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9.3.2. Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes auf eine europäische Pluralismussicherung
Allerdings stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich aus Art. 5 Abs. 2 EGV inhaltliche Beschränkungen für eine gemeinschaftsweite Vielfaltsicherung ergeben
können. Das Subsidiaritätsprinzip regelt nicht die Kompetenzverteilung, sondern die
Kompetenzwahrnehmung und damit die Arbeitsteilung zwischen der Gemeinschaft
und den Mitgliedstaaten.445 Art. 5 Abs. 2 EGV enthält dementsprechend weder eine
Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten noch ein entsprechendes
Präjudiz gegen die Befugnisse der Gemeinschaft.446 Er entscheidet, wer im Falle
konkurrierender Zuständigkeiten tätig werden kann bzw. muss, bewirkt aber keine
Verdrängung der Gemeinschaftsbefugnisse allein wegen der abstrakten Möglichkeit
einer internationalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten.447
Europa darf also immer dann tätig werden, wenn Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen im Vergleich zu Handlungen auf Ebene der Mitgliedstaaten besser geeignet sind.448 Erforderlich ist ein
qualitativer Mehrwert des Gemeinschaftshandelns im Sinne eines supranationalen
Plus gegenüber der Summe der einzelstaatlichen Maßnahmen.449 Hiervon ist
allerdings nur sehr selten auszugehen.450 Damit wirft das Subsidiaritätsprinzip die
Frage auf, ob eine paneuropäische Vielfaltsicherung vielversprechender auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann.451 Dabei ist nicht auf die Perspektive eines
einzelnen Mitgliedstaates abzustellen, sondern auf die Gemeinschaft aller Mitgliedstaaten.452 Entscheidend ist die Effizienz ihrer Anstrengungen, was nicht zuletzt
durch ihre unterschiedliche Leistungsfähigkeit beeinflusst werden kann.453
Aus Sicht der Gegner einer europäischen Vielfaltsicherung kann der Pluralismus
die Meinungsvielfalt der Gemeinschaft wegen der Relevanz medialer Märkte für
Demokratie und Meinungsfreiheit nicht hinreichend schützen.454 Auf den spezifischen Strukturen des Mediensektors gestützt wurde der Schluss gezogen, medialer
Pluralismus lasse sich wegen der sprachbedingt meist nationalen Ausrichtung
einzelner Medien ausschließlich auf mitgliedstaatlicher Ebene erreichen.455 Angesichts der jüngsten Entscheidung des EuGH zum Werbeverbot für Tabakerzeugnisse
445 Schwartz, AfP 1993, 409 (411).
446 So Schwartz, AfP 1993, 409 (411).
447 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 31.
448 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 28.
449 Zum sog. Mehrwerttest auch Langguth, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 5 EGV
Rdnr. 35.
450 Schellenberg, DZWir 1994, 410 (412).
451 Schwartz, AfP 1993, 409 (412); Mailänder, Konzentrationskontrolle zur Sicherung von Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, S. 100.
452 Albin, NVwZ 2006, 629 (631).
453 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 30 f.
454 Vgl. Gounalakis/Zagouras, JZ 2008, 652 (654).
455 So Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 54.
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erweist sich dieses Argument als obsolet, da das Gericht hier die Angleichungskompetenz der Gemeinschaft aus Art. 95 EGV gerade darauf gestützt hat, „dass der
Verkehr von Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen eine Realität ist, die allen Mitgliedstaaten gemein ist, und sich nicht nur auf die Staaten beschränkt, in denen dieselbe Sprache gesprochen wird.“456 Das Gericht geht sogar davon aus, dass über die
Hälfte der im Verkehr befindlichen Veröffentlichungen aus anderen Mitgliedstaaten
stammen und selbst über das Internet abrufbare Dienste bei der Bewertung des
Binnenmarktbezuges Berücksichtigung finden müssen.457
Teilweise wurde die Subsidiarität sogar mit der Begründung bezweifelt, es fehle
bislang noch an einem einheitlichen europäischen Staatsvolk sowie an einer europäisch dimensionierten Meinungsbildung und entsprechender kultureller Identität.458
Dies würdigt freilich die Tatsache nicht hinreichend, dass es bei der europäischen
Vielfaltsicherung gerade nicht um die kulturelle Vereinheitlichung der Mitgliedstaaten geht, sondern um die Wahrung eines bislang bestehenden und erhaltenswerten Meinungsspektrums. Das Herausbilden eines europäischen Staatsvolkes setzt
das Subsidiaritätserfordernis des Art. 5 Abs. 2 EGV gerade nicht voraus. Ebenso
wurde auf das effizienzorientierte System der publizistischen Wettbewerbsaufsicht
in Deutschland verwiesen,459 wogegen methodischen Bedenken sprechen, da bei der
Beurteilung der Subsidiarität i. S. v. Art. 5 Abs. 2 EGV nicht nur auf individuelle
Rechtsordnungen abzustellen ist.460 Die uneinheitlichen Standards beim Schutz der
Meinungsvielfalt, wie sie derzeit in den Mitgliedstaaten vorzufinden sind, zeichnen
aber alles andere als ein einheitliches Bild.461
Das Ziel, trans- bzw. international vermittelter Meinungsmacht zu begegnen462
und dadurch den Pluralismus in den Medien über schlichte Eigentumsbeschränkungen im Sinne eines Medienkonzentrationsrechts hinaus zu fördern, lässt sich von
den Mitgliedstaaten nicht in Eigenregie erreichen.463 Sie beschränken sich naturgemäß auf die nationale Vielfaltsicherung, können aber gerade der grenzüberschreitenden Akkumulation von Meinungsmacht nicht wirksam begegnen.464 Angesichts
der ohnehin geringen Anforderungen, die vom EuGH an die Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes gestellt werden, steht demnach Art. 5 Abs. 2 EGV einer europäischen Vielfaltsicherung nicht entgegen.
