in ihnen enthaltenen normativen Forderung (dem Norminhalt im
Sinne von Wrights) selbst ergeben.75 Dieser Ansatz führt jedoch wiederum in ein Dilemma. Lässt sich nicht feststellen, dass für die Ableitung der Rechtsfolge hinreichende
Bedingungen erfüllt sind, ist unklar, welche normative Relevanz Prinzipien haben. Wird
andererseits angenommen, dass Prinzipien bedingungslos anzuwenden sind, bleibt unklar, wie dies zu verstehen ist, wenn andererseits eingeräumt wird, dass konfligierende
Prinzipien zum Ausschluss der Anwendung eines Prinzips führen können. Um die Möglichkeit des Konflikts zuzulassen, könnte das Gebot der Anwendung von Prinzipien als
Abwägungsgebot interpretiert werden. Dies lässt jedoch die Frage unbeantwortet, welche Relation zwischen Prinzip und Abwägungsergebnis besteht, wenn eine Ableitung
dieses Ergebnisses nicht möglich ist.
Das Merkmal nicht hinreichender Anwendungsbedingungen ist auch von Buchwald
für die Definition von Prinzipien verwendet worden. Prinzipien sollen nur notwendige,
keine hinreichenden Erfüllungsbedingungen enthalten.76 Dies ist allerdings mehrdeutig.
Werden als Erfüllungsbedingungen tatbestandliche Bedingungen bezeichnet, trifft die
These zu. Sie kann allerdings den Charakter von Prinzipien als Gründe für Abwägungen
nicht erklären. Eine Norm "Wenn nicht T, dann nicht R." gibt keinen Grund dafür an, R
73 Atienza/Ruiz 1998, 8f. Eine besondere Klasse von Prinzipien sind "policies". Bei diesen ist nicht
nur der Tatbestand offen, sondern auch die Bestimmung der Rechtsfolge.
74 Atienza/Ruiz 1998, 11.
75 In diesem Sinne Atienza 2006, 168, unter Verweis auf von Wright.
76 Buchwald 1996, 70ff.
47
in einem Konflikt mit einer anderen Norm als definitiv gültige Rechtsfolge zu bestimmen. Werden hingegen Erfüllungsbedingungen als Bedingungen verstanden, unter denen eine Norm erfüllt ist, ist wiederum zu unterscheiden. Die Rechtsfolge von Prinzipien könnte derart sein, dass sie niemals vollständig erfüllt werden kann und in diesem
Sinne es keine hinreichende Bedingung für ihre Erfüllung gibt. Dieser ideale Charakter
trifft auf einige Prinzipien, jedoch nicht auf alle zu. Ein prinzipielles Verbot, menschliches Leben und Gesundheit nicht zu beeinträchtigen, kann jedenfalls theoretisch vollständig erfüllt werden. Ein anderer Aspekt der These ist, dass es notwendige Erfüllungsbedingungen gibt. Dies ist jedoch bei abwägungsfähigen Normen nicht der Fall. Denn
kollidierende Prinzipien können die Nichterfüllung der Norm rechtfertigen, und es lässt
sich nicht im voraus sagen, dass bestimmte vom Prinzip geforderte Inhalte notwendigerweise erfüllt werden müssten. Merkmal von Prinzipien ist gerade umgekehrt, dass sie
keine notwendig zu erfüllenden Inhalte vorgeben, sondern - in einem normativen Sinn graduell erfüllbar sind.
Die Ansätze, die auf die Unbestimmtheit von Prinzipien rekurrieren, können somit
den Charakter von Prinzipien für Abwägungen nicht erklären.
