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8.2.2. Pluralismussicherung als Koordinierungsmaßnahme
Einzelstaatliche Regulierung in Sachen Vielfaltsicherung kann eine erhebliche Beschränkung des freien Sendeverkehrs von Rundfunkanstalten sowie der Niederlassungsfreiheit hervorrufen.289 Der Tatbestand des Art. 47 Abs. 2 EGV i. V. m.
Art. 55 EGV ist in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit290 schon wegen der Unterschiedlichkeit der nationalen Konzentrationsregelungen eröffnet,291 da die divergierenden Rechtsrahmen verschiedene Rechtsfolgen vorsehen und damit den gemeinsamen Markt nachhaltig beschneiden können.292 Hierzu zählen Beteiligungsbeschränkungen, Betätigungsverbote etwa infolge publizistischer Gewaltenteilung
oder Marktanteilsregulierung wie Zuschauer- oder Leseranteilsbeschränkungen.
Gleichartige Regelungen wie die Einführung einheitlicher Marktanteilsbegrenzungen nach Vorbild des § 26 Abs. 2 S. 1 RStV in Höhe von 30 % der Fernsehzuschauer wären insbesondere der Koordinierung der Niederlassungsfreiheit von Medienunternehmen zugänglich. Gleiches gilt für medienordnungsrechtliche Gesichtspunkte der Vielfaltsicherung, wie die Staatsfreiheit der Medienaufsicht.293
Die Befugnis zur gemeinschaftsweiten Pluralismussicherung lässt sich aber auch
auf der Dienstleistungsfreiheit fußen. Dies gilt insbesondere für die Veranstaltung
von Rundfunksendungen. Hier können Beeinträchtigungen der Sendetätigkeit in den
Mitgliedstaaten aus den nationalen Konzentrationsregelungen resultieren.294 Nichts
anderes gilt für Telemedien, welche Dienstleistungen über die Plattform Internet erbringen. Die nach Art. 47 Abs. 2 EGV und Art. 55 EGV erforderliche Erleichterung
der Niederlassung und Erbringung von medialen Dienstleistungen wie Rundfunk ist
daher in der Vereinheitlichung der konzentrationsrechtlich maßgeblichen Kriterien
zu erblicken.
Dass eine solche Sichtweise nicht die inhärenten Grenzen der Koordinierungskompetenzen berücksichtige und allein in der Verschiedenheit nationaler Rechtsvorschriften noch keine hinreichende Grundlage für ein gemeinschaftsweites Antikonzentrationsrecht erblickt werden könne,295 lässt sich heute in dieser Form heutzu-
289 Schon deshalb können nationale Alleingänge zu Wettbewerbsverzerrungen bzw. Wettbewerbsbeschränkungen führen. In diesem Sinne bereits Schwartz, AfP 1987, 375 (378) sowie
Brühann, ZUM 1993, 600 (602). Vgl. sogar Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und
Medienvielfalt, S. 34.
290 Zur Niederlassungsfreiheit von Rundfunkunternehmen Mailänder, Konzentrationskontrolle
zur Sicherung von Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, S. 110 ff.
291 Hierzu oben, 5.
292 Siehe Schüll, Schutz der Meinungsvielfalt im Rundfunkbereich durch das europäische Recht,
S. 139 m. w. N.
293 Dazu Zagouras, AfP 2007, 1 (2 f.).
294 Vgl. zum entsprechenden Explanatory Memorandum der Europäischen Kommission insb.
Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 32 f.
295 So etwa Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt, S. 37, die einen entsprechenden Regelungsbedarf allenfalls dann erblicken möchten, wenn mitgliedstaatliche
Regelungen EG-Ausländer faktisch diskriminieren, etwa weil die gewährte Gleichstellung
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tage nur schwerlich vertreten. Gegen eine Gemeinschaftsbefugnis wird zwar ins
Feld geführt, dass Koordinierungsmaßnahmen im Bereich der Vielfaltsicherung
nicht auf die Erleichterung der Niederlassungsfreiheit, sondern auf eine Uniformität
der Ausübungsvoraussetzungen abzielten. Der EuGH billigt aber dem Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Auslegung des Begriffs Koordinierung einen breiteren
Ermessensspielraum gerade im Hinblick auf das angestrebte Koordinierungsziel
zu.296 Damit obliegt die Beurteilung der Frage, ob eine Koordinierungsmaßnahme
tatsächlich der Erleichterung der Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen
Tätigkeit bzw. des Erbringens einer Dienstleistung dient, in erster Linie der Gemeinschaft selbst.297 Selbst im europakritischen Schrifttum wird diesbezüglich anerkannt,
dass eine europäische Vielfaltsicherung zumindest dem Grunde nach auf die Art. 47
Abs. 2 EGV i. V. m. Art. 55 EGV gestützt werden kann: Zuständigkeitsbedenken
werden daher auf die Kompetenzausübungsschranken des Gemeinschaftsrechts verlagert.298
8.3. Pluralismussicherung als Angleichungsmaßnahme nach Art. 95 EGV
8.3.1. Angleichungsvoraussetzungen
Neben der Koordinierungskompetenz der Art. 47 Abs. 2 EGV i. V. m. Art. 55 EGV
kommt als Ermächtigungsgrundlage für eine gemeinschaftsweite Vielfaltsicherung
auch der durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) eingeführte Art. 95 Abs. 1
S. 2 EGV in Betracht.299 Er gestattet dem Rat bei Einhaltung des Verfahrens nach
Art. 251 EGV und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu ergreifen, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Nach Art. 95 Abs. 1 S. 1 EGV darf eine solche
Harmonisierung zur Erreichung der Ziele des Art. 14 EGV verfolgt werden, zu
denen die schrittweise Verwirklichung des Binnenmarktes als Raum ohne Binnengrenzen gehört, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen
und Kapital nach Maßgabe des EGV gewährleistet ist.300 Die Vorschrift ist die geeignete Rechtsgrundlage zur Beseitigung von Hindernissen für die Grundfreiheiten
und Wettbewerbsverzerrungen, welche sich aus Unterschieden zwischen den innerstaatlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten ergeben und der Errichtung und dem
mit Inländern dazu führt, dass man beispielsweise Qualifikationsnachweise doppelt erbringen
muss.
296 Siehe etwa EuGH, C-63/89, Assecurances du crédit, Slg. 1991, I-1799 Rdnr. 10 f.
297 Schlag, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 47 Rdnr. 26 m. w. N.
298 Vgl. etwa Dörr/Schiedermair, Ein kohärentes Konzentrationsrecht für die Medienlandschaft
in Deutschland, S. 35.
299 Vgl. Brühann, ZUM 1993, 600 (602); a. A. Dörr, in: Dörr/Müller-Graff, Medien in der
Europäischen Gemeinschaft, 95 (111).
300 Fischer, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 95 EGV Rdnr. 1.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.