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Teil 3 – Sekundärrechtliche Vereinheitlichung der Sachaufklärung in der
Europäischen Union?
Die Untersuchung der Sachaufklärung mit Auslandsbezug im zweiten Teil der Arbeit hat gezeigt, dass es derzeit nicht möglich ist, in einem anderen Mitgliedstaat
belegene Vermögensgüter ausfindig zu machen – von einigen Ausnahmekonstellationen einmal abgesehen. Es stehen keine rechtlichen Instrumente zur Verfügung, die
die Aufklärung des vollstreckungserheblichen Schuldnervermögens im grenzüberschreitenden Verkehr in zufriedenstellender Weise ermöglichen.
Es stellt sich dabei nicht nur die Frage, inwieweit sich das deutsche Zwangsvollstreckungsrecht dieser Situation anpassen und praktische Defizite ausgleichen
soll,825 sondern auch, ob darüber hinaus eine Harmonisierung der Sachaufklärungsmethoden innerhalb der EU denkbar und sinnvoll ist – ob also ein europarechtliches
Instrument geschaffen werden sollte, das die Sachaufklärung auch auf dem Gebiet
anderer Mitgliedstaaten erlaubt.
Bisher wurde auf europäischer Ebene bereits mehrfach die Absicht bekundet, die
informationelle Grundlage für eine Zwangsvollstreckung mit Bezug zu mehreren
Mitgliedstaaten zu verbessern.
Ein erster gedanklicher Schritt ergab sich, als eine Arbeitsgruppe unter Marcel
Storme im Auftrag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften ein Modellgesetz für eine einheitliche europäische Zivilprozessordnung erarbeiten sollte. Der
Entwurf, der 1993 nach fünf Jahren fertiggestellt wurde, widmet jedoch insgesamt
nur zwei Artikel der Zwangsvollstreckung.826 In Art. 12.4 sind zwei Ansatzpunkte
für eine vereinheitlichte Sachaufklärung benannt. Zum einen soll sich der Vollstreckungsschuldner über sein Vermögen erklären und zum anderen sollen Dritte gezwungen werden können, den Vollstreckungsorganen vermögensrelevante Informationen zu erteilen. Der Entwurf beschränkt sich dabei darauf, zwei Quellen für die
Datenerhebung zu nennen: den Schuldner selbst und Dritte, die Informationen über
dessen Vermögen erteilen können. Wie und unter welchen Voraussetzungen die
Befragungen durchgeführt und erzwungen werden sollen, wird nicht näher ausgeführt.827
In den darauf folgenden Jahren fand die Frage nach der Sachaufklärung in der
Zwangsvollstreckung auch Eingang in die Grundlagenarbeit des Europäischen Rates. Im so genannten Tampere-Programm von 2001828 wurde vorgeschlagen, Maßnahmen zur Ermittlung der Vermögenswerte eines Schuldners einzuführen, um die
825 Näher dazu siehe oben S. 225 ff.
826 Art. 12 und 13 des Modellgesetzes. Vgl. dazu Rick, S. 215 ff., Schilken in ZZP 1996, S. 330
ff. (insbesondere auch zur Sachaufklärung), S. 271 ff. (zur Historie des Modellgesetzes).
827 Vgl. Schilken in ZZP 1996, S. 332 f.
828 Maßnahmenprogramm Nr. 2001/C12/01.
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gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen praktisch fortzusetzen.829 Dabei wurde offengelassen, in welcher rechtlichen
Form diese Vorgabe umzusetzen ist. Das zeitliche Ziel, die einzelnen Punkte des
Programms bis 2004 zu realisieren, konnte nicht eingehalten werden. Auf der
Grundlage des Papiers von Tampere wurde jedoch bis 2002 eine Studie zur Effektivierung der Zwangsvollstreckung innerhalb der EU durchgeführt,830 die das baldige
Erscheinen eines Grünbuchs erwarten lassen.
Für den Zeitraum von 2005 bis 2010 schließt das Haager Programm zur Stärkung
von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union831 an das Tampere-
Programm an. Das Papier aus dem Jahr 2004 widmet sich wie sein Vorgänger auch
der Justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen.832 Vorrang hat danach, das Tampere-Programm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zu vollenden. Die Grenzen
zwischen den europäischen Ländern dürften kein Hindernis mehr für die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen sein, so formulieren die Mitglieder des Rats.
