144
IV. Praktische und rechtliche Relevanz des Erfordernisses beiderseitiger
Strafbarkeit
1. Vorkommen und Völkergewohnheitsrecht
Auch wenn das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit ursprünglich aus dem Auslieferungsrecht stammt, hat es inzwischen ebenso im Bereich der sonstigen Rechtshilfe
an Bedeutung gewonnen. So weisen zum Beispiel Art. 5 Abs. 1 lit. a des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens und Art. 51 lit. a SDÜ für Fälle der so genannten
kleinen Rechtshilfe –651 allerdings nur bezogen auf Beschlagnahme und Durchsuchung – entsprechende Regelungen auf.
Umfassend galt das Erfordernis für das auf Grund von Art. 5 Nr. 3 RbEuHb eng
mit dem Europäischen Haftbefehl verzahnte europäische Übereinkommen zur Vollstreckungsübernahme (grundlegend Art. 3 Abs. 1 lit. des Übereinkommens über die
Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983).652
Neben der Rechtshilfe kennt ferner das Strafanwendungsrecht ein Erfordernis
beiderseitiger Strafbarkeit. Nach § 7 Abs. 2 StGB ist in den Fällen der so genannten
stellvertretenden Strafrechtspflege deutsches Strafrecht auf im Ausland begangene
Straftaten nur anwendbar, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist, oder der
Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit ist
denknotwendige Voraussetzung dieses Strafanknüpfungsgesichtspunktes, soll es
doch dem Subsidiaritätsgedanken der stellvertretenden Strafrechtspflege Rechnung
tragen, wonach das Strafrecht des verurteilenden Staates nur hilfsweise an die Stelle
desjenigen des Tatortstaates tritt.653
Auf Grund seines umfassenden Vorkommens kommt dem Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit jedenfalls im Auslieferungsrecht die Qualität einfachen, nicht aber
zwingenden654 Völkergewohnheitsrechts zu.655 Der mit dieser Einordnung verbundene Erkenntniswert ist allerdings begrenzt, weil ein Staat eine Auslieferung ohnehin nur kraft eines Auslieferungsvertrags beanspruchen kann, ein solcher aber regelmäßig zugleich eine Regelung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit mit
sich bringt.
651 Schädel, S. 145.
652 Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.3.1983, ETS Nr. 112,
BGBl. 1991 II S. 1006; 1992 II S. 98; daran anknüpfend das Übereinkommen vom
13.11.1991 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen, BGBl. 1997 II S. 1351; Art. 67-69
SDÜ; kritisch Schomburg, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Hauptteil III C Rdn. 4:
„extremste[r] Fall unakzeptabler Parallelharmonisierung“.
653 Scholten, S. 43.
654 Swart, in: Eser/Lagodny, S. 505, 520.
655 Bassiouni, S. 313; Mörsberger, S. 57; van Ooijen, S. 6.
145
2. Praktische Relevanz des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit als
Auslieferungsgrenze
In einem strafrechtlichen Kernbereich – insbesondere im Bereich der Delikte zum
Schutz des Lebens und der körperlichen Integrität – dürfte das Erfordernis regelmä-
ßig gewahrt und seine praktische Relevanz als Auslieferungsgrenze dementsprechend gering sein. Anders verhält es sich in Bereichen, die in hohem Maße von hoheitlichen (Geheimnisschutz, Steuerrecht), rechtskulturellen (Abtreibung, Sterbehilfe) oder rechtstechnischen Eigenheiten (Wirtschaftsstrafrecht) geprägt sind.656 Im
Gegensatz zur auslieferungshemmenden Wirkung bei rechtskulturellen Unterschieden gibt das Erfordernis dort Anlass zu Kritik, wo bei tendenziell gleicher kriminalpolitischer Ausrichtung allein rechtstechnische Unterschiede Auslieferungen entgegenstehen. Eher akademischer Art dürften demgegenüber solche Fälle sein, in denen
ein Auslieferungsersuchen deswegen scheitert, weil der ersuchte Staat auf Grund
spezifischer Gegebenheiten des ersuchenden Staates nicht dessen Strafnormen aufweist (keine Strafbarkeit wegen Wasserverschwendung in Deutschland, wie sie
möglicherweise in einem mediterranen Land existiert und dort plausibel ist).657
B) Funktion des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit
Aus rechtsstaatlicher Perspektive kann eine Einschränkung des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit nur beklagen,658 wer dem Erfordernis objektiv-teleologisch659 eine rechtsstaatlich-individualschützende Funktion beimisst.
I. Überblick: Strafbarkeit im ersuchenden und im ersuchten Staat
Selbstverständlich muss das der Auslieferung zu Grunde liegende Verhalten im ersuchenden Staat strafbar sein, wäre eine Auslieferung doch sonst sinnlos.660 Eine
Mindeststrafhöhe im ersuchenden Staat trägt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Rechnung (Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk): Sie erspart ersuchendem, ersuchtem Staat sowie
Verfolgtem die Mühen und Kosten eines Auslieferungsverfahrens wegen bloßer Bagatellen.661
656 Zu letzter Kategorie verweist Schädel, S. 154, auf strafbewehrte Bekleidungsvorschriften auf
Grundlage der Scharia im Iran.
657 Vogler, in: Vogler/Wilkitzki, IRG, § 3 Rdn. 3, verweist auf eine entsprechende Regelung in
Art. 4 des schweizerischen Auslieferungsgesetzes von 1892, die sich das IRG trotz eines entsprechenden Vorschlags nicht zu Eigen gemacht hat; kritisch Schädel, S. 147 ff.
658 Stellvertretend Schünemann, ZRP 2003, 185 ff., 472 ff.
659 Im Sinne von Larenz/Canaris, S. 333.
660 Statt aller Mörsberger, S. 3; Schultz, ZStW 81 (1969), 199, 213.
661 Mörsberger, S. 23; Weber, S. 79.
Chapter Preview
References
Zusammenfassung
Trotz seiner Eingriffsintensität hat die Europäische Kommission den Europäischen Haftbefehl zum Symbol einer EU-Strafrechtszusammenarbeit erhoben, die auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht. Der Preis für den Anerkennungsgedanken ist der Abbau traditioneller Auslieferungsgrenzen wie des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit und der Nicht-Auslieferung eigener Staatsangehöriger. Stehen damit die Anforderungen des Europäischen Haftbefehls und der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes in Widerspruch zueinander? Um diese Frage zu beantworten, präzisiert der Autor die Reichweite der Einschränkungen traditioneller Auslieferungsgrenzen sowie deren grundrechtsschützenden Gehalt. So gelangt er zu einem differenzierten Befund: Das traditionelle Auslieferungsrecht mit seinen grundrechtsdogmatischen Ungereimtheiten war nicht so gut, der neue Anerkennungsmechanismus umgekehrt nicht so weit reichend, wie es in der Diskussion weithin den Anschein hat. Gleichwohl: Der unabgestimmte, kumulative Abbau von Auslieferungsgrenzen bestätigt letztlich die Sorge vor grundrechtswidrigen Verwerfungen in Folge des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung.