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Auf diese Weise wird gleichzeitig auch die zweitgenannte Gefahr für die Aktionäre - Wertverschiebungen bei wertunangemessenem Rückkaufpreis - insofern gebannt, als es dem Vorstand verwehrt wird, durch einen selektiven Rückkauf insbesondere die Verteilung der Rückkaufprämie nach eigenem Ermessen zu gestalten.
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es die Hauptversammlung im praktisch wichtigsten Fall des § 71 I Nr. 8 AktG selbst in der Hand hat, ob und inwieweit sie den
Vorstand zum Rückerwerb ermächtigt. Hierdurch wird der freie unternehmerische
Einsatz des Aktienrückerwerbs im Interesse der Aktionäre von vornherein begrenzt1174. Flankierend findet zudem eine Kontrolle des Vorstandes durch den Aufsichtsrat statt, der gem. § 111 I AktG die Geschäftsführung überwacht und an dessen
Zustimmung der Rückerwerb zusätzlich gebunden werden kann.
Aufgrund des Zusammenspiels dieser gesellschaftsrechtlichen Schutzmechanismen ist somit festzustellen, dass das geltende Aktienrecht nicht nur die Gläubiger,
sondern auch die Aktionäre angemessen vor den Risiken schützt, die der Erwerb
eigener Aktien typischerweise für sie hervorruft1175.
III.) Folgerungen betreffend eine mögliche gesellschaftsrechtliche Liberalisierung in
Deutschland
1.) Vergleich mit dem US-amerikanischen System1176
Unter rechtspolitischen Gesichtspunkten ist das US-amerikanische Regelungskonzept grundsätzlich vor allem angesichts der langjährigen praktischen Erfahrungen,
auf die dort im Zusammenhang mit dem Erwerb eigener Aktien zurückgegriffen
werden kann, als Vergleichsgrundlage interessant. Der vergleichende Blick zeigt
jedoch, dass die US-amerikanischen Regelungssysteme den Gläubiger- und Aktionärsschutz regelmäßig nicht in gleicher Intensität gewährleisten wie das deutsche
Recht.
So sind den US-corporations vergleichsweise große Freiheiten belassen, soweit
es darum geht, in Form des Rückerwerbspreises liquide Mittel an die Aktionäre
auszuschütten. Da ihr Gesellschaftsvermögen keiner so starken Bindung unterliegt
wie nach dem AktG, haben US-corporations regelmäßig die Möglichkeit, fast das
gesamte Gesellschaftsvermögen an die Aktionäre auszuschütten1177. Und soweit die
1174 Peltzer, WM 1998, 322, 329.
1175 So im Ergebnis grundsätzlich auch Peltzer, WM 1998, 322, 329 ff., 331; Wastl, DB 1997,
461, 462; Piepenburg, BB 1996, 2582, 2584 f.; Benckendorff, S. 316 i.V.m. 302 ff; wohl
auch Bezzenberger, Rn. 182 i.V.m. 134 ff.
1176 Vgl. hierzu zunächst einleitend die Ausführungen in Teil 5, S. 203 ff.
1177 Vgl. Benckendorff, 297 f. Eine Ausnahme mag in gewissem Umfang für das kalifornische
Recht gelten; hier ist der Gläubigerschutz intensiver ausgestaltet, vgl. bereits S. 206.
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US-Bundesstaaten an einem Nennkapitalsystem festgehalten haben, wird letztlich
kein nennenswertes Mindestnennkapital vorgeschrieben, das ein ernstzunehmendes
Kapitalpolster schaffen könnte. Der Schutz der Gesellschaftsgläubiger wird damit
vorwiegend in deren eigene Hände gelegt und weniger durch die Statuierung strenger gesetzlicher Schranken zu erreichen versucht1178. So versagen die liberalisierten
US-Systeme aber beispielsweise dann, wenn Gläubiger nicht in der Lage sind, ihre
Ansprüche im Hinblick auf einen möglichen Krisenfall der Gesellschaft zu besichern, sei es, weil ihre Gläubigerstellung auf Gesetz beruht oder weil sie insofern
keine Verhandlungsmacht haben1179.
Und auch was den Aktionärsschutz betrifft, reicht der in den US-amerikanischen
Bundesstaaten bestehende Schutzstandard nicht an denjenigen des AktG heran. Der
Schutz der Aktionäre wird in den USA (lediglich) auf Basis der allgemeinen Verhaltenspflichten der Unternehmensleitung gewährleistet, die zudem - zugunsten einer
Förderung der unternehmerischen Handlungsflexibilität - in erheblichem Umfang
durch die business judgement rule gelockert sind. Dem US-Recht sind außerdem die
hierzulande verankerten verbandsrechtlichen Grundpfeiler des Aktionärsschutzes
unbekannt, wie insbesondere ein gesetzliches Gleichbehandlungsgebot oder das
Erfordernis einer Rückerwerbsermächtigung durch die Aktionäre1180.
