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zeigen, kann man Marktanteilsrestriktionen also eine prinzipielle Geeignetheit nicht
absprechen.473
9.4.2. Erforderlichkeit
Ähnlich verhält es sich mit der Erforderlichkeit vielfaltsichernder Maßnahmen. Wie
auch im deutschen Recht betrifft sie die Auswahl des am geringsten in die rechtlichen Interessen der Betroffenen eingreifenden Mittels, sofern mehrere, in gleicher
Weise geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen.474 Dies soll eine möglichst
geringe Belastung der Betroffenen sicherstellen. Für die Rechtsangleichung gilt
allerdings die Besonderheit, dass die Auswahl des schonendsten Instruments und
dessen Intensität an der Gesamtheit der Ziele auszurichten sind; sofern mehrere
legislatorische Absichten verfolgt werden, hat dementsprechend eine Güterabwägung zu erfolgen.475 Die Erforderlichkeit einer Pluralismussicherung auf Gemeinschaftsebene wurde bislang im Hinblick auf mögliche Alternativen zum Entwurf der
Medienkonzentrationsrichtlinie von 1997, beispielsweise der Zurechnung von
Unternehmen, der Einführung von Marktanteilsgrenzen oder auch binnenpluralistischer Elemente bezweifelt.476 Gleichwohl hat die Gemeinschaft zu bewerten,
mithilfe welcher konkreten Regelungen sich das Ziel der paneuropäischen Vielfaltsicherung in den Medien am effektivsten erreichen lässt.
Dies betrifft in erster Linie das „Wie“ einer europäischen Pluralismussicherung.
Konkret geht es dabei auch um die Regulierungstiefe, also um die Frage, wie
detailliert die Regelungen getroffen werden müssen oder ob eine Rahmenrichtlinie
ausreicht.477 Gleiches gilt für die Frage einer horizontalen oder vertikalen Koordinierung der Pluralismussicherung.478 Angesichts der qualitativen und quantitativen Unterschiede der mitgliedstaatlichen Vielfaltsicherung wird man das angestrebte Ziel der Beseitigung von Hindernissen für die Funktionsfähigkeit des
Binnenmarktes nur durch eine hohe Regulierungsdichte erreichen können, sodass
sich die Erforderlichkeit einer gemeinschaftsweiten Pluralismussicherung auf detaillierte Bestimmungen wie die Festsetzung einheitlicher Marktanteilsbeschränkungen
oder die Abschaffung crossmedialer Betätigungsverbote erstreckt.479
473 Ebenso Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das europäische
Recht, S. 156 f.
474 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 39.
475 Siehe Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 39.
476 Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 56 f.
477 Siehe Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das europäische Recht,
S. 158.
478 Hierzu oben, 2.5.
479 Wie hier Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das europäische
Recht, S. 158.
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9.4.3. Angemessenheit
Schließlich haben die Gemeinschaftsbestrebungen zur Sicherung des Pluralismus
auch dem Erfordernis der Angemessenheit gerecht zu werden. Obwohl in Art. 5
Abs. 3 EGV nicht explizit aufgeführt, besagt die ungeschriebene Kompetenzaus-
übungsschranke ähnlich wie das deutsche Pendant der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne,480 dass die im Einzelnen auferlegten Belastungen in angemessener
Relation zur Tragweite der angestrebten Ziele stehen müssen.481 Dies wird im
Schrifttum zwar teilweise in Frage gestellt. Mit der Begründung, die grenzübergreifende Vielfaltsicherung besitze keine hinreichende Wertigkeit, um mit Rücksicht
auf die Kulturhoheit der Einzelstaaten eine verbindliche gemeinschaftliche konkrete
Regelung für die Bekämpfung der Konzentration im Medienbereich zu rechtfertigen,482 kann man der europäischen Pluralismussicherung die Angemessenheit
jedenfalls nicht absprechen.
Das langfristig verfolgte Ziel der Absicherung des freien und demokratischen
Willensbildungsprozesses ist in der Informationsgesellschaft Grundvoraussetzung
der Gesellschaftsform Demokratie. Die gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung der
Medien rechtfertigt sogar besonders intensive Eingriffe in die Interessensphären der
Medienunternehmen zum Wohle der Allgemeinheit. Seine Legitimation findet die
gemeinschaftsweite Vielfaltsicherung nicht zuletzt in Art. 6 Abs. 1 EUV.483 Einer
europäischen Vielfaltregulierung mit dem Argument der Unangemessenheit entsprechender Maßnahmen zu begegnen, dürfte angesichts der großzügigen Haltung
des EuGH a priori zum Scheitern verurteilt sein. Insgesamt bestehen dem Grunde
nach keine Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit einer gemeinschaftsweiten
Vielfaltsicherung.484
480 Dazu Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rdnr. 229 ff.
481 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 40.
482 So Mailänder, Konzentrationskontrolle zur Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten
Rundfunk, S. 343 f.
483 Siehe hierzu auch Beutler, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 20 ff.
484 Im Ergebnis ebenso Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das
europäische Recht, S. 166.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.