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dernisses beiderseitiger Strafbarkeit einhergeht. Der Europäische Haftbefehl nährt
damit Zweifel, dass für den Anerkennungsgedanken ein rechtsstaatlich unbedenklicher, eigenständiger Anwendungsbereich oberhalb der Schwelle solcher Harmonisierungsmaßnahmen verbleibt, die erforderlich sind, um rechtsstaatswidrige Verwerfungen auszuschließen.
III. Rechtsstaatswidrige Verwerfungen und eine neue Dimension individueller
Lastentragung
Bei unverändert weitem Strafanwendungsrecht öffnet der Europäische Haftbefehl
mit der grundsätzlichen Pflicht zur Auslieferung eigener Staatsangehöriger und der
Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit zwei zentrale „Stellschrauben“ der europäischen Strafrechtszusammenarbeit in außerordentlich weitem
Umfang. In dem weitgehend „ungehinderten transnationalen Verkehr der Strafverfolgten“ des Europäischen Haftbefehls findet die von Grenzkontrollen befreite Freizügigkeit innerhalb des Schengenraums ihr repressives Gegenstück. Die gleichzeitige Offenheit der genannten Stellschrauben Strafanwendungsrecht, Auslieferung eigener Staatsangehöriger, Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit zieht in Einzelfällen
Verwerfungen nach sich, die aus deutscher Perspektive den Stempel der Grundgesetzwidrigkeit rechtfertigen. Aber auch wo sich ein solches Urteil nicht fällen lässt,
darf eines nicht übersehen werden: Der Europäische Haftbefehl vervielfacht die
Möglichkeiten, den Verfolgten dem ihm vertrauten Milieu zu entziehen, und macht
damit das innereuropäische Auslieferungsrecht in erheblichem Maße belastungsintensiver. Wie dramatisch diese Veränderung ist, verdeutlich am ehesten ein Vergleich mit solchen Auslieferungssystemen, die bis zum Europäischen Haftbefehl als
Muster eines durchlässigen Auslieferungsregimes galten: das backing of warrants
zwischen England und Irland und das Auslieferungssystem der Nordischen Staaten.1256 Beide diese Auslieferungssysteme übertrifft das Regime des Europäischen
Haftbefehls in puncto Durchlässigkeit deutlich. So sieht etwa das schwedische Auslieferungsrecht für die Auslieferung an einen anderen nordischen Staat zwar grundsätzlich vom Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit ab, doch besteht das Erfordernis
fort, sofern es um die Auslieferung schwedischer Staatsangehöriger geht. 1257 Anders
als im Europäischen Haftbefehl werden somit nicht kumulativ das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit und das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger
aufgehoben. Ähnliches gilt für das Backing of Warrants, das trotz des ohnehin engeren angelsächsischen Strafanwendungsrechts das Erfordernis beiderseitiger Straf-
1256 Oben Kapitel 1 B II 2 b.
1257 Übersicht zum schwedischen Recht online abrufbar unter www.sweden.gov.se/sb/d/2710/
a/15435;jsessionid=auwBkWjNhw87 (5.9.2008) unter Hinweis auf das Gesetz (1959:254)
über Auslieferungen nach Dänemark, Finnland, Island und Norwegen, zu dem jedoch keine
deutsche oder englische Übersetzung vorliegt.
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barkeit beibehält.1258 Vor allem aber beschränken sich diese gegenüber dem herkömmlichen multilateral europäischen Auslieferungsrecht durchlässigeren Subsysteme auf rechtlich und vor allem sprachlich-kulturell nahe stehende Staaten. Für das
Verhältnis zwischen Irland und Großbritannien ist das offenbar, die nordischen Staaten kennzeichnet zumindest eine kulturelle Homogenität, die deutlich über diejenige
einer Litauen und Portugal, England und Rumänien bzw. Bulgarien umfassenden
EU hinausgeht.
Diese Überlegungen zu einer neuen Dimension individueller Lastentragung im
Rahmen der transnationalen-europäischen Strafverfolgung verdeutlichen, dass die
Unionsbürger mit dem Europäischen Haftbefehl einen hohen Preis für die Freiheitsgewinne in einem gemeinsamen, binnengrenzenfreien Raum zahlen.
B) Überlegungen de lege ferenda
Der Preis, den die Bürger Europas mit dem Europäischen Haftbefehl für den Freiheitszuwachs zahlen, der mit einer binnengrenzenfreien Union einhergeht, ist deswegen unverhältnismäßig hoch, weil der Europäische Haftbefehl einen Großteil der
Gewinne zu Gunsten einer effektiven Kriminalitätsbekämpfung auch dann erzielt
hätte, wenn die materiell-rechtlichen Auslieferungsgrenzen nicht in dem Umfang
abgebaut worden wären. Denn den deutlichsten Praktikabilitätszuwachs erzielt der
Haftbefehl auf verfahrensrechtlichem Terrain: bei der Verwendung eines einheitlichen Formulars, dem strengen Fristenregime und vor allem der Beseitigung des Bewilligungsverfahrens.
Vorschläge für eine alternative Gestaltung des europäischen Strafrechts im Allgemeinen und des Europäischen Haftbefehls im Besonderen gibt es von erheblicher
Reichweite und Ambition.1259 Die vorliegende Untersuchung vermag demgegenüber
eine Aussage zu möglichen Justierungen de lege ferenda nur nach Maßgabe dieser
Untersuchung zu geben, also aus deutscher Perspektive, bezogen auf den Rahmenbeschluss, begrenzt auf Grundrechtsgeltung, Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit
und Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger. Daraus ergibt sich Folgendes:
Zunächst sollten entgegenstehende Grundrechte des Vollstreckungsmitgliedstaates explizit als Vollstreckungsverweigerungsgrund vorgesehen werden:
"Die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates verweigern die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn dem Verfolgten aufgrund der Übergabe eine Verletzung in den
Grundrechten des Vollstreckungsmitgliedstaates droht."
Während hinsichtlich der Auslieferung eigener Staatsangehöriger auf Ebene des
Rahmenbeschluss unter Zugrundelegung des hiesigen Untersuchungsergebnisses –
1258 Zum Verfahren in England im Fall eines irischen Haftbefehls s. Sections 1, 2 and 5 Backing
of Warrants (Republic of Ireland) Act 1965, Stone's Justices' Manual, 8-9920; gute Übersicht
auf den Seiten des Crown Prosecution Services, online abrufbar unter www.cps.gov.uk
/legal/section2/chapter_d.html (5.9.2008).
1259 Schünemann (Hrsg.), Gesamtkonzept; ders. (Hrsg.), Alternativentwurf.
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References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.