2.3. Die Anwendung nicht-monotoner Logik
Eine Alternative zu dem Versuch, die Kollisionsfähigkeit von Gründen für Abwägungen
durch eine inhaltliche Relativierung normativer Aussagen zu konstruieren, stellt eine
Modifikation der Logik normativer Argumente dar. So wird die Verwendung einer nichtmonotonen Logik vorgeschlagen, d.h. einer Logik, in der neue Information zuvor gültige
Folgerungen ungültig machen kann.77 Es ist dann möglich, dass z.B. aus dem Prinzip der
Meinungsfreiheit eine Erlaubnis von Meinungsäußerungshandlungen folgt. Wenn aber als
weitere Information hinzu kommt, dass diese Äußerung beleidigenden Charakter hat, dann
lässt sich diese Folgerung nicht mehr ziehen. In dieser Weise lässt sich eine Logik für
kollidierende Argumente entwickeln. Das Problem ist jedoch, dass die Ableitung eines
konkreten Ergebnisses mit solchen Konzeptionen nicht möglich ist.78 Im Fall einer Kollision haben Argumente, die entsprechend einer nicht-monotonen Logik verwendet werden,
keinerlei normative Kraft und können daher nicht als Grund für eine Abwägungsentscheidung dienen. Die Abschwächung der Folgerungsbeziehung beseitigt damit im Ergebnis ebenfalls, wie die Relativierung des Inhalts durch eine Optimierungsklausel, die Eignung der kollidierenden Argumente als Gründe für Abwägungen, die nicht nur kollidieren
können, sondern zugleich Gründe für eine bestimmte Lösung dieser Kollision darstellen.
77 Prakken 1996; Hage 1996, 1997, 2005; Bro?ek 2007a. Dies wird auch unter dem Begriff des
"defeasible reasoning" diskutiert. Allerdings ist "defeasible reasoning" nicht identisch mit nichtmonotoner Logik, vgl. Hage 2005. Zu "defeasible reasoning" im Recht Wang 2003; Atria 2001;
Ratschow 1998; Bayón 1991.
78 Nicht-monotone Folgerungsbeziehungen sind stets "defeasible". Es können daher lediglich prima
facie-Aussagen abgeleitet werden. Auf der Grundlage einer nicht-monotonen Logik ist die Ableitung einer konkreten Rechtsfolge nicht möglich. Vgl. Rodriguez 2001; Alchourrón 1996.
48
Normative Argumente müssen also einen normativen Gehalt haben, der unabhängig
von und gerade in der Kollisionssituation besteht. Ihr Gehalt darf weder auf das definitiv
Gebotene reduziert werden, noch darf die Möglichkeit, Folgerungen aus ihnen zu ziehen,
von dem Vorliegen kollidierender Argumente abhängen. Aus ihrem idealen, über das
definitiv Gebotene hinausgehenden Charakter folgt, dass sie nicht direkt in Form von Aussagen dargestellt werden können. Kollidierende ideale Gebote können zugleich gültig sein,
widersprüchliche Aussagen hingegen nicht zugleich gelten. Es ist daher eine Konstruktion
erforderlich, in der Normen nicht in Form von Aussagen formuliert werden, ihnen aber
gleichwohl eine Form idealer Geltung zugeschrieben werden kann.
2.4. Prinzipien als prozedurale Regeln
Festzuhalten ist, dass die normative Verbindlichkeit von Prinzipien nicht von vornherein (durch Relativierung auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten79) auf
einen definitiven normativen Gehalt begrenzt sein kann, da dies eine Kollision und Abwägung mit anderen Prinzipien unmöglich machen würde. Ein ideales Sollen muss
daher über das definitiv Gebotene, tatsächlich Erfüllbare hinausgehen. Wie lässt sich ein
Sollen analysieren, das einerseits Anspruch auf Verbindlichkeit erhebt, andererseits aber
keine strikte Erfüllung verlangt? Der hier verfolgte Ansatz ist die Konzeption normativer Argumente als Geltungsgebote. Eine Alternative dazu könnte jedoch in einer prozeduralen Konzeption von Prinzipien bestehen, die deren Charakter als Gründe für Abwägungen nicht auf der Ebene ihrer logischen Struktur, sondern durch die bestimmte Regeln, wie sie anzuwenden sind, zu erklären versucht.
Das prozedurale Modell präzisiert das ideale Sollen mittels der Idee der Optimierung. Es verbindet mit der Geltung eines Prinzips drei Implikationen: ein Gebot der
Anerkennung einer Norm, ein Abwägungsgebot und ein Optimierungsgebot. Diesen
drei Arten von Normen entspricht die Struktur des Prinzipienmodells. Dessen Elemente
sind Prinzipien im Sinne von Gründen für Abwägungen, Abwägungsprozeduren sowie
Regeln als Ergebnisse der Abwägungen. Prinzipien enthalten normative Implikationen
hinsichtlich jedes dieser drei Elemente. Das Gebot der Anerkennung einer Norm fordert
vom Urteilenden, eine Norm als definitiv gültig anzuerkennen. Es gehört zur Ebene der
Gründe für Abwägungen, also der normativen Argumente. Abwägungsgebote sind prozedurale Regeln, die die Abwägung kollidierender Normen verlangen. Optimierungsgebote drücken den definitiven normativen Gehalt von Prinzipien aus. Die Forderung, ein
bestmögliches Ergebnis hinsichtlich der Erfüllung eines Prinzips unter Berücksichtigung kollidierender Prinzipien und der Umstände des Falls zu realisieren, stellt eine
abstrakte Bestimmung des definitiv Gebotenen dar. Optimierungsgebote sind daher der
Ebene der Abwägungsergebnisse zuzuordnen.
