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6. Pluralismussicherung als Gegenstand gemeinschaftlicher
Koordinierung
6.1. Europäische Vielfaltsicherung als medienpolitische Fragestellung
Ob und in welchem Umfang sich die Europäische Gemeinschaft der Medienregulierung annehmen darf, wird seit den Tagen des Fernsehgrünbuches kontrovers
diskutiert.209 Die Argumentation der Europaskeptiker ist oft politisch motiviert: Die
Regulierung bzw. Kontrolle über die Medien ist eng mit politischem Einfluss verknüpft.210 Nachweise lassen sich allein im nationalen Recht reichlich finden. Schon
in der Weimarer Republik versuchte die Reichsregierung, das Gewicht der Länder
zurückzudrängen und so die Kontrolle über den Hörfunk zu übernehmen.211 Die
völlige Vereinnahmung der Massenmedien im Nationalsozialismus212 und deren
Gleichschaltung in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR213
trachteten schließlich danach, jede Form freier Meinungsbildung zu unterdrücken.214
Selbst im Geltungsbereich des Grundgesetzes wollte man das Fernsehen für
eigene Zwecke einsetzen, was durch das Fernsehurteil verhindert wurde.215 Dass
Medienkonzerne erheblichen Einfluss auf die Politik ausüben können, zeigte in
jüngster Zeit das Vorhaben der sog. „Lex Holtzbrinck“.216 Nach dem Scheitern der
Übernahme des Berliner Verlags durch die Holtzbrinck-Gruppe217 sollten die
209 Grünbuch über die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes für den Rundfunk, insbesondere
über Satellit und Kabel – Fernsehen ohne Grenzen, KOM (84) 300 endg. vom 14.6.1984.
210 Dazu bereits oben, 1.3.1.
211 Schon früh wurde zur politischen Überwachung des Rundfunks ein Überwachungsausschuss
geschaffen, der von Reich und Ländern bestellt wurde. BVerfGE 12, 205 (208) – Deutschland
Fernsehen GmbH.
212 Dazu etwa Ricker/Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, Kap. A, Rdnr. 34; Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung, S. 38; Holznagel, Rundfunkrecht in Europa, S. 11.
213 Siehe Ricker/Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, Kap. A, Rdnr. 43. 1945 wurde der Deutsche
Demokratische Rundfunk gegründet und der Deutschen Verwaltung für Volksbildung unterstellt. Allerdings bestanden die Zensorbefugnisse der sowjetischen Militäradministration weiterhin fort, sodass letztlich auch eine Doppelzensur möglich war. Hesse, Rundfunkrecht,
Kap. 1 Rdnr. 101.
214 Vgl. Zagouras, Konvergenz und Kartellrecht, S. 235 ff.
215 BVerfGE 12, 205 (230 ff.) – Deutschland Fernsehen GmbH.
216 Hierzu etwa Bremer/Martini, ZUM 2003, 942 ff.
217 Die Übernahme scheiterte am Widerstand des BKartA, welches wegen bereits bestehender
Aktivitäten der Verlagsgruppe in Berlin negative Folgen für den dortigen Anzeigenmarkt
prognostizierte. Vgl. BKartA WuW/E DE-V 871 ff. – Tagesspiegel/Berliner Zeitung. Im Anschluss versuchte der Verlag den Zusammenschluss vergeblich durch eine Ministererlaubnis
gem. § 42 GWB auf politischer Ebene durchzusetzen, um schließlich über das BMWA einen
Gesetzesentwurf zu forcieren, der es ermöglichen sollte, sich über wettbewerbliche Bedenken
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speziellen kartellrechtlichen Vorschriften über Unternehmenszusammenschlüsse
von Presseorganen faktisch weitestgehend außer Kraft gesetzt werden.218
Als politisch noch brisanter erweisen sich Vorstöße der Gemeinschaft, die
Medien zu regulieren, da sie das Risiko eines (medien-)politischen Machtverlustes
der Mitgliedstaaten in sich bergen. Zwar geben jene in juristischer Hinsicht nur
Teilbefugnisse ab. Politisch verlieren sie durch einen „Markteintritt“ der Gemeinschaft an Einfluss auf die Massenmedien.219 Letztere sind sich ihres Einflusses auf
die öffentliche Meinungsbildung seit jeher bewusst, weswegen sie sich gegen
Wachstumsbeschränkungen auf dem gesamteuropäischen Markt zu Wehr setzen.