Auf die Einzelheiten des Vollstreckungsverfahrens wie die Sachaufklärung wird
dort jedoch nicht neuerlich eingegangen.
In welcher Form die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung auf europäischer Ebene harmonisiert werden soll, bleibt damit offen. In jedem Fall darf die
Wirkung eines solchen Instruments nicht losgelöst betrachtet werden. Entscheidend
sollte vielmehr sein, wie sich die Neuerung in das Zwangsvollstreckungsverfahren
der Mitgliedstaaten integrieren lässt. Dieser letzte Verfahrensabschnitt der Rechtsverwirklichung liegt nämlich nach wie vor in der Hand der einzelnen Staaten. Bereits bei der Untersuchung dreier Rechtsordnungen mit teils gemeinsamem historischen Hintergrund hat sich gezeigt, dass die Zwangsvollstreckung sehr unterschiedlich ausgestaltet ist.833 Eine vereinheitlichte Sachaufklärung müsste sich der großen
Herausforderung stellen, sich in alle Systeme gleichermaßen gut einfügen zu können. Darüber hinaus sind im Bereich der Zwangsvollstreckung auch Gedanken über
die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen der Europäischen Union nicht fernliegend.834
829 Maßnahmenprogramm Nr. 2001/C12/01, III.E.
Vgl. hierzu auch die Seiten 20–60 der Study No. JAI/A3/2002/02 on making more efficient
the enforcement of judicial decisions within the European Union: Transparency of a Debtor’s
Assets, Attachment of Bank Accounts, Provisional Enforcement and Protective Measures.
Die Studie ist online abrufbar unter http://www.ipr.uni-heidelberg.de/studie/generalrep.htm
[17.5.08]
830 Study No. JAI/A3/2002/02 on making more efficient the enforcement of judicial decisions
within the European Union: Transparency of a Debtor’s Assets, Attachment of Bank Accounts, Provisional Enforcement and Protective Measures. Die Studie ist online abrufbar unter http://www.ipr.uni-heidelberg.de/studie/generalrep.htm [17.5.08]
831 Maßnahmenprogramm Nr. 16054/04.
832 Maßnahmenprogramm Nr. 16054/04, III.3.4.1.
833 Vgl. oben S. 147.
834 Bislang sind auf der Grundlage von Art. 65 EG nur sehr wenige Rechtsetzungsakte zum
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In diesem Sinne erscheint es zunächst einmal naheliegend, die Sachaufklärung
ausgehend vom jeweiligen Verfahren der einzelnen Mitgliedstaaten im geringst
möglichen Umfang zu überformen. Den Mitgliedstaaten könnte beispielsweise aufgegeben werden, ihre eigenen Sachaufklärungsmaßnahmen grundsätzlich auch auf
Vermögensgegenstände im Ausland zu erstrecken. Dabei erweist sich jedoch als
problematisch, dass sich nicht alle Quellen der Sachaufklärung gleichermaßen dazu
eignen, einen Bezug zum Ausland herzustellen. Lediglich der Schuldner oder Dritte
können flexibel zu den entsprechenden Informationen befragt werden. Das deutsche
und englische Recht, die sich bei der Sachaufklärung fast ausschließlich auf die
Befragung von Personen stützen,835 sähen sich deshalb nur geringen Problemen
gegenüber. Das französische Recht hingegen, das zur Sachaufklärung national begrenzte Datenbestände bemüht,836 stieße bei dieser Art der Europäisierung an Grenzen. Datenbestände lassen sich nicht beliebig auf ausländische Belegenheiten erweitern. Denkbar wäre lediglich, den Katalog der Informationen, den die französische
Staatsanwaltschaft ermitteln darf, um eine internationale Komponente zu erweitern.
Dies setzte allerdings die Zusammenarbeit mit den Behörden anderer Mitgliedstaaten voraus und entglitte mangels Zielführung in den meisten Fällen ins Uferlose.