Abwägungs- und Optimierungsgebot können allerdings den Charakter eines idealen Sollens nicht vollständig erklären, da sie den normativen Gehalt eines Prinzips auf
eine prozedurale Regel (das Gebot der Abwägung) sowie auf eine abstrakte definitive
79 Zu diesen Begriffen Alexy 1985, 75f. m.w.N.
49
Norm (etwas so weit wie tatsächlich und rechtlich möglich zu realisieren) reduzieren.
Abwägungs- und Optimierungsgebot sind daher beide in Form normativer Aussagen
auszudrücken und (dementsprechend) nicht kollisionsfähig.
Das Gebot der Anerkennung einer Norm enthält demgegenüber nicht notwendig
eine Relativierung auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten und ist nicht
bereits seinem Inhalt nach auf ein Gebot der Abwägung reduziert. Es enthält eine
Forderung, die unabhängig davon bestehen kann, ob ihre Erfüllung durch gegenläufige
Prinzipien ausgeschlossen wird. In einem Konflikt zwischen dem Schutz der Meinungsfreiheit und dem Schutz der persönlichen Ehre ergibt sich aus dem Prinzip der Meinungsfreiheit ein Gebot, Meinungsäußerungen einer bestimmten Art zuzulassen und
eine entsprechende Norm zu akzeptieren. Das Prinzip des Ehrschutzes gebietet demgegenüber, solche Meinungsäußerungen nicht zuzulassen und eine gegenteilige Norm
anzuerkennen. Es ist nicht notwendig, solche prinzipiellen Anerkennungsgebote von
vornherein auf das erfüllbare Maß zu relativieren. Ihre Kollision reflektiert vielmehr das
praktische Dilemma, in dem sich der Beurteiler angesichts einer Prinzipienkollision
befindet. Das Gebot der Auflösung der Prinzipienkollision ist eine Forderung, die sich
aus der Rationalität des Beurteilers ergibt. Ein rationaler Beurteiler kann nicht zugleich
sich widersprechende Normen als definitiv geltend anerkennen. Daraus ergeben sich in
einer Kollisionssituation Gebote der Abwägung und der größtmöglichen Realisierung
relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten. Grundlage für beide ist jedoch ein unrelativiertes, prinzipielles Gebot der Akzeptierung jedes der kollidierenden
Prinzipien sowie seiner Konsequenzen.
Anerkennungsgebote können somit die Kollisionsfähigkeit von Normen erklären.
Allerdings bleibt die Frage, ob Prinzipien als Anerkennungsgebote definiert werden
können oder diese lediglich (wie Abwägungs- und Optimierungsgebote) normative Implikationen aus Prinzipien darstellen, die den Charakter von Prinzipien nicht vollständig
erfassen. Für diese Annahme spricht die strukturelle Parallele zwischen Anerkennungs-,
Abwägungs- und Optimierungsgeboten. Sie sind jeweils auf eine Norm bezogen, die
den Gegenstand einer Abwägung bildet, und beinhalten prozedurale Forderungen für
die Durchführung der Abwägung.80 Diese prozeduralen Forderungen explizieren verschiedene Aspekte der Geltungsweise von Prinzipien. Prinzipien sind jedoch noch etwas
anderes als solche Explikationen ihrer Geltungsweise.
Andererseits weisen die Konzeptionen von Anerkennungsgeboten und Geltungsgeboten eine Parallele auf. Ein Gebot definitiver Geltung einer Norm ist im Rahmen einer
Konzeption autonomer Normbegründung äquivalent mit einem Anerkennungsgebot.
Denn die definitive Geltung kann nur durch deren Anerkennung durch das autonome
Subjekt zustandekommen, und die Anerkennung der definitiven Geltung durch das autonome Subjekt begründet die definitive Geltung der betreffenden Norm in dem vom
Subjekt geschaffenen Normensystem. Das Anerkennungsgebot stellt insofern nur die
prozedural formulierte Variante eines Geltungsgebots dar.
