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9. Europäische Vielfaltsicherung und Kompetenzausübungsschranken
Eine Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Pluralismussicherung muss sich angesichts
dieser Situation hauptsächlich an den Kompetenzausübungsschranken des Primärrechts messen lassen. Als solche kommen insbesondere der Kulturtitel des Art. 151
EGV in Betracht, das in Art. 5 Abs. 2 EGV enthaltene Subsidiaritätsprinzip sowie
das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EGV.
9.1. Art. 151 EGV und die Kulturen der Mitgliedstaaten
Traditionell werden Bedenken gegen eine europäische Medienregulierung auf ein
nicht mehr zeitgemäßes wirtschaftliches Grundverständnis der Gemeinschaft gestützt.368 Das Primärrecht war jedoch nie ganz auf ökonomische Sachverhalte beschränkt. Es hat seit jeher auch soziale, kulturelle und selbst sportliche Tätigkeiten
erfasst, sofern diese in irgendeiner Form gegen Entgelt erbracht werden.369 Dessen
ungeachtet stützt man die Skepsis gegen eine europäische Medienregulierung immer
wieder auf eine extensive Interpretation des primärrechtlichen Kulturbegriffs.370 So
wird selbst nach Einführung von Art. 151 EGV der Standpunkt eingenommen, das
Primärrecht verbiete der Gemeinschaft kategorisch eine Regulierung der Medien
speziell im Hinblick auf die Vielfaltsicherung, da es sich hierbei um einen rein
kulturellen Sachverhalt handle, welcher wegen des Harmonisierungsverbots des
Art. 151 Abs. 5 EGV ausschließlich in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten
falle.371
Dass der Begriff „Kultur“ im Vertrag nicht definiert ist,372 erleichtert die Exegese
des Art. 151 EGV nicht unbedingt.373 Diesem unbestimmten Rechtsbegriff374
werden neben der Literatur und Musik auch die bildende und darstellende Kunst,
das Film-, Bibliotheken- und Museumswesen sowie Hörfunk und Fernsehen zu-
368 Siehe jüngst beispielsweise Hain, AfP 2007, 527 (531 ff.) sowie Dörr/Schiedermair, Ein
kohärentes Konzentrationsrecht für die Medienlandschaft in Deutschland, S. 35.
369 Schwartz, in: Schwarze, Fernsehen ohne Grenzen, 45 (46).
370 Vgl. Mestmäcker/Engel/Gabriel-Bräutigam/Hoffmann, Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die deutsche Rundfunkordnung, S. 35; Hain, AfP 2007, 527 (532).
371 So jüngst etwa Hain, AfP 2007, 527 (532).
372 Fischer, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 151 EGV Rdnr. 5; Blanke, in: Calliess/Ruffert,
EUV/EGV, Art. 151 Rdnr. 1 spricht sogar vom Versuch einer „Quadratur des Kreises“.
373 Siehe zum Kulturbegriff des Art. 151 EGV Jury, Die Maßgeblichkeit von Art. 49 EG für
nationale rundfunkpolitische Ordnungsentscheidungen, S. 217 ff.
374 Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 151 EGV Rdnr. 12.
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gerechnet.375 In Bezug auf die Pluralismussicherung erweist sich jedoch die tatbestandliche Weite und Unbestimmtheit von Art. 151 EGV als unproblematisch, da
selbst bei einer vollumfänglichen Unterordnung der Vielfaltsicherung unter den
Kulturbegriff im Ergebnis keine kompetenzrechtlichen Bedenken bestehen, solange
die Voraussetzungen einer Koordinierung bzw. Angleichung nach Art. 47 Abs. 2
EGV i. V. m. Art. 55 EGV oder Art. 95 EGV gegeben sind.
9.1.1. Harmonisierungsverbot des Art. 151 Abs. 5 EGV
Primärrechtlicher Anknüpfungspunkt für die Kompetenzeinwände gegen die Pluralismussicherung ist überwiegend der Kulturtitel des Art. 151 EGV376 und innerhalb
dessen hauptsächlich das Harmonisierungsverbot des Art. 151 Abs. 5 EGV.377 Dieses sieht vor, dass der Rat als Beitrag zur Verwirklichung der Ziele des Art. 151
EGV, also insb. der Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen Erbes, Fördermaßnahmen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung
der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erlässt. Hierbei handelt es keinesfalls um ein absolutes Harmonisierungsverbot.378
Allein aus der Stellung der Vorschrift im dritten Teil des EGV „Die Politiken der
Gemeinschaft“ ergibt sich, dass Art. 151 EGV prinzipiell dazu geeignet ist, eine
„Gemeinschaftskulturpolitik“ zu begründen; diese darf jedoch nicht darauf gerichtet
sein, nationale Kulturpolitik der Mitgliedstaaten zu ersetzen oder die Kultur zu vereinheitlichen.379 Die Gemeinschaft darf nur Ziele verfolgen, die mit den kulturpolitischen Zielen der Mitgliedstaaten kompatibel und zu ihnen komplementär
sind.380 Anderen kulturrelevanten Wirtschaftsgütern, man denke an Printmedien,
Produkte der Phonoindustrie oder Kunstgegenstände,381 wird Aufmerksamkeit im
Hinblick auf Art. 151 EGV geschenkt, obwohl auch ihnen ein Doppelcharakter
375 Fechner, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Vorbem. zu Art. 151 EGV Rdnr. 18; Ress/
Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 151 EGV Rdnr. 13.
