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III. Rolle des Europäischen Haftbefehls
Eine weitere interessante Frage ist, wie sich der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl771 auswirkt, wenn in einem Mitgliedstaat ein Haftbefehl ergangen
ist, der mit der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung in Zusammenhang steht
– sei es in Deutschland zur Erzwingung der Vermögensoffenbarung nach § 901 ZPO
und bei Verdunklungsgefahr als persönlicher Arrest nach §§ 918, 933 ZPO oder in
England, wo die Inhaftierung des Schuldners im Rahmen eines contempt of court-
Verfahrens angeordnet werden kann.772 In manchen Fällen wird ein Schuldner versuchen, sich der Vollziehung des Haftbefehls zu entziehen, indem er sich ins Ausland absetzt. Sind andere Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses
über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, ihn festzunehmen und den deutschen
beziehungsweise englischen Behörden zu übergeben? Die Frage entscheidet sich
danach, welche Arten von Haftbefehlen in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fallen. Aus Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses773 wird deutlich, dass nur
Freiheitsstrafen und Maßregeln der Sicherung erfasst werden, nicht aber die Beugeoder Sicherungshaft im Dienste der Zwangsvollstreckung. Damit spielt der Europäische Haftbefehl keine Rolle für die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung.
B. Grenzüberschreitende Zwangsvollstreckungsverfahren
Neben den Zwangsvollstreckungsverfahren mit Auslandsbezug, die einheitlich in
einem Vollstreckungsstaat betrieben werden, gibt es auch Konstellationen der
grenzüberschreitenden Zwangsvollstreckung, bei denen die Verfahrensschritte zur
Befriedigung des Vollstreckungsgläubigers über verschiedene Staaten verteilt sind.
Eine solche Situation ergibt sich in aller Regel nur, wenn in eine Forderung vollstreckt werden soll.
771 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die
Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI).
772 Siehe oben S. 80, 88 (England), S. 75, 95 (Deutschland).
773 Artikel 2 – Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls
(1) Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht
sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der
Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.
(2) […].
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I. Die grenzüberschreitende Vollstreckung in Forderungen
Bei der Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen bestimmt sich die internationale Zuständigkeit nach der Belegenheit des Vollstreckungsobjekts.774 Vor allem bei
Immobilien und körperlichen Mobilien lässt sich auf diese Weise klar bestimmen,
welcher Staat für die entsprechenden hoheitlichen Vollstreckungsmaßnahmen international zuständig ist. Innerhalb der Europäischen Union kann in diesen Fällen im
bereits beschriebenen Zweierschritt775 vorgegangen werden: Erkenntnisverfahren im
(zukünftigen) Urteilsstaat und Vollstreckungsverfahren im Staat der Belegenheit
nach dessen Vollstreckungsrecht. Soll jedoch in eine Forderung vollstreckt werden,
so ist das Bild häufig nicht eindeutig. Schuldner und Drittschuldner können ihren
Sitz in unterschiedlichen Staaten haben. Die Anwendung des Territorialitätsprinzips
führt zu keinem klaren Ergebnis, es gibt keine international anerkannten Regeln über
die fiktive Belegenheit von Forderungen.776
Bei der Vollstreckung in Forderungen mit Auslandsbezug ergeben sich zwei Verfahrensmöglichkeiten. Der Gläubiger einer Geldforderung kann seinen Vollstreckungstitel im Drittschuldnerstaat für vollstreckbar erklären lassen und dort direkt
im Anschluss ein Vollstreckungsverfahren durchführen. Denkbar ist aber auch, im
Urteilsstaat in die Forderung zu vollstrecken und den Pfändungsbeschluss in den
Drittschuldnerstaat zustellen und dort anerkennen zu lassen,777 um später mit der
entsprechenden Aktivlegitimation gegen den Drittschuldner vorgehen zu können.