80 Vgl. auch die Analyse von Günther 1988, 272, sowie die These Aarnios, Optimierungsgebote seien
Ausdruck einer allgemeinen Rationalitätsforderung, referiert von Peczenik 1989, 78.
50
Zudem bleibt eine Mehrdeutigkeit in der Konzeption des Anerkennungsgebots,
insofern dieses definitiven oder prinzipiellen Charakter haben kann. Als definitives
Gebot der Anerkennung der definitiven Geltung einer Norm ist es jedoch nicht kollisionsfähig, sondern stellt eine nicht-abwägungsfähige Regel zweiter Stufe dar. Nur als
ein prinzipielles Gebot der Anerkennung der definitiven Geltung einer Norm ist es die
prozedurale Entsprechung der in normativen Argumenten enthaltenen Geltungsgebote.
Damit setzt die Konzeption von abwägungsfähigen Anerkennungsgeboten den Begriff
von Prinzipien und der prinzipiellen Geltung von Normen voraus. Worin prinzipielle
Geltung, die Normen zu Gründen für Abwägungen macht, besteht, bleibt eine offene
Frage. Die prozedurale Konzeption kann den Charakter von Prinzipien als Gründe für
Abwägungen daher nicht erklären.
3. Die Notwendigkeit nicht-propositionaler Argumente
Festzuhalten ist, dass das Problem der Konstruktion von Gründen für Abwägungen nicht
durch Modifikationen von Normen mit propositionaler Struktur zu lösen ist. Dies gilt
ebenso für die Konzeption von Prinzipien als Optimierungsgeboten wie für die Annahme
von prima facie-Normen oder pro tanto-Normen. Solche Modifikationen führen Abschwächungen ein, die den betreffenden Normen zugleich die Eigenschaft eines Abwägungsgrundes nehmen. So besagt ein prima facie-Recht auf Meinungsfreiheit nichts darüber, was
geboten ist, wenn auf den zweiten Blick festgestellt wird, dass das Persönlichkeitsrecht
ebenfalls zu berücksichtigen ist, aber nicht beides zugleich erfüllt werden kann. Optimierungsgebote, die möglichst weitgehende Erfüllung relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten verlangen, verweisen im Fall einer Kollision mit der Relativierung
auf die rechtlichen Möglichkeiten wechselseitig aufeinander sowie auf das Ergebnis der
erst noch durchzuführenden Abwägung. Sie stellen damit keine Gründe innerhalb dieser
Abwägung dar. Ein ähnliches Problem stellt sich für Konzeptionen, die inhaltliche Unbestimmtheit als charakteristisches Merkmal von Prinzipien ansehen, für Versuche, Abwägungen mit Hilfe einer nicht-monotonen Logik zu analysieren, aber auch für eine Rekonstruktion der Abwägung mittels prozeduraler Regeln. Mit allen diesen Ansätzen wird die
Funktionsweise von Gründen in Abwägungen nicht erklärt.
Dies gilt für jeden an der logischen Form von Aussagen orientierten Ansatz. Denn
Aussagen sind darauf angelegt, widerspruchsfreie Bewertungen anzugeben. Die Einführung des Begriffs der prima facie-Geltung auf der Grundlage normativer Aussagen kann
Normkonflikte nur zulassen, indem sie den normativen Gehalt so weit reduziert, dass
der Normkonflikt verschwindet. Abwägungen setzen jedoch kollidierende normative
Gehalte voraus, die selbst Richtlinien in der Abwägung angeben und Gründe für die
Abwägungsentscheidung darstellen. Die Kollisions- und Abwägungsfähigkeit von Prinzipien schließt es demnach aus, sie in Form normativer Aussagen darzustellen.
Es bleibt die Frage, wie Gründe für Abwägungen mit nicht-propositionaler Struktur
konstruiert werden können. Die Antwort ist die Konzeption normativer Argumente als
reiterierte Geltungsgebote.