Alles in Allem ist damit der deutsche Regelungsansatz, zumindest was den hier
betrachteten Gläubiger- und (individuellen) Aktionärsschutz betrifft, gegenüber dem
US-amerikanischen als vorzugswürdig zu erachten.
2.) Zweckmäßigkeit der Anhebung der Zeitgrenze in § 71 I Nr. 8 AktG
Fraglich ist aber nun, ob der angemessene Schutz, den die §§ 71 ff. AktG den Aktionären und Gesellschaftsgläubigern derzeit bieten, auch noch gewährleistet wäre,
wenn der deutsche Gesetzgeber den Spielraum ausnutzten würde, den die liberalisierende Richtlinie 2006/68/EG eröffnet hat.
1178 Gärtner, S. 103 f.; Benckendorff, S. 129.
1179 Vgl. dazu Lutter, AG 1998, 375, 376.
1180 Dass die Aktionäre mangels gesetzlicher Fixierung eines Gleichbehandlungsgebots nur unzureichend vor Aktienrückkäufen, die mit für sie nachteiligen Wertverschiebungen verbunden
sind, geschützt sind, zeigt das Beispiel des greenmail: In den meisten US-Bundesstaaten (so
bspw. in Delaware, Kalifornien und im Geltungsbereich des M.B.C.A.) existieren keine Gesetze, die ein greenmail verhindern, und auch die Gerichte beanstanden ein dementsprechendes Vorgehen der Geschäftsführung regelmäßig nicht, vgl. hierzu ausführlich Gärtner, S. 141
ff.; Gevurtz S. 168 ff.; zudem Benckendorff, S. 132 ff.; Merkt, Rn. 473, jeweils m.w.N. auch
für kritische Stimmen im Schrifttum (vgl. dazu bereits auch die Ausführungen und Nachweise in Fn. 86).
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Diese Frage stellt sich zunächst im Hinblick auf die durch die Richtlinie ermöglichte Anhebung der höchstzulässigen Ermächtigungsdauer in § 71 I Nr. 8 Satz 1
AktG von 18 Monaten auf bis zu fünf Jahren. Eine Anhebung würde zwar dazu
führen, dass in der Praxis größere Zeiträume geschaffen werden könnten, in denen
die Frage über das Ob und das Wie eines Rückerwerbs dem Einfluss der Hauptversammlung praktisch entzogen und allein in das Leitungsermessen des Vorstandes
gestellt sein würde. Gleichwohl könnte von einer nachteiligen konzeptionellen Beschneidung der Hauptversammlungskompetenzen aber kaum gesprochen werden.
Der Hauptversammlung wäre es weiterhin unbenommen, kürzere Ermächtigungszeiträume festzulegen, und sie hätte auch nach wie vor die Möglichkeit, die Ermächtigung inhaltlich - etwa in Bezug auf die Gegenleistung und den Zweck des Rückerwerbs - zu begrenzen. Letztlich läge es immer noch in ihrer Hand, innerhalb welcher Grenzen sie ihre durch das Ermächtigungserfordernis gesicherte Einflussnahmemöglichkeit preisgibt und den Rückerwerb in die Hände der Geschäftsführung
legt.
Und gleichzeitig könnten auf der anderen Seite, soweit dies namentlich erwünscht
ist, erhebliche Flexibilitätszuwächse für die Unternehmensleitung erreicht werden.
Bedeutung erlangt dies zum Beispiel dann, wenn börsliche Rückkaufprogramme
über einen langen Zeitraum geplant sind und es (auch) darum geht, die Erwerbe zu
(unternehmerisch und konjunkturell) günstigen Zeitpunkten vorzunehmen1181. Auch
etwa im Hinblick auf die Bedienung von Aktienoptionsprogrammen mit mehrjähriger Laufzeit kann eine längerfristige Rückkaufermächtigung von Vorteil sein1182.
Größere Ermächtigungszeiträume können auch insofern zur Flexibilisierung der
Unternehmensführung beitragen, als auf diese Weise dem Vorstand längerfristig die
Möglichkeit gegeben wird, ohne Zeitverlust auf sich kurzfristig ergebende Einsatzmöglichkeiten für einen Aktienrückkauf zu reagieren. Eine Anhebung der in § 71 I
Nr. 8 Satz 1 AktG statuierten Höchstgrenze auf fünf Jahre ist damit im Ergebnis zu
begrüßen1183.
3.) Zweckmäßigkeit der Aufhebung der 10 %-Grenze in § 71 II 1 AktG
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob eine Ausnutzung der durch die Richtlinie
2006/68/EG gewährten Spielräume auch im Hinblick auf die Auf- bzw. Anhebung
der aktuell in § 71 II 1 AktG fixierten Bestandsgrenze für eigene Aktien von 10 %
geboten ist. Unter isolierter Betrachtung des an dieser Stelle zunächst interessierenden Gläubiger- und (individuellen) Aktionärsschutzes erscheint eine Aufrechterhaltung tatsächlich nicht nötig, da die oben in Teil C untersuchten aktienrechtlichen
1181 Johannsen-Roth, S. 294.
1182 Vgl. hierzu auch Oechsler, ZHR 170 (2006), 72, 79 f.
1183 So im Ergebnis etwa auch Martens, AG 1996, 337, 339; Oechsler, ZHR 170 (2006), 72, 79
ff.; Johannsen-Roth, S. 293 f.