6.2. Rechtliche Dimension einer europäischen Medienregulierung
Neben dieser politischen Dimension der Medienregulierung gibt es freilich noch
eine juristische Diskussion um Koordinierungsbestrebungen der Gemeinschaft im
Bereich der Pluralismussicherung. Das Meinungsspektrum reicht vom vollumfänglichen Begrüßen europäischer Vorstöße220 bis hin zu deren kategorischer Ablehnung.221 Die Binnenmarktrelevanz grenzüberschreitender Rundfunk- und Fernsehsendungen wird teils als offensichtlich unterstellt, teils vehement bestritten.222
Andere fordern gemeinschaftsweite Antikonzentrationsvorschriften223 oder halten
Plädoyers für ein plattformübergreifendes Medienkonzentrationsrecht.224 Selbst die
Gründung eines europäischen Rundfunk- und Hörfunksenders wird angeregt.225
Bei der Sicherung von Meinungsvielfalt handelt es sich angesichts der medien-
ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre unabhängig von der Wahl der
zugunsten eines gesellschaftsrechtlich vermittelten Mitbestimmungsrechts der Journalisten
hinwegzusehen. Kritisch hierzu insbesondere Säcker, BB 2003, 2245 ff.
218 Bremer/Martini, ZUM 2003, 942.
219 Siehe zur Konstituierungs- und Begrenzungsfunktion der Kompetenzverteilung zwischen
Gemeinschaft und Mitgliedstaaten v. Bogdandy/Bast, in: Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 5 EGV Rdnr. 8.
220 Siehe etwa Brühann, ZUM 1993, 600 (605); Schwartz, AfP 1993, 409 (420 f.).
221 Stellvertretend für viele Ress/Bröhmer, Europäische Gemeinschaft und Medienvielfalt,
S. 88 ff.
222 Kotzur, in: Schulze/Zuleeg, Europarecht, § 38 Rdnr. 39.
223 So etwa Holznagel, Rundfunkrecht in Europa, S. 356 f.
224 Gounalakis/Zagouras, ZUM 2006, 716 (723 ff.). Ähnlich Mailänder, AfP 2007, 297 (303),
der die eindimensionale Konzentrationskontrolle im Fernsehen als „isoliert und künstlich“
ansieht und ihre Einbettung in eine Medienkonzentrationskontrolle als Frage der Zeit einschätzt.
225 Dies schlägt Wemmer, Die neuen Kulturklauseln des EG-Vertrages, S. 100 f. vor. Ein solcher
Sender sollte nach Vorbild der Deutschen Welle organisiert sein und der zunehmenden Medienkonzentration entgegengestellt werden. Dies scheint freilich im Hinblick auf das gerade
der Vielfaltsicherung dienende Prinzip der Staatsfreiheit des Rundfunks bedenklich.
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References
Zusammenfassung
Meinungsvielfalt ist für die Demokratie in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Bedroht wird sie durch eine zunehmende Uniformität der Berichterstattung und Medienkonzentration. Zwar haben sich die meisten Mitgliedstaaten der EU zur Schaffung antikonzentrationsrechtlicher Bestimmungen entschieden, diese beschränken sich aber auf die Erfassung nationaler Meinungsmacht. Grenzüberschreitendes Engagement von Medienkonzernen wird regulatorisch kaum berücksichtigt.
Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Weise die Europäische Gemeinschaft Pluralismussicherung betreiben soll. Dabei geht es zunächst darum, welchen Gefahren die Meinungsvielfalt in der Informationsgesellschaft ausgesetzt ist und welche Mediensektoren von einer Pluralismussicherung erfasst sein sollten. Weitere Schwerpunkte liegen auf der europarechtlichen Legitimation der Materie sowie auf der kontrovers diskutierten Frage, ob sich die Gemeinschaft auf ihre Koordinierungsbefugnis aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 55 EGV berufen kann oder Kompetenzausübungsschranken entgegenstehen. Die Publikation richtet sich an Medien- und Europarechtler sowie Kommunikations- und Politikwissenschaftler.