456 EuGH, C-380/03, Tabakwerbeverbot II, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 54.
457 Vgl. EuGH, C-380/03, Tabakwerbeverbot II, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 38 m. w. N.
458 Mailänder, Konzentrationskontrolle zur Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, S. 339.
459 Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 55.
460 Albin, NVwZ 2006, 629 (631).
461 Hierzu Europäische Kommission, Arbeitsdokument Medienpluralismus, S. 20 ff.
462 Gounalakis/Zagouras, ZUM 2006, 716 (721).
463 Gerade dies übersehen beispielsweise Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 55; Mailänder, Konzentrationskontrolle zur Sicherung der Meinungsvielfalt im
privaten Rundfunk, S. 341, der freilich in Einzelfällen zu Differenzierungen bereit ist.
464 Dazu Gounalakis/Zagouras, ZUM 2006, 716 (721).
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9.4. Verhältnismäßigkeitsprinzip als Kompetenzausübungsschranke
Die Ausübung von Gemeinschaftskompetenzen wird durch das in Art. 5 Abs. 3
EGV enthaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip beschränkt. Die Maßnahmen der Gemeinschaft dürfen nicht über das für die Erreichung der Ziele des EGV erforderliche
Maß hinausreichen. Das vom EuGH als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannte Verhältnismäßigkeitsprinzip465 besagt, dass belastende Maßnahmen nur rechtmäßig sind, wenn die zur Erreichung der betreffenden Regelung verfolgten Ziele geeignet, erforderlich und angemessen sind.466 Es geht also um Art,
Umfang und Intensität einer Gemeinschaftsmaßnahme.467 Der Ermessensspielraum
der Gemeinschaft bzgl. der Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen ist umso breiter,
je komplexer eine Regulierungsmaterie ist, da die regulatorische Bewertung eines
undurchsichtigen Sachverhalts regelmäßig dessen hypothetische Beurteilung voraussetzt.468 Der Einschätzung der Wirksamkeit geplanter Maßnahmen liegen auch politische Überlegungen der Gemeinschaftsorgane zugrunde.469 Daher hat der EuGH
den Überprüfungsmaßstab mitunter auf die Frage beschränkt, ob ein offensichtlicher
Irrtum oder ein Ermessensmissbrauch vorliegt bzw. das Organ die Grenzen seines
Ermessens offenkundig überschritten hat.470
9.4.1. Geeignetheit
Was die Geeignetheit der Maßnahmen zur paneuropäischen Vielfaltsicherung betrifft, so lässt sich deren Sachdienlichkeit kaum bezweifeln. Dies gilt umso mehr, als
der EuGH der Gemeinschaft einen großen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf
die Geeignetheit einer Maßnahme einräumt.471 Bedenken wurden zwar vereinzelt
mit Blick auf eventuelle Marktanteilsbeschränkungen geäußert, da sie andere
Lösungsansätze von vornherein ausschließe.472 Allerdings betrifft die Frage nach
möglichen Alternativen gerade nicht die Geeignetheit einer Maßnahme. Hier ist
lediglich der Frage nachzugehen, ob sich die von der Gemeinschaft vorgeschlagenen
Maßnahmen prinzipiell eignen, das Ziel der Pluralismussicherung zu fördern. Wie
die Beschränkungen des Zuschaueranteils nach dem deutschen Rundfunkrecht
465 Siehe Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 50.
466 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 37.
467 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 50.
468 Vgl. EuGH, C-380/03, Tabakwerbeverbot II, Slg. 2006, I-11573, Rdnr. 45; Calliess, in:
Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 53.
469 Langguth, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 42.
470 Vgl. EuGH, C-84/94, Arbeitszeitrichtlinie, Slg. 1996, I-5755 Rdnr. 58; C-233/94, Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405, Rdnr. 54 ff.
471 Vgl. EuGH, C-84/94, Arbeitszeitrichtlinie, Slg. 1996, I-5755 Rdnr. 58.
472 Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 56 f.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.