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7.2. Funktionalität der Kompetenzzuweisungen
Anders als das deutsche Recht knüpft das Kompetenzgefüge der Gemeinschaft nicht
an Sachkriterien an wie beispielsweise der Telekommunikationszuständigkeit des
Bundes nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG.242 Vielmehr legt das Primärrecht speziell bei
Art. 95 EGV die Funktion einer geplanten Regelung als zentrales Differenzierungsmerkmal zugrunde.243 Die Rede ist von funktionalen Kompetenzzuweisungen,
welche die umfangreichen Ziele und Aufgaben der Gemeinschaft zum Anknüpfungspunkt nehmen und gerade im Fall des Art. 95 Abs. 1 EGV sehr weit gefasst sind.244 Im Zusammenspiel mit der Auslegungsregel des „effet utile“ erblicken
Teile des Schrifttums hierin die Gefahr einer allzu extensiven Auslegung, was in
Konflikt zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung treten kann.245 Lässt sich
dem EGV unter diesen Gesichtspunkten weder explizit noch implizit eine Zuständigkeit der Gemeinschaft entnehmen, so verbleibt die Rechtsetzungskompetenz
bei den Mitgliedstaaten.
7.3. Reichweite der Kompetenzzuweisungen
Die Frage, ob der Gemeinschaft die Kompetenz zur Schaffung einer gemeinschaftsweiten Vielfaltsicherung zukommt, muss auf zwei Ebenen beurteilt werden. In
einem ersten Schritt ist unter Wahrung des Grundsatzes der beschränkten Einzelermächtigung zu untersuchen, ob überhaupt die Voraussetzungen einer Kompetenzzuweisungsnorm erfüllt sind. Hierbei geht es nur um die Tatbestandsmäßigkeit einer
bestimmten Maßnahme, beispielsweise einer Koordinierung nach Art. 47 Abs. 2
EGV i. V. m. Art. 55 EGV. Wegen des funktionalen Verständnisses der Befugnisnormen des EGV erachtet es der EuGH als unbeachtlich, inwieweit neben dem Abbau von Hemmnissen für die Verwirklichung von Grundfreiheiten bzw. der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen noch weitere beispielsweise medien- oder
kulturpolitische Ziele verfolgt werden.246 Dass der EuGH die Frage, wie stark der
Anteil nicht binnenmarktsbezogener Regelungszwecke sein muss, als irrelevant erachtet, solange die Voraussetzungen einer binnenmarktsbezogenen Harmonisierungskompetenz zu bejahen sind, wird zwar beispielsweise von Hain mit durchaus
beachtlichen Argumenten kritisiert.247 Die Kritik kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich inhaltlich auf Tatbestandsebene keine Beschränkungen für Meta-
242 Abgrenzend zur Rundfunkkompetenz der Länder schon BVerfGE 12, 205 (237) – Deutschland Fernsehen GmbH.
243 Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 4.
244 König, in: Schulze/Zuleeg, Europarecht, § 2 Rdnr. 5; Gounalakis, Konvergenz der Medien,
S. 21 f.
245 Vgl. König, in: Schulze/Zuleeg, Europarecht, § 2 Rdnr. 5 m. w. N.
246 Vgl. EuGH, C-376/98, Tabakwerbeverbot, Slg. 2000, I-8419 Rdnr. 88.
247 Hain, AfP 2007, 527 (533).
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References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.