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Instrumentarien insofern eine ausreichende Schutzwirkung gewährleisten. Die Gläubiger haben kein schützenwertes Interesse daran, dass die Gesellschaft ungebundenes Vermögen, das aus erwirtschafteten Gewinnen herrührt und das sie in Form
einer Dividende an die Aktionäre ausschütten könnte, nicht auch als Kaufpreis für
einen Aktienrückerwerb aufbringen dürfte, selbst wenn hierdurch das Volumen an
eigenen Aktien 10 oder auch 20 oder 25 % überschreitet. Und auch aus Sicht der
Aktionäre erscheint eine Überschreitung der 10 %-Bestandsgrenze für eigene Aktien
unbedenklich1184, denn auf Basis des geltenden Rechts haben alle Aktionäre die
gleiche Möglichkeit, an dem (prämierten oder nicht prämierten) Rückkauf teilzunehmen und hierdurch ihre mitgliedschaftliche Vermögensposition zu wahren.
4.) (Zwischen-) Ergebnis
Aus den dargelegten Gründen spricht aus Sicht des Gläubiger- und individuellen
Aktionärsschutzes nichts gegen eine Ausnutzung der Freiräume, die die Richtlinie
2006/68/EG in Bezug auf die 10 %-Bestandsgrenze für eigene Aktien (§ 71 II 1
AktG) und die Ermächtigungshöchstdauer von 18 Monaten (§ 71 I Nr. 8 AktG)
gewährt. Die aktuellen Beschränkungen erscheinen unnötig restriktiv, da die Interessen von Aktionären und Gläubigern durch andere Schutzmechanismen des Aktienrechts angemessen geschützt werden.
D) Rechtspolitische Bewertung: Erwerb eigener Aktien und Funktionsfähigkeit des
Kapitalmarktes
I.) Exkurs: Verhältnis des Kapitalmarktrechts zum Gesellschaftsrecht
Da der Kapitalmarkt kein von anderen Märkten abgeschotteter Markt ist und zudem
diverse Rechtsbestimmungen, die nicht unmittelbar auf den Kapitalmarkt abzielen,
dessen Rahmenbedingungen beeinflussen1185, ist das Kapitalmarktrecht als ein dynamisches Rechtsgebiet zu begreifen. Regelungszweck ist die Gewährleistung der
Funktionsfähigkeit und Effizienz der Kapitalmärkte (sog. Funktionenschutz) sowie
des Anlegerschutzes1186, wobei heutzutage der Funktionenschutz als Hauptaufgabe
betrachtet wird1187. Dabei gilt es insbesondere, das Vertrauen der Anleger in die gute
und manipulationsfreie Ordnung der Kapitalmärkte zu gewährleisten1188.
1184 Gleiches gilt für die 10 %-Erwerbsgrenze in § 71 I Nr. 8 AktG.
1185 Vgl. dazu etwa Assmann, in: Assmann/Schütze, § 1 Rn. 3; Lenenbach, Rn. 1.3. Insoweit sind
beispielsweise das allgemeine Zivil-, das Handels- und das Wettbewerbsrecht zu nennen.
1186 Merkt/Rossbach, JuS 2003, 217, 220; Hopt, ZHR 141 (1977), 389, 429, 431; Lenenbach, Rn.
1.3.; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, Rn. 8.388.
1187 Lenenbach, Rn. 1.38; Kümpel, Rn. 8.389. Der Anlegerschutz wird dabei verbreitet lediglich
i.S.e. Individualschutzes verstanden, der insbesondere die Gewährung von Informations- und
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Öffentliche Angebote zum Erwerb eigener Aktien erfreuen sich – dem US-amerikanischen Vorbild folgend – auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit. Basierend auf der fortschreitenden Modernisierung des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland in dieser Hinsicht in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt.
Mit einem vergleichenden Blick in die USA, und angelehnt an die Erscheinungsformen und Hintergründe öffentlicher Rückkaufverfahren in der Wirtschaftspraxis, analysiert und hinterfragt die vorliegende Arbeit den geltenden Rechtsrahmen sowie die einschlägige Verwaltungspraxis. Einen Schwerpunkt stellt die vom Autor geforderte Anwendung des WpÜG auf öffentliche Rückerwerbsangebote dar. Zudem spricht sich der Autor unter Verweis auf Missbrauchspotentiale im Zusammenhang mit dem Erwerb eigener Aktien gegen eine Liberalisierung nach US-amerikanischem Vorbild, und dabei insbesondere gegen die An- bzw. Aufhebung der derzeit geltenden 10%-Bestandgrenze für eigene Aktien, aus.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich M&A und Gesellschaftsrecht in einer international ausgerichteten Wirtschaftskanzlei in Stockholm tätig.