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Teil 6: Der Erwerb eigener Aktien im Spannungsfeld zwischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht
A) Einleitung und Problemaufriss
Wie die vorstehenden Darstellungen in Teil 3 und Teil 4 verdeutlicht haben, sehen
sich deutsche Unternehmen beim Erwerb eigener Aktien nicht nur den Regelungen
des Aktienrechts, sondern in erheblichem Maße auch denen des Kapitalmarktrechts
ausgesetzt. Der Aktienrückerwerb gerät dabei in ein Spannungsfeld zweier (zumindest) von Grund auf unterschiedlicher Rechtsgebiete. Und diese Spannungslage
intensiviert sich zunehmend.
Als Folge der in den letzten Jahren fortwährend in der Entwicklung befindlichen
Europäisierung des Kapitalmarktrechts nimmt die Regelungsdichte auf diesem
Rechtsgebiet ständig zu, und immer mehr ist hiervon auch der Erwerb eigener Aktien betroffen. Ging es noch bis vor wenigen Jahren in Deutschland fast ausschließlich um die Frage, inwiefern es die Interessen von Gläubigern und Aktionären zu
schützen gilt, so gerät das Instrument des Aktienrückerwerbs in heutiger Zeit verstärkt in das Blickfeld einer auf Transparenz, Effizienz und Attraktivität ausgerichteten Kapitalmarktpolitik.
Ein nahezu gegenläufiger Trend lässt sich im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht
beobachten. Geht es im Rahmen des europäischen Kapitalmarktrechts um fortschreitende Regulierung, so stehen die Zeichen in Bezug auf das europäische Gesellschaftsrecht auf Deregulierung: Schwerfällige Gesetzesmechanismen, die eine
unangemessene Behinderung darstellen, sollen abgebaut werden, um die Effizienz
und Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen zu fördern1127. Die Pläne, den
Mitgliedstaaten in diesem Sinne Raum für einen Abbau der für den Aktienrückerwerb geltenden gesellschaftsrechtlichen Beschränkungen zu geben, sind nun in
Form der Richtlinie 2006/68/EG vom 21. September 2006 umgesetzt worden1128.
Es scheint also damit im Bezug auf die künftige gesetzliche Konzeption des Aktienrückerwerbs ein Weg vorgezeichnet, der auf der einen Seite durch eine Intensivierung der kapitalmarktrechtlichen und auf der anderen Seite durch eine Deintensivierung der gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen geprägt ist. Dieser Lösungsweg ist - zumindest in der Tendenz - bereits aus den USA bekannt. Ist er aber
1127 Vgl. Bericht der HLG, S. 5.
1128 Richtlinie 2006/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. September 2006
zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf die Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals.
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auch angemessen? Die Untersuchungen in Teil 6 der Arbeit gehen dieser Frage
nach. Dabei werden im Hinblick auf die jüngsten Liberalisierungsmaßnahmen auf
europäischer Ebene und die hierdurch eröffneten gesetzgeberischen Spielräume die
Fragen nach einer möglichen Anhebung der Höchstdauer der Hauptversammlungsermächtigung (§ 71 I Nr. 8 AktG) und, ganz besonders, der Berechtigung der geltenden 10%-Bestandsgrenze für eigene Aktien (§ 71 II 1 AktG) eine zentrale Rolle
spielen. Denn insofern sind die gesellschaftsrechtlichen Grundlagen des Erwerbs
eigener Aktien in besonderem Maße betroffen1129.
Dabei wird die Untersuchung teilweise über den eigentlichen Gegenstand dieser
Arbeit hinausgehen, denn eine isolierte gesetzliche Konzeption für öffentliche
Rückkaufverfahren lässt sich weder auf Basis des geltenden (nationalen sowie europäischen) Rechts, noch generell diskutieren. Das öffentliche Rückerwerbsangebot
geht vielmehr als eine besondere Erscheinungsform in dem Gesamtregelungskonzept für den Erwerb eigener Aktien als einem Netzwerk aktien- und kapitalmarktrechtlicher Vorgaben auf.
B) Darstellung des Liberalisierungsprozesses in Deutschland / EU
I.) Die SLIM-Initiative1130
Ein erster gewichtiger Impuls für die Liberalisierung der geltenden aktienrechtlichen
Bestimmungen betreffend den Erwerb eigener Aktien ging von der durch die EU-
Kommission im Jahre 1996 ins Leben gerufenen SLIM-Initiative aus. Die Kommission betrachtete es als das grundlegende Ziel von SLIM, das Funktionieren des Binnenmarktes durch das Aufzeigen von Wegen zur Vereinfachung und Verbesserung
der einschlägigen Gesetzgebung zu fördern1131.
Konkret in Bezug auf den Erwerb eigener Aktien sah die SLIM-Arbeitsgruppe
unter anderem das Festhalten an der Volumengrenze von 10 % des gezeichneten
Kapitals (Art. 19 I lit. b) a.F. der Zweiten Richtlinie 77/91/EWG vom 13. Dezember
19761132) als nicht mehr erforderlich an, soweit garantiert werde, dass der Rücker-
1129 Auf die Thematik des Finanzierungsverbots für Dritterwerbe soll dagegen im Rahmen dieser
rechtspolitischen Untersuchung nicht eingegangen werden. Es betrifft vorrangig die Problematik von leveraged buy outs (vgl. hierzu bereits die Ausführungen zu § 71 a I AktG, S. 92
f.) und nicht die Grundlagen des Erwerbs eigener Aktien. Durch die Richtlinie 2006/68/EG
vom 21. September 2006 ist das Finanzierungsverbot erheblich gelockert worden, vgl. hierzu
etwa eingehend Oechsler, ZHR 170 (2006), 72, 81 ff.
1130 SLIM steht für „Simpler Legislation for the Internal Market“ - Vereinfachung von Rechtsvorschriften im Binnenmarkt.
1131 DOK KOM (2000), 104 endgültig, S. 3.
1132 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976, im Folgenden nur noch als
„Zweite Richtlinie“ bezeichnet.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Öffentliche Angebote zum Erwerb eigener Aktien erfreuen sich – dem US-amerikanischen Vorbild folgend – auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit. Basierend auf der fortschreitenden Modernisierung des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland in dieser Hinsicht in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt.
Mit einem vergleichenden Blick in die USA, und angelehnt an die Erscheinungsformen und Hintergründe öffentlicher Rückkaufverfahren in der Wirtschaftspraxis, analysiert und hinterfragt die vorliegende Arbeit den geltenden Rechtsrahmen sowie die einschlägige Verwaltungspraxis. Einen Schwerpunkt stellt die vom Autor geforderte Anwendung des WpÜG auf öffentliche Rückerwerbsangebote dar. Zudem spricht sich der Autor unter Verweis auf Missbrauchspotentiale im Zusammenhang mit dem Erwerb eigener Aktien gegen eine Liberalisierung nach US-amerikanischem Vorbild, und dabei insbesondere gegen die An- bzw. Aufhebung der derzeit geltenden 10%-Bestandgrenze für eigene Aktien, aus.
Der Autor ist als Rechtsanwalt im Bereich M&A und Gesellschaftsrecht in einer international ausgerichteten Wirtschaftskanzlei in Stockholm tätig.