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2. Praktische Relevanz des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als
Auslieferungsgrenze
In einem strafrechtlichen Kernbereich – insbesondere im Bereich der Delikte zum
Schutz des Lebens und der körperlichen Integrität – dürfte das Erfordernis regelmä-
ßig gewahrt und seine praktische Relevanz als Auslieferungsgrenze dementsprechend gering sein. Anders verhält es sich in Bereichen, die in hohem Maße von hoheitlichen (Geheimnisschutz, Steuerrecht), rechtskulturellen (Abtreibung, Sterbehilfe) oder rechtstechnischen Eigenheiten (Wirtschaftsstrafrecht) geprägt sind.656 Im
Gegensatz zur auslieferungshemmenden Wirkung bei rechtskulturellen Unterschieden gibt das Erfordernis dort Anlass zu Kritik, wo bei tendenziell gleicher kriminalpolitischer Ausrichtung allein rechtstechnische Unterschiede Auslieferungen entgegenstehen. Eher akademischer Art dürften demgegenüber solche Fälle sein, in denen
ein Auslieferungsersuchen deswegen scheitert, weil der ersuchte Staat auf Grund
spezifischer Gegebenheiten des ersuchenden Staates nicht dessen Strafnormen aufweist (keine Strafbarkeit wegen Wasserverschwendung in Deutschland, wie sie
möglicherweise in einem mediterranen Land existiert und dort plausibel ist).657
B) Funktion des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit
Aus rechtsstaatlicher Perspektive kann eine Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit nur beklagen,658 wer dem Erfordernis objektiv-teleologisch659 eine rechtsstaatlich-individualschützende Funktion beimisst.
I. Überblick: Strafbarkeit im ersuchenden und im ersuchten Staat
Selbstverständlich muss das der Auslieferung zu Grunde liegende Verhalten im ersuchenden Staat strafbar sein, wäre eine Auslieferung doch sonst sinnlos.660 Eine
Mindeststrafhöhe im ersuchenden Staat trägt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Rechnung (Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk): Sie erspart ersuchendem, ersuchtem Staat sowie
Verfolgtem die Mühen und Kosten eines Auslieferungsverfahrens wegen bloßer Bagatellen.661
656 Zu letzter Kategorie verweist Schädel, S. 154, auf strafbewehrte Bekleidungsvorschriften auf
Grundlage der Scharia im Iran.
657 Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 3 Rdn. 3, verweist auf eine entsprechende Regelung in
Art. 4 des schweizerischen Auslieferungsgesetzes von 1892, die sich das IRG trotz eines entsprechenden Vorschlags nicht zu Eigen gemacht hat; kritisch Schädel, S. 147 ff.
658 Stellvertretend Schünemann, ZRP 2003, 185 ff., 472 ff.
659 Im Sinne von Larenz/Canaris, S. 333.
660 Statt aller Mörsberger, S. 3; Schultz, ZStW 81 (1969), 199, 213.
661 Mörsberger, S. 23; Weber, S. 79.
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Im Unterschied zu dem Erfordernis der Strafbarkeit im ersuchenden Staat erweist
sich die Frage nach der Funktion des Strafbarkeitserfordernisses im ersuchten Staat
als der eigentliche Kern des Problems.662 Nur diese „Hälfte“ des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit steht daher im Mittelpunkt, auch wenn – um an dem eingeführten Begriff festzuhalten – weiterhin allgemeiner von einem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit die Rede bleibt.
Traditionell kam dem Erfordernis in erster Linie eine (außen-)politische Bedeutung zu (II.), während es eine individualschützende Dimension erst später erhielt (I-
II.).663
II. Historische Perspektive: Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als Mittel
zu dessen Interessenwahrung im internationalen Verkehr
Traditionell ist das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit Ausfluss von Gegenseitigkeits- (1.) und Souveränitätsprinzip (2.).
1. Absicherung des Prinzips der Gegenseitigkeit
In der Absicherung des Gegenseitigkeitserfordernisses wurde seit jeher die Funktion
des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit gesehen.664
Eine Existenzberechtigung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit kann
daraus aber nur abgeleitet werden, wenn das Gegenseitigkeitserfordernis seinerseits
geboten und die beiderseitige Strafbarkeit zu seiner Beachtung erforderlich erscheint. Beides ist jedoch nicht der Fall.665 Schon das Prinzip der Gegenseitigkeit ist
nicht zwingend: Um eine zwingende Regel des Völkerrechts handelt es sich nicht;666
Das Souveränitätsprinzip dürfte ein Festhalten am Gegenseitigkeitsgrundsatz ebenso
gestatten wie ein Absehen davon, etwa um sich Vorteile außerhalb des Ausliefe-
662 So beklagt etwa Schünemann, in: Joerden/Szwarc, S. 265, 272, dass in der Begründung des
deutschen Gesetzgebers zum zweiten Europäischen Haftbefehlsgesetz völlig unklar bleibe,
„welches materielle Schutzinteresse (…) mit dem Erfordernis der „beiderseitigen Strafbarkeit“ gesichert werden soll.
663 Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, IRG, § 3 Rdn. 2.
664 Böse und Weigend, in: Schorkopf, S. 233, 276; Eser, JZ 1993, 875, 879; Grützner, ZStW 81
(1969), 119, 124; Mörsberger, S. 13: Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit als ‚Zwillingsbruder’ des Gegenseitigkeitsprinzips; Oehler, ZStW 81 (1969), 142, 144; van den Wyngaert,
in: Jareborg, S. 43, 52; Vogler, ZStW 81 (1969), 163, 169 f.; Williams, in: Eser/Lagodny, S.
535, 551; auf das traditionelle Herkommen vom Gegenseitigkeitsprinzip weisen auch Arzt,
FG-Schweizerischer Juristentag, S. 417, 429, und Del Tufo, in: Pansini, S. 111, 114 hin. Kritisch zur Ableitung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit aus der Gegenseitigkeit
Swart, in: Eser/Lagodny, S. 505, 521: „politcal argument“.
665 Scholten, S. 32; im Ergebnis auch Schädel, S. 152 f.
666 BGHSt 24, 297, 303; 30, 55, 63: „politische Handlungsmaxime“; von Bubnoff, S. 44; Scholten, S. 31.
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References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.