376 Vgl. Iliopoulos-Strangas, in: Stern/Prütting, Kultur- und Medienpolitik im Kontext des Entwurfs einer europäischen Verfassung, 29 (93 f.).
377 Dörr/Schiedermair, Ein kohärentes Konzentrationsrecht für die Medienlandschaft in
Deutschland, S. 37; Hain, AfP 2007, 527 (532).
378 Siehe Schwarze, ZUM 2002, 89 (91 f.); Iliopoulos-Strangas, in: Stern/Prütting, Kultur- und
Medienpolitik im Kontext des Entwurfs einer europäischen Verfassung, 29 (93). Zur Förderkompetenz Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 151 EGV
Rdnr. 38 ff.
379 Fechner, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 151 EGV Rdnr. 3; ähnlich Ress/
Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 151 EGV Rdnr. 92.
380 Nettesheim, JZ 2002, 157 (162) m. w. N.
381 Schwartz, AfP 1987, 375 (376).
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ebenfalls zu attestieren ist.382 Daher reicht nicht jeder kulturelle Bezug aus, um ein
Harmonisierungsverbot zu begründen.
Ganz im Gegenteil: Wie noch näher zu erörtern sein wird, lässt die Rechtsprechung schon den geringsten ökonomischen Bezug eines Sachverhalts ausreichen, um ein Harmonisierungsverbot faktisch zu entwerten. Dessen ungeachtet
wird von großen Teilen des Schrifttums unter Bezugnahme auf die vom EuGH in
der Elliniki-Radiophonia-Tileórassi-Entscheidung383 getroffenen Erwägungen zum
Verfolgen nicht-ökonomischer Zielsetzungen in der nationalen Rundfunkgesetzgebung teilweise davon ausgegangen, nur bestimmte Aspekte des Rundfunkrechts
seien einer europäischen Regulierung zugänglich.384 Die Rede ist von einer Beschränkung der Gemeinschaftsbefugnisse bei der Kulturregulierung auf Annexkompetenzen.385 Zur Begründung wird teilweise aber weniger auf europarechtsdogmatische Erwägungen zurückgegriffen,386 teils aber auch auf kulturelle Aspekte
der Vielfaltsicherung speziell im Fernsehen.387 Andere rechnen das Medienkonzentrationsrecht hingegen der wirtschaftlichen Seite des Rundfunks zu.388
9.1.2. Kompetenzrechtliche Unbedenklichkeit der kulturellen Dimension der
Pluralismussicherung
Dass weder Art. 47 Abs. 2 EGV i. V. m. Art. 55 EGV noch Art. 95 EGV als Persilschein zur Vereinheitlichung der Kulturpolitik der Mitgliedstaaten missbraucht
werden, ergibt sich aus der Tatsache, dass die Gemeinschaftsbestrebungen zur
Sicherung des medialen Pluralismus in keiner Weise darauf ausgerichtet sind, eine
europäische Einheitskultur zu etablieren.389 Selbst kritische Stimmen räumen ein,
dass die europäische Vielfaltsicherung kulturelle Belange der Mitgliedstaaten allenfalls peripher tangiert.390 Die Bewahrung der kulturellen Identität und Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten391 steht nicht im Widerspruch zu einer europäischen
382 Überblick der kulturellen Aktivitäten der Gemeinschaft findet sich bei Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 151 EGV Rdnr. 117 ff.
383 EuGH, C-260/89, Elliniki Radiophonia Tileórassi, Slg. 1991, I-2925.
384 Herrmann/Lausen, Rundfunkrecht, § 8 Rdnr. 60; ähnlich Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, Rdnr. 534. A. A. Gounalakis, Konvergenz der Medien, S. 22.
385 Mailänder, Konzentrationskontrolle zur Sicherung von Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, S. 97 f., der freilich auch die mediale Pluralismussicherung unter entsprechende Annexkompetenzen der Gemeinschaft fassen will.
386 Vgl. Herrmann/Lausen, Rundfunkrecht, § 8 Rdnr. 84, wo argumentiert wird, ein Aushöhlen
der Länderkompetenzen durch das europäische Sekundärrecht sei nicht zulässig. Dies betrifft
aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nur die Umsetzung in nationales Recht.
387 So Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, Rdnr. 534.
388 Degenhart, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdnr. 661.
389 Dazu Zagouras, AfP 2007, 1 ff.
390 Vgl. etwa Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 61.
391 Vgl. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 151 EGV Rdnr. 1 ff.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.