Vergleichbare Probleme würden sich vermutlich für einige andere Rechtsordnungen
stellen. Damit ist ein solches Konzept von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine
entsprechende Richtlinie wäre praktisch kaum umsetzbar und führte dazu, dass die
Europäisierung der Sachaufklärung in den einzelnen Mitgliedstaaten eine sehr unterschiedliche Intensität erreichen würde.
Eine weitere Möglichkeit, die Informationsflüsse für Gläubiger auf europäischer
Ebene zu verbessern, läge darin, den Zugriff auf die Sachaufklärungsmöglichkeiten
auch derjenigen Mitgliedstaaten zu erweitern, in denen der Gläubiger kein Vollstreckungsverfahren betreibt. Bislang gestattet von den hier untersuchten Rechtsordnungen nur das englische Recht einen solchen Zugang. Hier kann der Gläubiger
unter bestimmten Voraussetzungen von außen eine worldwide freezing order erwirken.837 Besonders nahe liegt dieses Konzept, wenn sich entsprechende Anknüpfungspunkte ergeben, beispielsweise wenn sich der Schuldner oder eine dritte Person, die zum Vollstreckungsvermögen befragt werden soll, in dem Mitgliedstaat
aufhalten, der zur Sachaufklärung schreiten soll. Als gesamteuropäisches Konzept
jedoch sollte auch dieser Ansatz vor allem angesichts seiner praktischen Umsetzung
kritisch hinterfragt werden. Bedenken ergeben sich besonders daraus, dass die Sachaufklärung häufig, so beispielsweise auch im deutschen oder im französischen
Recht, funktional in das Vollstreckungsverfahren eingebettet ist.838 Man müsste aus
europäischer Sicht also nicht nur verlangen, dass der Gläubiger eines Vollstre-
Verfahren der Zwangsvollstreckung selbst, sondern lediglich zu vorgelagerten Fragestellungen ergangen. Vgl. oben FN 685.
835 Siehe oben S. 141.
836 Siehe oben S. 141.
837 Siehe oben S. 213.
838 Siehe oben S. 139.
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ckungsverfahrens in einem Mitgliedstaat die Sachaufklärungsinstrumente eines
anderen Mitgliedstaats in Anspruch nehmen kann, sondern zudem auch, dass diese
einem Vollstreckungsverfahren dort grundsätzlich vorzulagern sind. Damit griffe
man aber ganz grundlegend in die jeweilige Systematik ein, die die Mitgliedstaaten
bei der Sachaufklärung verfolgen.
Darüber kann auch nicht hinweggeholfen werden, indem die Sachaufklärung nach
den Vorgaben des jeweiligen Vollstreckungsstaats durchgeführt wird. Zu unterschiedlich sind nicht nur die Quellen, sondern auch das Verfahren der Datenerhebung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Man denke hier nur an die unterschiedliche
Gewichtung von Verschwiegenheitsrechten, die unterschiedlichen Zuständigkeiten,
oder allgemein an die sehr verschiedene Rolle des Schuldners bei der Sachaufklärung.839 Wie bereits die Erwägungen zur Europäischen Beweisverordnung zeigen,
lässt sich eine solche grenzüberschreitende Sachaufklärung auf der Grundlage der
verschiedenen leges fori nicht oder nur unter größten Reibungsverlusten bewerkstelligen.840
Will man die Informationsflüsse innnerhalb der Europäischen Union verbessern,
wird es deshalb letztlich unumgänglich sein, ein genuin europäisches Sachaufklärungsinstrument einzuführen, das neben dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfahren steht und dieses um die erforderliche grenzübergreifende Komponente ergänzt.
Dafür eignet sich die Befragung des Schuldners zu seinen Vermögensumständen am
besten. Zwar ist sie als Methode der Sachaufklärung mit vielen Schwächen behaftet,
dennoch besticht sie auf europäischer Ebene im Vergleich zu anderen Informationsquellen durch ihre geringen institutionellen Voraussetzungen und durch ihre klare
Bestimmbarkeit. Dies wäre weder bei der Informationserhebung aus bestehenden
Datenbeständen noch bei der Befragung Dritter der Fall.