Erkennt der Drittschuldnerstaat den Pfändungsbeschluss an, kann auch vermieden
werden, dass der Vollstreckungsschuldner – oder im Falle der Doppelpfändung auch
Dritte – den Drittschuldner in Anspruch nehmen können.778 Allein in diesem Fall
handelt es sich um eine grenzüberschreitende Forderungspfändung im engeren Sinne. Wird das Vollstreckungsverfahren nämlich einheitlich im Drittschuldnerstaat
nach dessen Recht durchgeführt, so ist nicht zu befürchten, dass durch eine Vollstreckungsmaßnahme in einen fremden Souveränitätsbereich übergegriffen wird. Bei
der grenzüberschreitenden Vollstreckung im engeren Sinne hingegen ergeben sich
schwierige Probleme bei der Zustellung eines Pfändungsbeschlusses779 sowie seiner
Anerkennung durch einen anderen Staat.780
774 Siehe oben S. 192.
775 Siehe oben S. 195.
776 Vgl. Mössle, S. 39; Schack, Rn. 982.
777 Zu beiden Möglichkeiten Stürner in FS für Henckel 1995, S. 863-867.
778 Dazu genauer Schack, Rn. 984 f.
779 Vgl. Mössle, S. 61 ff.
780 Vgl. Mössle, S. 238 ff.
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II. Sachaufklärung im Rahmen einer grenzüberschreitenden Vollstreckung
Werden Pfändungsbeschlüsse in einem anderen als dem Vollstreckungsstaat anerkannt und dem Drittschuldner zugestellt, so folgt dem die Verwertung der Forderung
nach, die auch eine Sachaufklärung beinhalten kann. Das deutsche, französische und
englische Recht kennen gleichermaßen die Erklärungspflicht eines Drittschuldners
über die gepfändete Forderung, die so genannte Drittschuldnererklärung.781
Für andere, inhaltlich weitergehende Sachaufklärungsmittel besteht jedoch
anlässlich einer Forderungspfändung keine Gelegenheit. Im englischen Recht steht
die allgemeine Sachaufklärung, die so genannte oral examination, am Beginn des
Zwangsvollstreckungsverfahrens, losgelöst von einzelnen Vollstreckungsmaßnahmen. Im deutschen Recht ist sie in Form des Offenbarungsverfahrens zwar in das
Zwangsvollstreckungsverfahren eingebettet, nicht jedoch mit der Vollstreckung in
eine Forderung verbunden. Auch in Frankreich findet die originäre Erhebung von
Daten, die recherche des informations, die durch die Staatsanwaltschaft vorgenommen wird, außerhalb der Vollstreckung in Forderungen statt.782
Daraus folgt, dass nach den untersuchten Rechtsordnungen eine umfassende
Sachaufklärung über die Drittschuldnererklärung hinaus durchgeführt werden kann,
wenn dort ein Vollstreckungsverfahren anhängig ist. Es kann nicht auf allgemeine
Sachaufklärungsmittel zurückgegriffen werden, indem Maßnahmen zur Vollstreckung in Forderungen isoliert in Anspruch genommen werden.
Von einem möglichen Aufklärungseffekt durch eine Verdachtspfändung abgesehen,783 ergeben sich damit bei der grenzüberschreitenden Vollstreckung in Forderungen keine besonderen Methoden, um Informationen über das Schuldnervermögen
zu erhalten.
Der Gläubiger kann sich den Auslandsbezug seines Vollstreckungsfalls nur für
die Sachaufklärung zu Nutze machen, indem er die Vollstreckung in eine Forderung
von vornherein einheitlich dort betreibt, wo die allgemeine Sachaufklärung in der
Zwangsvollstreckung den größten Erfolg verspricht. Die möglichen Vollstreckungsstaaten ergeben sich dabei aus den Anknüpfungspunkten des Falls für eine internationale Zuständigkeit zur Vollstreckung in die Forderung. Die Reichweite ihrer Zuständigkeit wird durch die Staaten selbst bestimmt. In eine vergleichende Prognose
über die jeweilige Sachaufklärung sollte dabei nicht nur einbezogen werden, wie
durchschlagend die jeweiligen Instrumente bei der Suche nach Vollstreckungsobjekten im Inland sind, sondern auch, wie sich die Sachaufklärung vom Inland aus auf
781 Siehe oben S. 126.
782 Vgl. oben S. 139 ff.
783 Der Aufklärungseffekt bei Verdachtspfändungen ist lediglich sekundär. Voraussetzung ist,
dass bereits vor der Forderungspfändung eine Vermutung über eine Forderung des Vollstreckungsschuldners besteht, die dann durch die Drittschuldnererklärung bestätigt oder verworfen werden kann. Denkbar ist es in einigen Fällen auch, über die Drittschuldnererklärung zusätzliche Hinweise auf weitere Vermögensgegenstände zu erhalten. Zur Verdachtspfändung
nach deutschem Zwangsvollstreckungsrecht siehe oben S. 123.
