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Im Unterschied zu dem Erfordernis der Strafbarkeit im ersuchenden Staat erweist
sich die Frage nach der Funktion des Strafbarkeitserfordernisses im ersuchten Staat
als der eigentliche Kern des Problems.662 Nur diese „Hälfte“ des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit steht daher im Mittelpunkt, auch wenn – um an dem eingeführten Begriff festzuhalten – weiterhin allgemeiner von einem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit die Rede bleibt.
Traditionell kam dem Erfordernis in erster Linie eine (außen-)politische Bedeutung zu (II.), während es eine individualschützende Dimension erst später erhielt (I-
II.).663
II. Historische Perspektive: Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Mittel
zu dessen Interessenwahrung im internationalen Verkehr
Traditionell ist das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit Ausfluss von Gegenseitigkeits- (1.) und Souveränitätsprinzip (2.).
1. Absicherung des Prinzips der Gegenseitigkeit
In der Absicherung des Gegenseitigkeitserfordernisses wurde seit jeher die Funktion
des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit gesehen.664
Eine Existenzberechtigung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit kann
daraus aber nur abgeleitet werden, wenn das Gegenseitigkeitserfordernis seinerseits
geboten und die beiderseitige Strafbarkeit zu seiner Beachtung erforderlich erscheint. Beides ist jedoch nicht der Fall.665 Schon das Prinzip der Gegenseitigkeit ist
nicht zwingend: Um eine zwingende Regel des Völkerrechts handelt es sich nicht;666
Das Souveränitätsprinzip dürfte ein Festhalten am Gegenseitigkeitsgrundsatz ebenso
gestatten wie ein Absehen davon, etwa um sich Vorteile außerhalb des Ausliefe-
662 So beklagt etwa Schünemann, in: Joerden/Szwarc, S. 265, 272, dass in der Begründung des
deutschen Gesetzgebers zum zweiten Europäischen Haftbefehlsgesetz völlig unklar bleibe,
„welches materielle Schutzinteresse (…) mit dem Erfordernis der „beiderseitigen Strafbarkeit“ gesichert werden soll.
663 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, IRG, § 3 Rdn. 2.
664 Böse und Weigend, in: Schorkopf, S. 233, 276; Eser, JZ 1993, 875, 879; Grützner, ZStW 81
(1969), 119, 124; Mörsberger, S. 13: Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als ‚Zwillingsbruder’ des Gegenseitigkeitsprinzips; Oehler, ZStW 81 (1969), 142, 144; van den Wyngaert,
in: Jareborg, S. 43, 52; Vogler, ZStW 81 (1969), 163, 169 f.; Williams, in: Eser/Lagodny, S.
535, 551; auf das traditionelle Herkommen vom Gegenseitigkeitsprinzip weisen auch Arzt,
FG-Schweizerischer Juristentag, S. 417, 429, und Del Tufo, in: Pansini, S. 111, 114 hin. Kritisch zur Ableitung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit aus der Gegenseitigkeit
Swart, in: Eser/Lagodny, S. 505, 521: „politcal argument“.
665 Scholten, S. 32; im Ergebnis auch Schädel, S. 152 f.
666 BGHSt 24, 297, 303; 30, 55, 63: „politische Handlungsmaxime“; von Bubnoff, S. 44; Scholten, S. 31.
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rungsverkehrs zu sichern;667 Gegenüber dem Anliegen mittelbarer Strafverfolgung
kommt ihm eine eigenständige Bedeutung nicht zu;668 Im vertraglichen Auslieferungsverkehr balancieren die Vertragsbestimmungen Rechte und Pflichten der Parteien aus.669 Abgesehen von der Entbehrlichkeit des Gegenseitigkeitsgrundsatzes im
Auslieferungsrecht würden die beteiligten Staaten dem Gegenseitigkeitsgedanken
auch dann Rechnung tragen, wenn sie beiderseitig auf das Erfordernis beiderseitiger
Strafbarkeit verzichteten.670
2. Beiderseitige Strafbarkeit und Souveränitätsprinzip
Ebenfalls nicht zu überzeugen vermögen Versuche, einen direkten Bezug zwischen
Souveränitätsprinzip und Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit herzustellen –671 etwa weil der ersuchte Staat andernfalls illegitimer Weise nach Weisung eines fremden Staates handele,672 eine Prestigeverletzung erleide,673 oder er nicht mehr seine
kriminalpolitischen Ansichten von Recht und Unrecht zur Geltung bringen könne,
so dass der rücksichtslosere Staat vom Zufluchtsstaat jede beliebige Auslieferung
verlangen könnte.674 Das Souveränitätsprinzip dürfte für derartige Vorgaben schon
nicht eindeutig genug konturiert sein. Analog zu den das Gegenseitigkeitsprinzip
betreffenden Überlegungen steht es auch nicht zu dem Souveränitätsprinzip im Widerspruch, im Auslieferungsverkehr kraft einer vertraglich vor die Klammer gezogenen souveränen Entscheidung auf die eigene strafrechtliche Wertung zu verzichten.