51
III. Normative Argumente als reiterierte Geltungsgebote
Normative Argumente sind, wie bereits dargelegt, in ihrer Struktur durch die Reiteration
von Geltungsgeboten gekennzeichnet sind. Die Grundstruktur von normativen Argumenten ist somit die von Anerkennungsgeboten "Die Norm N soll als definitiv gültig
anerkannt werden", denen Geltungsgebote "Die Norm N soll definitiv gelten" korrespondieren. Zu jedem solchen Geltungsgebot gibt es ein Geltungsgebot höherer Stufe,
das dessen Geltung fordert. Daraus ergibt sich eine Kette von Geltungsgeboten:
(1) O VALDEFN
(2) O VALDEF O VALDEF N
(3) O VALDEF O VALDEF O VALDEF N,
etc.
Ein normatives Argument ist gültig, wenn auf jeder Stufe das Geltungsgebot durch ein
Geltungsgebot höherer Stufe begründet werden kann.
Ein reiteriertes Geltungsgebot lässt sich allerdings nicht vollständig formulieren, da
die sprachliche Formulierung endlich sein muss. Der Geltungsanspruch eines normativen Arguments, dass sich Geltungsgebote je höherer Stufe beliebig weit begründen
lassen, muss daher auf der pragmatischen Ebene liegen und kann nur durch eine metasprachliche Beschreibung explizit gemacht werden. Die Unterscheidung normativer
Argumente und normativer Aussagen muss daher die pragmatische Ebene von Sprechakten einbeziehen. Ein einfacher Normsatz kann nicht ohne weiteres als normatives
Argument oder normative Aussage qualifiziert werden. Seine Bedeutung hängt davon
ab, in welcher Funktion er verwendet wird.
Um die pragmatische Ebene zum Ausdruck zu bringen, kann die Fregesche Unterscheidung von Gedanken und Urteil sowie die entsprechende Notation herangezogen
werden. Frege unterscheidet sprachliche Ausdrücke, den Inhaltsstrich "?", mit dem ein
wahrheitsfähiger Inhalt, also ein Gedanke, zum Ausdruck gebracht wird, und den
Urteilsstrich "|", der ausdrückt, dass ein Gedanke als wahr behauptet wird.. In einer
Aussage sind demnach zu unterscheiden: der sprachliche Ausdruck (s), der mit diesem
formulierte Gedanke (?s) sowie das Urteil, das dieser Gedanke wahr ist (|?s).81
Auf normative Sätze angewandt, lässt sich der Sprechakt einer normativen Aussage
darstellen als |—N. Unter Abstraktion von dem pragmatischen Element der Behauptung
bleibt als Ausdruck für einen normativen Gedanken (eine normative Proposition) —N.
Allerdings stellt sich das Problem, wie die Geltungsweise von Normen dargestellt werden kann. Es sind verschiedene Geltungsweisen zu unterscheiden, etwa die definitive
Geltung unmittelbar handlungsleitender Normen, die prinzipielle Geltung normativer
Argumente, prima facie-Geltung, residuale Geltung, vermutliche Geltung oder die
Geltung im Sinne der Zugehörigkeit zu einem Normensystem. Der Inhalt einer normativen Aussage, die die definitive Geltung einer Norm behauptet, hat dementsprechend die
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Zusammenfassung
Auf der Grundlage der Konzeption der Abwägung normativer Argumente werden eine Theorie autonomer Normbegründung sowie eine Theorie des Rechts entwickelt, die dessen normativen Charakter und die Notwendigkeit der Rechtfertigung des Rechts aufgrund der Idee individueller Autonomie ernst nimmt. Kritisiert werden kognitive Konzeptionen moralischer Autonomie wie die Kants, propositionale Konzeptionen normativer Argumenten sowie insbesondere die Rechtstheorie Robert Alexys.
Es wird aufgezeigt, wie Prinzipien als Gründe für Abwägungsurteile konzipiert werden können, welche Richtigkeits- und Objektivitätsansprüche für Abwägungsurteile begründbar sind, ohne eine kognitive Bestimmbarkeit des Abwägungsergebnisses vorauszusetzen, und welche Autonomierechte anzuerkennen sind. Auf dieser Grundlage werden Rechtsbegriff und Rechtsgeltung, juristische Interpretation und Abwägung, die Theorie gerichtlicher Kontrollkompetenzen, das Verhältnis von Recht zu praktischer Vernunft und Moral sowie die Konzeption von Grund- und Menschenrechten analysiert.
Die Prinzipientheorie des Rechts bildet einen langjährigen Forschungsschwerpunkt des Autors. Die Arbeit fasst das Ergebnis dieser Forschungen zusammen.