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Vermögensgegenstände im Ausland erstrecken kann.784 Je nach dem, wie weit die
einzelnen Staaten ihre internationale Zuständigkeit für die Zwangsvollstreckung
ziehen, könnte für einen Gläubiger, der für seinen Fall mit Auslandsbezug ein starkes Sachaufklärungsbedürfnis sieht, eine so genannte Forum-shopping-Tour lohnend
sein, wenn konkurrierende internationale Zuständigkeiten bestehen.
C. Zusammenfassung
Für die Fälle, in denen sich die Zwangsvollstreckung nach der Vorstellung des
Gläubigers auch auf Vermögensgegenstände im Ausland erstrecken soll, eröffnen
zwei der drei hier untersuchten europäischen Rechtsordnungen nur vereinzelte bis
gar keine Wege, um Vermögensobjekte außerhalb des Vollstreckungsstaats ausfindig zu machen.
Während das französische Recht gar keinen Raum bietet, Bezüge zum Ausland
herzustellen, ergeben sich nach deutschem Recht immerhin einige Anknüpfungspunkte. Ausgehend von einem Zwangsvollstreckungsverfahren in Deutschland kann
der Schuldner im Rahmen des Offenbarungsverfahrens zumindest nach der herrschenden Meinung auch zu seinem ausländischen Vermögen befragt werden. Au-
ßerdem ist es unter bestimmten Umständen möglich, eine juristische Person als
Schuldnerin auch dann in das Offenbarungsverfahren einzubeziehen, wenn diese
ihren Sitz im Ausland hat. Auch ohne ein Zwangsvollstreckungsverfahren in
Deutschland zu betreiben, kann ein Gläubiger nach der hier vertretenen Meinung
ausgehend vom Ausland ein Instrument zur Sachaufklärung in Anspruch nehmen: Er
sollte Einsicht in bereits angelegte Vermögensverzeichnisse seines Schuldners nehmen können, wenn er einen vollstreckbaren Titel vorweist.
Das englische Recht ermöglicht hingegen ausländischen Vollstreckungsgläubigern eine Sachaufklärung mit Auslandsbezug auch in größerem Umfang. Unter
bestimmten Voraussetzungen kann aus dem Ausland eine worldwide freezing order,
flankiert durch eine ancillary disclosure order, erwirkt werden. Damit steht der
Zugang zu einem probaten Sachaufklärungsmittel offen. Allerdings hängt die praktische Wirksamkeit einer solchen grenzüberschreitenden Offenbarungsanordnung
stets von der jeweiligen Vollstreckbarkeit der order am Zielort ab. Zudem ist in der
Praxis ein hohes Maß an internationaler Rechtskenntnis erforderlich, um sich die
Instrumente des englischen Rechts mit all ihren Vor- und Nachteilen zu Nutze machen zu können. Ein dritter Punkt, der den Zugriff auf das Instrument der ancillary
disclosure order in der Praxis erschweren kann, sind die hohen Verfahrenskosten in
England.785 Zusammen mit den Kosten für einen entsprechend bewanderten Rechtsbeistand ist also eine erhebliche finanzielle Hürde zu überwinden. Auch das damit
verbundene Risiko werden Gläubiger in alltäglichen Fällen regelmäßig scheuen.
784 Siehe oben S. 204 ff.
785 Siehe oben S. 83.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Ein vollstreckbarer Titel in der Tasche und doch kein Erfolg – oft scheitert die Vollstreckung daran, dass der Schuldner Vermögen ins Ausland verschoben oder sonst verschleiert hat. Aus rechtsvergleichender Sicht zeigt die Autorin, wie die Suche nach Vollstreckungsgütern, die Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung, gestaltet werden kann. Wie weit reichen staatliche Pflichten und wie weit die Eigenverantwortung der Gläubiger, sich präventiv abzusichern? Gerade über die Grenzen zu anderen europäischen Staaten hinweg ergeben sich Schwierigkeiten.
Das Werk zeigt auf, welche Wege im Zusammenspiel des internationalen, europäischen und nationalen Rechts in Deutschland, Frankreich und England beschritten werden können.