3. Praktischer Nutzen des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit im
auswärtigen Verkehr
Nicht abzusprechen sein dürfte dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit im Sinne
des Art. 2 EuAlÜbk, § 3 IRG jedoch ein gewisser praktischer Nutzen im auswärtigen Verkehr. So bietet die beiderseitige Strafbarkeit eine praktikable Kompromissformel, um auslieferungsrechtliche Pflichten ausgeglichen zu bestimmen, ferner um
zu gewährleisten, dass sich Rechtsanschauungen des ersuchenden und des ersuchten
667 Zu der Vielzahl möglicher Motive für die Gewährung von Rechtshilfe im Allgemeinen Popp,
S. 10 f.
668 Zum Auslieferungszweck mittelbarer Strafverfolgung oben Kapitel 2 A IV 3 a.
669 Von Bubnoff, S. 44.
670 Arzt, FG-Schweizerischer Juristentag, S. 417, 430; Rohlff, S. 83; Vogel, JZ 2001, 937, 942.
671 Mörsberger, S. 5; van den Wyngaert, in: Jareborg, S. 493; ähnlich auch Barazetta, in: Pedrazzi, S. 91, 93; Keijzer, in: Blekxtoon/van Ballegooij, S. 142; Tigar, RIDP (62) 1991, 163, 174.
672 Mörsberger, S. 4 m.w. Nachweisen auf vor allem älteres Schrifttum.
673 D’Angelo, in: Kalb, S. 59, 88.
674 Benz, S. 19 f.; ähnlich von Bubnoff, S. 27; Grützner ZStW 68 (1956), 501, 512; Schädel, S.
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Staates decken und so (außen-)politische Konflikte vermieden werden.675 Zu Beginn
des modernen Auslieferungsverkehrs wurde der Kreis der auslieferungsfähigen Delikte enumerativ festgeschrieben.676 Dieses Vorgehen hatte vor allem zwei Nachteile. Zum einen war der so bestimmte Kanon starr677 und stand somit im Widerspruch
zum Anliegen effektiver Rechtshilfe. Zum anderen verstanden die Vertragsparteien
die vertraglich festgelegten Begrifflichkeiten zum Teil unterschiedlich,678 was zu
weiteren Behinderungen des Auslieferungsverkehrs und politischen Verstimmungen
führen konnte. Beiden Einwänden entging ein Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit
nach Maßgabe der Rechtsanwendung von ersuchendem und ersuchtem Staat. Angesichts der Praktikabilität einer solchen Lösung kann die weite Verbreitung eines so
praktizierten Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit nicht überraschen.
III. Neuere Diskussion: Der rechtsstaatliche Gehalt des Erfordernisses beiderseitiger
Strafbarkeit
Das Bundesverfassungsgericht ließ in seiner Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl die Frage eines grundrechtsschützenden Gehaltes des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit offen:679
„Der Teilverzicht auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit (§ 81 Nr. 4 IRG) ist ebenfalls eine zentrale Grundentscheidung des Gesetzgebers, die allerdings durch den Rahmenbeschluss vorgegeben ist. Es kann offen bleiben, ob es mit dem gebotenen grundrechtlichen
Schutzniveau vereinbar ist, nicht die Entscheidung eines Mitgliedstaates für die Straffreiheit
einer Handlung, sondern umgekehrt die Entscheidung für die Strafbarkeit zur maßgeblichen
Grundlage des Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung zu machen. Denn darauf kommt
es jedenfalls für Fälle mit Inlandsbezug nicht an, weil der Gesetzgeber den Rahmenbeschluss
entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben umsetzen kann.“
Entgegen Träskman – „a review of the literature in this issue has little to offer
us” –680 lassen sich im Kreise derer, die zu einer über die Absicherung von Gegenseitigkeits- und Souveränitätserfordernis hinausgehenden rechtsstaatlichen Funktion
des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit Stellung beziehen, drei Gruppen unterscheiden: diejenigen, die das Erfordernis aus rechtsstaatlichen Gründen in seiner gegenwärtigen Form für unverzichtbar halten (1.); Befürworter einer nach unterschiedlichen Gesichtspunkten differenzierenden Handhabung des Erfordernisses (2.); diejenigen, die das Erfordernis für überflüssig halten (3.).
675 Scholten, S. 33, der die beiderseitige Strafbarkeit letztlich für ein zwar typisches, aber kein
denknotwendiges Merkmal des Auslieferungsrechts hält.
676 Martin, RIDP (62) 1991, 175 f.
677 Martin, RIDP (62) 1991, 175 f.
678 Benz, S. 5.
679 BVerfGE 113, 273, 317.
680 In: Jareborg, 145; so auch Asp/von Hirsch/Frände, ZIS 2006, 512.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.