Um zu ermöglichen, dass ein Vollstreckungsgläubiger ausgehend von einem Mitgliedstaat die Erfolgsaussichten für ein Vollstreckungsverfahren in einem anderen
Mitgliedstaat eruieren kann, müsste die Schuldnerbefragung unabhängig von einem
dort anhängigen Zwangsvollstreckungsverfahren durchgeführt werden können. Je
nach dem, wie stark die innereuropäische Vollstreckbarkeit von Titeln betont werden soll, können die Voraussetzungen für eine solche europäische Schuldnererklärung geringer oder höher ausgestaltet werden. Ob ein Gläubiger bereits gegen den
Nachweis eines vollstreckbaren Titels oder gegen den Nachweis einer bereits fehlgeschlagenen Vollstreckungsmaßnahme in einem anderen Mitgliedstaat Zugang
dazu haben soll, entschiede letztlich über die Anwendungsbreite eines solchen neuen
Instruments.
Grenzen für die nähere Ausgestaltung ergeben sich jedoch aus kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten. Je detaillierter eine Regelung im Bereich der justiziellen
Zusammenarbeit in Zivilsachen ausfällt, desto größere Anforderungen werden vor
839 Siehe oben S. 147.
840 Siehe oben S. 196.
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dem Hintergrund des Subsidiaritätsgrundsatzes an die kompetenzbegründenden
Voraussetzungen gestellt.841 Ob die Europäisierung der Sachaufklärung in der
Zwangsvollstreckung eine Maßnahme ist, die gemäß Art. 65 EG für das „reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich“ ist, muss hinterfragt werden.
Eine solche Notwendigkeit ergibt sich wohl jedenfalls nicht daraus, dass das Rechtsschutzniveau für die Vollstreckungsgläubiger in den einzelnen Mitgliedstaaten völlig auseinanderfiele. Zumindest für die drei untersuchten Rechtsordnungen lässt sich
dies verneinen. Deren Vergleich hat ergeben, dass die Regelungsmechanismen zwar
unterschiedlich sind, jeweils aber so ineinandergreifen, dass der Gläubiger als bestimmende Figur der Zwangsvollstreckung auf verschiedene Maßnahmen der Sachaufklärung zurückgreifen kann.842 Das eigentliche Argument dafür, dass eine Europäisierung der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung erforderlich ist, liegt
jenseits der rechtsvergleichenden Perspektive in der Notwendigkeit grenzüberschreitender Informationsflüsse. Nur so wäre es einem Gläubiger nämlich auch praktisch
möglich, die in einem Mitgliedstaat erlangten Titel in einem anderen Mitgliedstaat
nach dortigem Recht vollstrecken zu lassen. Dass ein Bedürfnis besteht, auch Vermögensdaten erheben zu können, die Bezug zum Ausland aufweisen, zeigt sich
dabei vor allem in der zunehmend internationalen Ausrichtung verschiedener Auskunfteien.843
Letztendlich wird aber ohnehin ausschlaggebend sein, ob der rechtstechnisch
gangbare Weg, ein europäisches Sachaufklärungsinstrument einzuführen, überhaupt
den rechtspolitischen Vorstellungen der Mitgliedstaaten entspricht und wie sich
deren Haltung auf einen eventuellen europäischen Rechtsetzungsprozess auswirkt.
841 Vgl. Callies/Ruffert/Rossi, Art. 65 EG Rn. 8.
842 Siehe oben S. 150.
843 Siehe oben S. 129.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ein vollstreckbarer Titel in der Tasche und doch kein Erfolg – oft scheitert die Vollstreckung daran, dass der Schuldner Vermögen ins Ausland verschoben oder sonst verschleiert hat. Aus rechtsvergleichender Sicht zeigt die Autorin, wie die Suche nach Vollstreckungsgütern, die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung, gestaltet werden kann. Wie weit reichen staatliche Pflichten und wie weit die Eigenverantwortung der Gläubiger, sich präventiv abzusichern? Gerade über die Grenzen zu anderen europäischen Staaten hinweg ergeben sich Schwierigkeiten.
Das Werk zeigt auf, welche Wege im Zusammenspiel des internationalen, europäischen und nationalen Rechts in Deutschland, Frankreich und England beschritten werden können.