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9.4. Verhältnismäßigkeitsprinzip als Kompetenzausübungsschranke
Die Ausübung von Gemeinschaftskompetenzen wird durch das in Art. 5 Abs. 3
EGV enthaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip beschränkt. Die Maßnahmen der Gemeinschaft dürfen nicht über das für die Erreichung der Ziele des EGV erforderliche
Maß hinausreichen. Das vom EuGH als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannte Verhältnismäßigkeitsprinzip465 besagt, dass belastende Maßnahmen nur rechtmäßig sind, wenn die zur Erreichung der betreffenden Regelung verfolgten Ziele geeignet, erforderlich und angemessen sind.466 Es geht also um Art,
Umfang und Intensität einer Gemeinschaftsmaßnahme.467 Der Ermessensspielraum
der Gemeinschaft bzgl. der Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen ist umso breiter,
je komplexer eine Regulierungsmaterie ist, da die regulatorische Bewertung eines
undurchsichtigen Sachverhalts regelmäßig dessen hypothetische Beurteilung voraussetzt.468 Der Einschätzung der Wirksamkeit geplanter Maßnahmen liegen auch politische Überlegungen der Gemeinschaftsorgane zugrunde.469 Daher hat der EuGH
den Überprüfungsmaßstab mitunter auf die Frage beschränkt, ob ein offensichtlicher
Irrtum oder ein Ermessensmissbrauch vorliegt bzw. das Organ die Grenzen seines
Ermessens offenkundig überschritten hat.470
9.4.1. Geeignetheit
Was die Geeignetheit der Maßnahmen zur paneuropäischen Vielfaltsicherung betrifft, so lässt sich deren Sachdienlichkeit kaum bezweifeln. Dies gilt umso mehr, als
der EuGH der Gemeinschaft einen großen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf
die Geeignetheit einer Maßnahme einräumt.471 Bedenken wurden zwar vereinzelt
mit Blick auf eventuelle Marktanteilsbeschränkungen geäußert, da sie andere
Lösungsansätze von vornherein ausschließe.472 Allerdings betrifft die Frage nach
möglichen Alternativen gerade nicht die Geeignetheit einer Maßnahme. Hier ist
lediglich der Frage nachzugehen, ob sich die von der Gemeinschaft vorgeschlagenen
Maßnahmen prinzipiell eignen, das Ziel der Pluralismussicherung zu fördern. Wie
die Beschränkungen des Zuschaueranteils nach dem deutschen Rundfunkrecht
465 Siehe Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 50.
466 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 37.
467 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 50.
468 Vgl. EuGH, C-380/03, Tabakwerbeverbot II, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 45; Calliess, in:
Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 53.
469 Langguth, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 42.
470 Vgl. EuGH, C-84/94, Arbeitszeitrichtlinie, Slg. 1996, I-5755 Rdnr. 58; C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405, Rdnr. 54 ff.
471 Vgl. EuGH, C-84/94, Arbeitszeitrichtlinie, Slg. 1996, I-5755 Rdnr. 58.
472 Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 56 f.
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zeigen, kann man Marktanteilsrestriktionen also eine prinzipielle Geeignetheit nicht
absprechen.473
9.4.2. Erforderlichkeit
Ähnlich verhält es sich mit der Erforderlichkeit vielfaltsichernder Maßnahmen. Wie
auch im deutschen Recht betrifft sie die Auswahl des am geringsten in die rechtlichen Interessen der Betroffenen eingreifenden Mittels, sofern mehrere, in gleicher
Weise geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen.474 Dies soll eine möglichst
geringe Belastung der Betroffenen sicherstellen. Für die Rechtsangleichung gilt
allerdings die Besonderheit, dass die Auswahl des schonendsten Instruments und
dessen Intensität an der Gesamtheit der Ziele auszurichten sind; sofern mehrere
legislatorische Absichten verfolgt werden, hat dementsprechend eine Güterabwägung zu erfolgen.475 Die Erforderlichkeit einer Pluralismussicherung auf Gemeinschaftsebene wurde bislang im Hinblick auf mögliche Alternativen zum Entwurf der
Medienkonzentrationsrichtlinie von 1997, beispielsweise der Zurechnung von
Unternehmen, der Einführung von Marktanteilsgrenzen oder auch binnenpluralistischer Elemente bezweifelt.476 Gleichwohl hat die Gemeinschaft zu bewerten,
mithilfe welcher konkreten Regelungen sich das Ziel der paneuropäischen Vielfaltsicherung in den Medien am effektivsten erreichen lässt.
Dies betrifft in erster Linie das „Wie“ einer europäischen Pluralismussicherung.
Konkret geht es dabei auch um die Regulierungstiefe, also um die Frage, wie
detailliert die Regelungen getroffen werden müssen oder ob eine Rahmenrichtlinie
ausreicht.477 Gleiches gilt für die Frage einer horizontalen oder vertikalen Koordinierung der Pluralismussicherung.478 Angesichts der qualitativen und quantitativen Unterschiede der mitgliedstaatlichen Vielfaltsicherung wird man das angestrebte Ziel der Beseitigung von Hindernissen für die Funktionsfähigkeit des
Binnenmarktes nur durch eine hohe Regulierungsdichte erreichen können, sodass
sich die Erforderlichkeit einer gemeinschaftsweiten Pluralismussicherung auf detaillierte Bestimmungen wie die Festsetzung einheitlicher Marktanteilsbeschränkungen
oder die Abschaffung crossmedialer Betätigungsverbote erstreckt.479
473 Ebenso Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das europäische
Recht, S. 156 f.
474 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 39.
475 Siehe Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 39.
476 Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 56 f.
477 Siehe Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das europäische Recht,
S. 158.
478 Hierzu oben, 2.5.
479 Wie hier Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das europäische
Recht, S. 158.
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References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.